«Wir lösen Probleme, die noch nie jemand gelöst hat»

Das Zürcher Start-up Rivr, ehemals Swiss-Mile, bringt Roboter wortwörtlich in Bewegung: Seine Plattform «Milo» kombiniert Beine und Räder, meistert Treppen, öffnet Türen und trägt bis zu 60 Kilo­gramm. Investoren haben bereits 22 Mio. US-$ bei­gesteuert, darunter auch Jeff Bezos. Unter CEO Marko Bjelonic will Rivr die autonome Robotik revolutionieren – und das «nächste Microsoft» bauen. Doch das braucht viel Geduld.

Als Marko Bjelonic die E-Mail bekam, dachte er zunächst, es handle sich um Spam. Ganz sicher war er sich nicht, daher begann er, ein wenig zu recherchieren – und tatsächlich, der Inhalt der Mail stimmte: Jeff Bezos, Gründer von Amazon und mit einem Vermögen von zuletzt rund 240 Mrd. US-$ der zweitreichste Mensch der Welt, wollte mit ihm sprechen. Wenige Tage später fand ein Zoom-Call statt und ein paar Wochen später wurde offiziell verkündet, dass Bezos mit seinem Investmentvehikel Bezos Expeditions in der Seed-Finanzierungsrunde von Rivr (das Unternehmen hiess damals noch Swiss-Mile), die 22 Mio. US-$ umfasste, Leadinvestor wurde. Rivr ist das erste Investment von Bezos in der Schweiz und eines der wenigen in Europa.

«Jeff Bezos war beeindruckt von dem, was wir hier aufgebaut haben. Er sagte: ‹Am Ende muss der Roboter einen Mehrwert für den ­Kunden bringen.› Das ist auch unser Ziel», so Bjelonic. Die Maschinen, an denen er gemeinsam mit dem Rivr-Gründerteam Giorgio Val­secchi, Lorenz Wellhausen, Alexander Reske sowie ihrem ­Doktorvater, dem ETH-Zürich-­Professor Marco Hutter, arbeitet, ähneln in ihrer äusser­lichen Erscheinung jener von Hunden – doch sie sind auf Rädern unterwegs und können auch Kurven fahren, Stiegen steigen und sich auf zwei Beine stellen. «Räder an den Beinen – so ­etwas gibt es in der Natur nicht», sagt Bjelonic. «Wir haben hier ‹out of the box› gedacht und uns ­gesagt: Für Delivery-Applikationen macht es ­keinen Sinn, nur laufen zu können.»

Grundsätzlich kommen mehrere Einsatzgebiete in Betracht. Zustellungen erscheinen ­logisch, doch auch ­Sicherheitsdienstleistungen, etwa die Überwachung von Gebäuden, sind eine Option. Auch Arbeiten auf Baustellen wären grundsätzlich denkbar – doch Rivr hat sich entschieden, sich auf ein konkretes Problem zu fokussieren: Last-Mile-Delivery, also den aller­letzten Teil von Zustellungen bis vor die Haustür. Im Jahr 2024 wurden weltweit 215 Milliarden Pakete verschickt; zehn Jahre zuvor ­waren es lediglich 43 Milliarden; und der Trend dürfte in Zeiten des Onlineshopping-Booms eher wachsen als verschwinden. Genau da setzen Bjelonic und Co an: «Wir fokussieren uns auf Paketzustellungen, wo der Roboter bis zur Tür gehen kann. Das ‹Last 100 Yards Problem› ist eines der grössten Hindernisse in der Logistik.»

Dass Bezos, dessen Unternehmen Amazon zu den grössten Onlineversandhändlern der Welt gehört, an Lösungen in diesem Bereich grosses Interesse hat, überrascht nicht; und auch Amazon selbst investierte in der Seed-Runde über den hauseigenen Amazon Industrial Innovation Fund in Rivr. Doch noch steht das Start-up, das 2023 gegründet wurde und dessen Bewertung in der Finanzierungsrunde auf über 100 Mio. US-$ beziffert wurde, ganz am Anfang.

Und eine Blaupause, wie der Weg nach vorne aussieht, hat Bjelonic nicht. «Wir müssen jeden Tag Probleme lösen, die noch nie jemand gelöst hat.» Wenn es gelingt, könnte in Zürich aber etwas Grosses entstehen: «Wir sehen gerade eine Explosion an Robotics-Start-ups. Ich denke, dass aus diesen Unternehmen eine Handvoll herauskommt, die das nächste Google oder Apple werden. Wenn es wirklich jemand schafft, diese Probleme zu lösen, dann werden diese Unternehmen jedenfalls nicht klein bleiben.»

Dass das nicht über Nacht passieren wird, ist allen Beteiligten klar. «Wir sind alle committed und incentiviert, hier die nächsten zehn Jahre zu arbeiten, zu werken und zu forschen», so Bjelonic.

Die Roboter, einer davon trägt den Namen «Milo», müssen eine Vielzahl an Herausforderungen meistern. Neben motorischen Fähig­keiten – also nach vorne und nach hinten fahren, Stiegen steigen, sich auf zwei Beine stellen oder Klingeln betätigen – können sie auch bereits bis zu 60 Kilogramm transportieren.

Doch wirklich schwierig ist die Orientierung in einer komplexen und sich verändernden Umgebung. Dazu gehört es etwa, Menschen auszuweichen, Ampeln bei Grün zu überqueren oder Gefahren zu erkennen. «Das unterscheidet sich deutlich vom autonomen Fahren. Die Fahrzeuge müssen von A nach B kommen, ohne mit etwas zu kollidieren; unsere Roboter müssen wirklich mit der Umwelt interagieren. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe.» Der Vorteil: Die Roboter funktionieren auf Basis von neuronalen Netzen, können also aus Erfahrungen in der Interaktion mit ihrer Umgebung lernen und so besser werden. Das Ganze nennt sich in der Fachsprache «Reinforcement Learning», wobei Maschinen nicht etwa über Daten aus der Vergangenheit lernen, sondern eben mithilfe von Trial and Error besser werden. «Mit jedem Roboter, den wir einsetzen, sammeln wir Daten, um die Effizienz weiter zu verbessern. Das grosse Ziel ist, Last-Mile-Delivery in grossem Massstab wirtschaftlich und nachhaltig zu machen.»

Ein Roboter ist bereits heute in einem Testgelände unterwegs, um Daten zu sammeln. 2025 werden zehn Roboter im Einsatz sein, 2026 sollen es bereits 100 werden. «Und dann haben wir hoffentlich irgendwann Hunderttausende Roboter im Einsatz.» Doch das Produkt ist die eine Sache; gleichzeitig müssen die Roboter aber, um wirklich in Anwendung zu kommen, auch regulatorische Anforderungen erfüllen – und die Akzeptanz der Bevölkerung gewinnen. Derzeit darf Rivr seine Roboter nur auf der Strasse einsetzen, wenn sie von einem Menschen begleitet werden. Die Regulatorik hinkt, wie so oft, der technologischen Entwicklung hinterher; es gibt für viele Anwendungsfälle noch keine Regelungen.

Was die Reaktionen der Bevölkerung betrifft, zeigt sich Bjelonic zuversichtlich: «90 % der Menschen machen ein Foto oder Video, vor allem Kinder reagieren sehr positiv auf die Roboter. Einige ignorieren sie völlig, und dann gibt es vielleicht einen kleinen Prozentsatz, der ein Problem hat. Doch auch dieser Teil ist für uns sehr wichtig.» Um seinen Teil zur Akzeptanz beizutragen, setzt Rivr auch auf Videos, die die Roboter erklären. Ein Video auf Youtube, bei dem der Roboter gegen Menschen in einem 100-Meter-Lauf antritt, hat fast 780.000 Aufrufe. «So etwas macht uns einfach viel Spass. Und gutes Marketing kann ja nie schaden», so Bjelonic.

Dass Rivr in Zürich zu Hause ist, könnte man fast als Zufall bezeichnen – doch der Ort erscheint dem Team als guter Platz für die eigene Vision. «Die Nähe zur ETH und die Qualität der Talente hier sind unschlagbar. Wir schätzen die Schweiz sehr, auch wenn wir für bestimmte Bereiche, wie die Massenproduktion, auf internationale Partnerschaften angewiesen sind», sagt Bjelonic. Die Innovationskraft der Region sei ein entscheidender Faktor; gleichzeitig erkennt er die Unterschiede zur Start-up-Kultur im Silicon Valley: «Die Risikobereitschaft und die Kapitalkraft in den USA sind deutlich höher. Aber auch hier sehen wir eine positive Entwicklung.»

Nicht unbedingt abzusehen war aber, dass Bjelonic mit Mitte 30 an einem Milliardenunternehmen bastelt. Seine Eltern stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien, flüchteten während des Kriegs aber nach Deutschland. Sein ­Vater ­arbeitete auf der Baustelle und gründete später ein Unternehmen. «Ich half meinem Vater am Anfang, ich war damals 14 Jahre alt. Er sprach nicht gut Deutsch und ich merkte, dass der erste Schritt, um ein Unternehmen zu gründen, gar nicht so schwer ist», erzählt Bjelonic.

Er entschloss sich schliesslich für ein technisches Studium. Dabei half ihm die Erfahrung, in der Schulzeit ebenfalls auf dem Bau gearbeitet zu haben: «Darauf hatte ich keinen Bock, also war klar, dass ich studieren werde.» Mathematik und Physik lagen ihm, also entschied er sich für Maschinenbau an der TU Darmstadt, später ­studierte er auch im norwegischen Trondheim. Früh sah er Videos von Robotern auf Youtube und war begeistert. Insbesondere Raffaello D’Andrea faszinierte ihn, der neben seiner Professur an der ETH Zürich auch Kiwa Systems gründete, ein Robotics-Unternehmen, das später von Amazon gekauft wurde. «Ich wusste, ich wollte ein Doktorat an der ETH Zürich machen» – Bjelonics Mails an diverse Professoren wurden aber erst ignoriert. Schliesslich klappte es doch und Bjelonic fing 2017 mit seinem Doktorat in Zürich an. «Die Kombination Räder und Beine ist aus meinem Doktorat entstanden. Ich war damals so gelangweilt, wie langsam diese Roboter sind – heute haben wir eine Plattform, die rund sechs Stunden Batterielaufzeit hat und bis zu 30 Kilometer pro Stunde laufen kann.»

2023 wurde das Start-up dann unter ­Be­teiligung von Professor Marco Hutter aus­gegründet. Und dann musste Geld beschafft werden: Bjelonic wusste gleich, dass er global denken muss, und ging nach San Francisco – mit nur ganz wenigen Kontakten im Gepäck. Doch ein Kontakt führte zum nächsten, bis schliesslich irgendwann die ominöse E-Mail in seinem Postfach landete, die zum Kontakt mit Jeff Bezos führte.

Der Zoom-Call war für 30 Minuten angesetzt, dauerte schliesslich aber eine Stunde. Laut Bjelonic war Bezos nicht nur in geschäftlichen Fragen sehr kompetent, sondern hat auch viele technische Fragen gestellt. «Ich hatte ­erwartet, dass er stark unter Zeitdruck steht, aber das war nicht so. Das Gespräch hat mich sehr be­eindruckt.» Einige Tage nach dem Gespräch kam die Zusage von Bezos.

Doch Investoren wie Bezos haben eine klare Erwartungshaltung. Die Vorstellungen ­decken sich aber auch mit jenen von Rivr: Die eigene Lösung muss Mehrwert schaffen. Heute arbeitet Rivr mit Kunden in Europa, den USA und Asien zusammen, darunter etwa auch Amazon. Das Unternehmen will sich jedenfalls auf entwickelte Volkswirtschaften fokussieren, die heute und morgen mit einem Mangel an Arbeits­kräften kämpfen werden müssen. Erste Pilotprojekte laufen. «Die Kombination aus Trag­fähigkeit und autonomer Bewegung ist für diesen Markt unschlagbar», sagt Bjelonic.

Ein Beispiel für den praktischen Einsatz ist die ­Paketzustellung in städtischen ­Gebieten. Milo kann Pakete von Verteilzentren direkt bis vor die Tür des Kunden liefern – und das auf ­effizientere und kostengünstigere Weise als herkömmliche Liefermethoden. Diese Fähigkeit macht die Roboter besonders attraktiv für grosse Logistikanbieter. Dabei könnten mit ganz ein­fachen Veränderungen grosse Effekte erzielt werden: «Ein grosses Problem bei heutigen Lösungen ist, dass Roboter nur eine Zustellung pro Fahrt machen. Unsere Idee ist, das zu kombinieren: etwas, das viel tragen kann, aber auch die letzten 100 Meter bis zum Kunden schafft.»

«Wir fokussieren uns auf Paketzustellungen, bei denen der Roboter bis zur Tür gehen kann. Das ‹Last 100 Yards Problem› ist eines der grössten Hindernisse in der Logistik.» Marko Bjelonic

Konkret sollen die Roboter für die Kunden die Effizienz steigern, was wiederum geringere Kosten bedeuten würde. Bjelonic: «Wir werden vermutlich schon dieses Jahr dafür sorgen können, dass unsere Pilotkunden spürbare Erfolge haben, also weniger Kosten bei ihren Projekten.»

Ähnliche Anwendungsfälle gebe es bereits, sagt der Gründer, doch diese fokussieren sich oft auf einzelne Probleme. Er nennt als Beispiel Food Delivery: «Das ist vergleichsweise einfach, weil in den allermeisten Fällen jemand zu Hause ist, der die Lieferung entgegennimmt. Der Grossteil aller Lieferungen ist aber unattended, das heisst, dass niemand vor Ort ist. Das zu lösen ist deutlich komplexer.»

Wie genau Rivr letztendlich sein Geld verdienen will, ist aktuell noch ­völlig offen. «Wir sind gerade in der Anfangsphase, das herauszufinden», so Bjelonic. Ob das Unternehmen seine Roboter fix und fertig herstellt, programmiert und dann an Unternehmen und irgendwann vielleicht auch Privatpersonen verkauft, ob die Maschinen an Kunden vermietet oder verleast werden oder ob einfach pro Zustellung oder zurückgelegtem Kilometer abgerechnet wird, kann der Gründer heute noch nicht sagen.

Aktuell kostet ein Roboter rund 50.000 CHF in der Herstellung. Doch die Entwicklungen in der Robotik gehen rasant voran, weshalb Bjelonic mit deutlich niedrigeren Preispunkten rechnet. Er könnte sich auch B2C-­Lösungen vorstellen: «Es wird interessant sein zu sehen, was etwa Familien bereit wären, für so ­einen Roboter zu bezahlen. Es spricht aber ­eigentlich nichts da­gegen, dass die Maschinen vergleichsweise ­günstig werden sollten.»

Das liegt auch daran, dass Rivr Komponenten auf dem Markt zukaufen kann. «Vor fünf Jahren mussten wir alles selbst entwerfen. Heute kaufen wir ganze Baugruppen ein und iterieren viel schneller, um unser Produkt zu perfektionieren.» Dass man noch nicht am Ziel angekommen ist, zeigt eine Situation bei unserem Besuch: Einer der Roboter fährt durch den Raum, stürzt und bleibt auf dem Boden liegen. «Mit dem hier haben wir noch ein paar Probleme. Seit dem letzten Softwareupdate fällt er immer wieder hin», so Bjelonic.

Doch der Vorfall zeigt, wie weit das Unternehmen, das aktuell knapp 20 Mitarbeiter umfasst und starkes Wachstum beim Personal plant, in ­seinen ersten 18 Monaten schon gekommen ist. Das Unternehmen hat bereits eine neun­stellige Bewertung – dass Bjelonic und Co schon am Unicorn-Status bauen, also mittelfristig eine Milliardenbewertung schaffen, ist offensichtlich. «Das ist unsere Ambition. Wenn wir ein kleines Unternehmen in der Schweiz bauen würden, hätten wir auch nicht die Investoren, die wir haben.» Dass die Probleme aber nicht morgen gelöst sind und dann das grosse Wachstum startet, ist Bjelonic auch klar. Im Gespräch mit seinem prominenten Investor zeigte sich aber, dass der Gründer trotz langem Atem die Geduld, die nötig sein wird, vielleicht sogar noch unterschätzt: «Ich denke, es wird wohl drei bis fünf Jahre dauern, bis wir anfangen, richtig Geld zu verdienen. Jeff Bezos sprach sogar von einem Zeitraum von fünf bis sieben Jahren.»

Marko Bjelonic studierte Maschinenbau in Deutschland und Norwegen und machte ein Doktorat an der ETH Zürich. 2023 gründete er mit seinem Team Swiss-Mile, das heute Rivr heisst und «Roboterhunde» baut.

Fotos: Remo Neuhaus

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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