„Wir können Krise“

Bei den zahlreichen Herausforderungen, die derzeit bewältigt werden sollen, müssen wir als Gesell­schaft zusammen­rücken und Zuversicht gewinnen, sagt Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich. 2020 trat sie ihren Job als erste Frau in dieser Position an, und das noch dazu während der Covid-Pandemie. Diese sollte nicht die letzte Krisensituation in ihrer Amtszeit bleiben.

„Ich kann tatsächlich nicht sagen, woher es kommt, aber das Gefühl, dass ich im gemeinnützigen Bereich arbeiten will, war immer da, schon in der Schule und der Studienzeit“, sagt Anna Parr. „Vielleicht auch, weil ich einfach das Glück hatte, glücklich aufzuwachsen“, ergänzt sie. Lange bevor sie im Oktober 2020 als Generalsekretärin der Caritas Österreich anheuerte, war Parr viele Jahre in verschiedenen Funktionen in der Vinzenz-Gruppe (Träger gemein­nütziger Sozial- und Gesundheitseinrichtungen) tätig, zuletzt als Mitglied der Geschäftsleitung.

Parr strahlt Zuversicht und Klarheit aus. Bemerkenswert ist das insofern, als sie direkt aus einer morgendlichen Krisensitzung nach den verheerenden Überschwemmungen Mitte September in Österreich und Teilen Osteuropas zum Gespräch kommt – und ­berichtet, dass man noch gar nicht genau ­abschätzen könne, was im Nachgang dieser Katastrophe an Heraus­forderungen daherkommen werde. Eines stellt die Generalsekretärin aber sofort klar: „Wir können Krise.“ Einen einfacheren Claim als den der Caritas gebe es demnach nicht, fügt Parr hinzu: „Wir helfen.“

Jeder, der für eine Hilfsorganisation arbeite, fix angestellt oder als Freiwilliger, weiß, dass in dem Moment, in dem etwas passiert, alle losrennen, sagt sie. „Das Helfen ist Teil unserer DNA. Wir haben also nicht das Problem einer Unter­motivation bei unseren Mitarbeitenden, mit der vielleicht andere ­Unternehmen kämpfen – wir haben eher das Thema einer Übermotivation“, ­erklärt Parr. Hier gelte es also, gut ­koordiniert zu arbeiten, sodass „nicht alle gleichzeitig zum Blaulicht laufen“, grinst sie. „Was ich damit sagen will, ist: Wir sind eine sehr gut im gesamten Netzwerk der Caritas organisierte Institution. Da braucht es klare Entscheidungsstrukturen im Netzwerk – aber nicht alle Entscheidungen laufen bei mir zusammen.“

Parr ist als General­sekretärin die erste Frau in dieser Position der Bundesorganisation. Letztere ist eine von insgesamt zehn Caritas-Organisationen in Österreich, wobei die Bundesorganisation, der sie vorstehe, so Parr zur Struktur, rund 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zähle. In Summe hat die Caritas in Österreich über 17.000 Mit­arbeiter in den unterschiedlichen Bereichen Pflege und Betreuung, Wohnungs­losenhilfe und Mutter-und-Kind-Häuser sowie in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, in Werkstätten sowie für viele Beratungs­angebote oder Lern­unterstützungen. Die verschiedenen Organisationen hängen an unterschiedlichen kirchlichen ­Diözesen, sagt Parr, die wiederum nicht alle gleichzeitig entstanden sind. Die ­Caritas in der Steiermark etwa feiere das gesamte Jahr 2024 ihr 100-jähriges Bestehen.

Anna Parr im Hotel Magdas im dritten Wiener Gemeindebezirk, das von der Caritas in Wien (und auch von einer Frau, Gabriela Sonnleitner) geführt wird.

Zentral gesteuert wird die ­Organisation also nicht. Darin liege auch ihre Stärke, sagt Parr: „Wir sind immer dort, wo Krisen und Nöte sind, schauen, welche Bedürfnisse an dieser Stelle entstehen, was aktuell gebraucht wird, was die Gründe dafür sind und was nachhaltig vonnöten ist. Wir helfen, und im besten Fall helfen wir Menschen nachhaltig dabei, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Das ist unser Ziel: nicht mehr gebraucht zu werden.“ Der Rückzug nach getaner Arbeit sei insofern relevant, „weil wir daran glauben, dass niemand von irgendjemandem abhängig sein will“. Und es sei ihr an dieser Stelle auch wichtig zu betonen, dass – wider die aktuelle politische Diskussion – „wir glauben, dass jeder Mensch einen Beitrag zu dieser Gesellschaft leisten will. Im Moment wird diese Darstellung sehr verkürzt; etwa hinsichtlich der Motivation, arbeiten zu gehen. Da werde ich nicht müde zu betonen: Das ist nicht unsere Wahrnehmung.“

Anna Parr arbeitet an der Schnittstelle zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, sie betreibt Lobbying für jene, die sie vertritt. Sie selbst sieht ihr Tun als sozial­politisch, weniger als politisch; da geht sie auf Distanz: „Die einzige ‚Partei‘, für die wir arbeiten, sind jene Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Für sie setzen wir uns ein, für sie erheben wir unsere Stimme – in der Öffentlichkeit und auch in ­politischen Gesprächen. Bislang werden wir in solche Gespräche auch eingebunden, so zumindest die Erfahrung der letzten vier Jahre.“

Selbstredend bleiben die Erwartungen für das Superwahljahr in Österreich hoch – was den Weg in die politischen Programme nicht schafft, hat keine Chance auf Realisierung. „Wir haben unsere Vorschläge an eine neue Bundesregierung basierend auf unseren tagtäglichen Erfahrungen und Wahrnehmungen formuliert und an alle Parteien weitergeleitet“, so Parr; „die Entscheidung zu zukünftigen Maßnahmen liegt jetzt bei der ­Politik.“ Es wurden viele wichtige Themen adressiert, eines ist für Parr aber zentral – mit diesem Auftrag habe sie auch den Job angetreten: nämlich „die Armut und insbesondere die Frauenarmut zu halbieren“. Vielleicht sei sie nicht unbedingt sichtbar, sagt Parr, aber es gebe ­Armutsbetroffenheit und Armuts­gefährdung. Laut Statistik Austria leben rund 570.000 Frauen unter der Armutsgrenze und zumindest 6 % leben in akuter Armut. Die He­rausforderung liegt laut Parr nun darin, die großen Veränderungen, die nicht zuletzt durch die Teuerung aufgekommen und noch nicht mit aktuellen offiziellen Zahlen belegt sind, zu managen. „Sehr viele Hilfen laufen in diesem Jahr aus“, sagt sie. Als „Seismograf der Gesellschaft“ erkenne die Caritas Problematiken frühzeitig und trage diese an die Politik heran. Mittlerweile sei auch öffentlich wahrnehmbar, wie viele Menschen sich etwa an Essenausgabestellen wenden. „Nur wir – also noch ohne die anderen Hilfs­organisationen – verteilen pro Woche über unsere Lebens­mittelausgaben ‚Le+O‘ in Wien alleine 17 bis 20 Tonnen an Lebensmitteln. 20 Tonnen!“, wiederholt sie. „Das belegt, dass Armut zwar da, aber wenig sichtbar ist“, so Parr.

Besonders prekär sei die Lage für bereits pensionierte Frauen. Sie können an ihrer Situation nichts mehr verändern, sagt Parr, und müssen sich trotz erschwerter Lebensbedingungen durchschlagen. Häufig waren diese Frauen im Niedriglohnsektor tätig und zusätzlich in Familien- oder Pflegearbeit eingebunden, sodass die Erwerbstätigkeit nur in Teilzeit möglich war. Trennungen, Todesfälle – die Ursachen für zuweilen auch plötzliche Armut haben viele Gründe. Umso wichtiger sei es, die jüngere, arbeitsfähige Generation zu unterstützen, so Parr, etwa „mit Kinderbetreuung zu realistischen Zeiten. Wir wollen, dass berufstätige Mütter eine echte Wahl haben, ob sie Teil- oder Vollzeit arbeiten. Die haben sie zu einem großen Teil heute noch nicht. Sie sollen die gleiche Chance haben, genug Geld zu verdienen und auch Karriere machen zu können“, so Parr. „Wir von der Caritas können die Frauenarmut alleine nicht beseitigen – die Politik muss die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen!“

Fotos: Katharina Gossow

Heidi Aichinger,
Herausgeberin

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