ZOOMING INTO BUSINESS

Noch vor zwei Jahren war Zoom ausschließlich bei großen Organisationen wie etwa Finanzunternehmen und Regierungsbehörden populär. Doch mit Ausbruch der Pandemie wurde das Tool plötzlich zum Rettungsanker für Millionen von Angestellten, Schülern und Familien – so auch für Aparna Bawa, Chief Operating Officer von Zoom, die das Unternehmen nun durch eine Welt des hybriden Arbeitens navigiert.

Es ist 8.30 Uhr an einem Donnerstagmorgen an der Westküste der Vereinigten Staaten von Amerika, Aparna Bawa ist bereits in ihrem zweiten Zoom-Call des Tages – mit uns. Sie trägt einen grauen Pullover und kein Make-up, ihr gewählter virtueller Hintergrund fällt sehr tropisch aus. Wir fragen sie, wie viele Zoom-Calls sie für heute geplant hat. „Ich werde einen Blick in meinen Kalender werfen. Okay, schauen wir mal“, sagt sie, während sie durch ihren Terminplan scrollt. „Zehn Meetings, aber die müssen nicht superlang sein.“

Verständlicherweise verbringt Bawa einen signifikanten Teil ihrer Zeit mit virtuellen Meetings. Sie ist die erste COO der Video­kon­fe­renz-Plattform Zoom – eine Rolle, die sie nur Monate vor dem Ausbruch von Covid-19 annahm. Kurze Zeit später explodierte der Bedarf an virtuellen Meeting-Plattformen, herbeigeführt durch die zunehmenden Ausgangssperren und Homeoffice-Maßnahmen. Bawa kann sich immer noch an den Moment erinnern, an dem die Krise sie persönlich das erste Mal getroffen hat: „Was mich auf jeden Fall verändert hat als Konsumentin, Person und Bürgerin, war, als meine Kinder von der Schule nach Hause geschickt wurden“, erzählt die zweifache Mutter.

Fast über Nacht wurde Zoom zur neuen Destination für Hochzeiten, Yogastunden und Kochkurse. Um das Ganze in Perspektive zu rücken: Die Videokonferenz-Plattform erreichte im Dezember 2019 ein Maximum von zehn Millionen täglichen Meetingteilnehmern –
bis April 2020 ist diese Zahl auf 300 Millionen angestiegen. Für Apple war Zoom die meist­gedownloadete App des Jahres, noch vor Tiktok, Instagram oder Snapchat. Das explosive Wachstum machte Zoom während der Krise zum Liebling des Aktienmarktes, mit Aktienpreisen, die 2020 um mehr als 400 % gestiegen sind.

„Ich habe begonnen, Grenzen zu setzen. Ich war immer schon eine Person, die zu jeder Uhrzeit arbeiten konnte.“

Als COO insistiert Bawa darauf, dass man für ihre Position gewisse Charakteristika be­nötigt: „Es ist vor allem die Fähigkeit, eine Situation schnell erfassen und Entscheidungen mit relativ unvollständigen Informationen treffen zu können“ – ein Skill, der vor allem gefragt war, als sich Zoom außergewöhnlich schnell an die beispiellose Nachfrage anpassen musste. „Menschen blieben teilweise die ganze Nacht wach und warteten auf die Hotfix, da neue Features am nächsten Tag veröffentlicht werden würden“, erinnert sich Bawa, die zu dieser Zeit viele lange Nächte einlegte. „Vereinfacht gesagt fügte Dev Ops in der Nacht immer Zehntausende von Servern hinzu. Ich wollte nicht, dass sich ein Kind in Europa nicht in seinen Unterricht einloggen kann, weil der Server ausgefallen ist. Diese Zeit war also sehr, sehr intensiv.“

Noch vor zwei Jahren war Zoom als Meeting-App noch kein Teil unserer Welt. Gegründet 2011 vom ehemaligen Cisco-Vor­sitzenden Eric Yuan war Zoom hauptsächlich unter großen Unternehmen (wegen seines „Free­mium“-­Businessmodells) populär. Die Strategie basiert darauf, Nutzer zuerst anzu­locken und dann davon zu überzeugen, sich ein bezahltes Abo zu holen, um von zusätzlichen Leistungen und Funktionen zu profitieren. Und es hat sich ausgezahlt: Zur Zeit seines Börsen­debüts im April 2019 hatte Zooms Marktkapitalisierung eine Summe von fast 16 Milliarden US-$ erreicht. Zu den Kunden zählten Großunternehmen wie Uber, Skyscanner und Samsung. Heute hat Zoom rund 505.000 Kunden weltweit (mit dieser Zahl sind Unternehmen mit mindestens zehn Angestellten gemeint).

Abgesehen von Zooms rasantem Aufstieg stand die Plattform bereits aufgrund mehrerer Sicherheitspannen unter Beobachtung. Dazu gehören Vorwürfe des sogenannten „Zoom­bombings“ – bei dem fremde Personen in Meetings platzen – und des Teilens von persön­lichen Daten mit Dritten wie Facebook oder Linkedin ohne Einverständnis. „Es war wirklich entmutigend, als die Anzahl der Meeting-Unterbrechungen zunahm“, sagt Bawa. „Doch wenn man die Meeting-Identifikationsnummer und das Passwort online stellt, rate mal, was passiert. Es gibt schlechte Menschen, die im Internet trollen und nur darauf warten, diese Informationen zu nutzen, um dein Meeting zu stören.“ Als Teil einer 90-tägigen Sicherheitsüberarbeitung stellte das Unternehmen neue Eigenschaften vor, etwa das Warten im Warteraum bei Eintritt in ein Meeting und das Entfernen der Meeting-ID in dessen Titel. Erst vor Kurzem hat sich Zoom damit einverstanden erklärt, 85 Millionen US-$ zu zahlen, um eine private Klage in den USA zu begleichen.

Unvermeidlicherweise kommt in unserem Gespräch auch das Thema der psychischen Gesundheit auf. Nachdem man monatelang seine Zeit fast ausschließlich vor dem Bildschirm verbracht hat, taucht vermehrt der Ausdruck der „Zoom-Müdigkeit“ auf. Was sagt Bawa dazu? „Ich höre dich, ich verstehe es“, sagt sie. „Zoom-­Müdigkeit ist real. Wir nehmen es nicht persönlich, wir nehmen es zur Kenntnis.“ Vor Kurzem implementierte etwa Citigroup „zoomfreie Freitage“, um dieser Müdigkeit entgegenzu­wirken. Der Ausdruck wurde sogar zum Thema einer Studie der American Psychological Association, in der 93 % der Teilnehmer Anzeichen einer virtuellen Ermüdung angaben. Der Direktor des Virtual Human Interaction Lab der Stanford University, Professor Jeremy Bailenson, vergleicht Zoom-Meetings mit einem „tagelangen Spiegel“ (obwohl er betont, häufiger Nutzer der Plattform zu sein). Währenddessen hat Bawa ihre eigene Taktik entwickelt, um mit der vielen Zeit vor dem Bildschirm umzugehen: Sie beantwortet ihre Anrufe während Spaziergängen und versucht, die meisten Familientreffen offline zu arrangieren. „Ich habe begonnen, Grenzen zu setzen. Ich war immer schon eine Person, die zu jeder Uhrzeit arbeiten konnte“, sagt sie.

Bawa ist als Tochter indischer Einwanderer in Michigan aufgewachsen. Sie hat Jura an der Harvard University studiert und wurde nach ihrem Abschluss vom guten Wetter Kaliforniens und den vielen Jobperspektiven angezogen. Sie begann ihre Karriere damit, als UnternehmensWertpapier-Anwältin zu arbeiten, wechselte dann als Investmentbankerin zu Lehman Brothers und Deutsche Bank und wurde schließlich Leiterin der Rechtsabteilung für schnell wachsende Tech-Firmen. Zu dem Zeitpunkt 2018, zu dem Bawa Chief Legal Officer von Zoom wurde, hatte sie bereits über ein Dutzend Börsengänge geleitet: „Ich habe realisiert, dass ich das ganze Universum darüber, wie man Tech-Firmen erfolgreich an die Börse bringt, gesehen habe.“

Nun, als COO, stellt sich Bawa einem neuen Repertoire an Herausforderungen. Im Juli erzielte Zoom die besten Ergebnisse der Unternehmensgeschichte: Im zweiten Quartal 2021 überschritt der Umsatz zum ersten Mal eine Milliarde US-$ – mit einer Anforderung, in diesem Geschäftsjahr mehr als vier Milliarden US-$ zu machen. Doch mit einer wachsenden Anzahl an Menschen, die zurück ins Büro fahren, und steigenden Impfraten stellt sich die Frage, mit welchem Plan das Unternehmen sein Wachstum in Zukunft erhalten wird. Als wir Bawa danach fragen, was das sich verändernde Umfeld für die Anzahl an Abonnenten bedeutet, ant­wortet sie schlichtweg mit: „Wir starten nicht mit Abonnenten. Wir starten mit der Frage, wie wir Menschen effizienter machen können.“

Es ist ein Zeichen dafür, dass Zoom ein größeres Stück des Collaboration-Software-­Kuchens haben möchte. Konkurrent Microsoft Teams hat bereits „Share to Stage“ für seine 250 Millionen monatlich aktiven Nutzer angekündigt, was allen Teilnehmern das Interagieren mit Inhalten in Echtzeit erlaubt. Ein anderer Gegner, Google Meet, bietet schon live übersetzte Untertitel in Beta an.

Um an der Spitze zu bleiben, hat Zoom im September angekündigt, neue Funktionen wie das virtuelle Brainstormen auf einem Zoom-Whiteboard zu veröffentlichen. Zudem plant die Plattform, eine Live-Übersetzungs­funktion bis Ende 2022 zu integrieren, nachdem es das deutsche Machine-Learning-Start-up Karlsruhe Information Technology Solutions (Kites) gekauft hat. Was jedoch Zooms größter Deal in seiner Unternehmensgeschichte gewesen wäre: die Übernahme des Callcenter-Software­unternehmens Five 9 für 14,7 Milliarden US-$ (der Deal ist mittlerweile geplatzt). In der Zwischenzeit wurden zwei Millionen Lizenzen für „Zoom Phone“ verkauft – ein Service, der Usern erlaubt, innerhalb eines Anrufs ohne Unterbrechung des Meetings zwischen Laptop und Mobiltelefon zu wechseln.

Zoom hat große Pläne. Doch sein fortlaufender Erfolg wird ohne Frage auf einem Wort basieren: hybrid. Bawa: „Idealerweise werden wir in Zukunft in einer hybriden Welt leben, in der wir von wundervollen Funk­tionen und Funktionsfähigkeiten profitieren, die beides, das Virtuelle und Physische, miteinander ver­einen. Das ist der Heilige Gral.“

Text: Olivia Chang
Foto: beigestellt

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 8–21 zum Thema „Women“.

Olivia Chang,
Redakteurin

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