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Was einst das Schwarze Brett und Kleinanzeigen in Zeitungen waren, ist heute Willhaben – Österreichs größter virtueller Marktplatz. Bei einem Angebot von zehn Millionen Anzeigen finden Suchende hier alles, was das (Secondhand-)Herz begehrt. Geschäftsführerin Sylvia Dellantonio versiebenfachte den Umsatz seit ihrem Antritt vor elf Jahren – doch sie hat auch in Zukunft Großes vor.
„Es ist wie ein Erlebnispark hier“, schildert Geschäftsführerin Sylvia Dellantonio, als sie durch die 3.000 Quadratmeter große Bürolandschaft von Willhaben führt. Auf den großzügigen Empfangsraum folgen gläserne Abteile mit verrückten Tapeten und durchgehend Willhaben-eigenen Möbelstücken. Im Eingangsbereich des Büros sticht einem jedoch zuallererst eine steile blaue Treppe ins Auge.
Diese unterscheidet sich in ihrem Himmelblau doch markant vom Blau des Willhaben-Logos, ist aus Samt gemacht und erst seit knapp einem Jahr Bestandteil des Willhaben-Büros. Die „Stairway to Heaven“, wie sie der Architekt inoffiziell getauft hat, ist gleichermaßen eine Hommage an Led Zeppelin und ein Symbolbild für das Wachstum bei Willhaben. Der Hintergrund: Als man 2019 die Grenze von 250 Mitarbeitern knackte, traf Geschäftsführerin Sylvia Dellantonio eine wichtige Entscheidung: Ein zweites Stockwerk muss her. Um die beiden Ebenen zu verbinden, baute man beim Umbau die blaue Treppe ein – bis heute ein Symbol für das Wachstum des Unternehmens.
Mit Willhaben führt Dellantonio Österreichs größten „digitalen Flohmarkt“. Der Unterschied: ein Flohmarkt ist nicht halb so lukrativ, günstig – und vor allem groß. Es wäre unmöglich, ohne digitale Unterstützung aus zehn Millionen Angeboten den passenden Gegenstand zu finden. Das erkannte die Styria Media Group schon früh und gründete 2006 Willhaben. „Die Intention war, und das fand ich sehr mutig zu dieser Zeit, dieses Geschäft in die digitale Welt zu transformieren. Man wusste, dass die Notwendigkeit da ist, und hat es sehr konsequent umgesetzt“, erklärt Dellantonio.
Das Wissen und die Erfahrung der Kombination aus Schibsted (einer norwegischen Mediengruppe und Teileigentümer von Willhaben) und Styria waren erfolgversprechend – man tat sich zusammen. Das Ziel: Das Anzeigengeschäft – neudeutsch „Classifieds“ genannt – weg von der Zeitung hinein in die digitale Welt zu bringen. Heute ist es nicht mehr Schibsted, sondern dessen Spin-off Adevinta, das 50 % der Anteile an der Plattform hält. Adevinta kaufte sich im Juli 2020 zusätzlich die Ebay-Classifieds-Gruppe um acht Milliarden €, zu der unter anderem die deutschen Portale „Ebay Kleinanzeigen“ und „mobile.de“ gehören. In Adevinta bündelt Schibsted diese Beteiligungen nun.
Sylvia Dellantonio
...stammt aus Kärnten und studierte BWL in Graz. Sie kam als Trainee zur Styria Media Group. 2005 wurde sie Geschäftsführerin des Digitalgeschäfts der Tageszeitung Die Presse. Seit Oktober 2010 führt sie Willhaben, eine 50-%-Tochter der Styria, als Geschäftsführerin.
Im September 2021 verzeichnete Willhaben rund 76 Millionen Besuche (laut einer Studie der Österreichischen Webanalyse ÖWA). Das macht die Plattform zur drittmeistbesuchten Website Österreichs, nach orf.at und krone.at. Zudem erreicht Willhaben 54,7 % aller vorhandenen Unique Users (Anzahl von unterschiedlichen Besuchern einer Website innerhalb eines bestimmten Zeitraums) des Landes.
Zum Vergleich: Ebay erreicht in Deutschland rund 60 % der vorhandenen Unique Users. Doch Dellantonio sieht Ebay – anders als man denken würde – nicht als Hauptkonkurrenten am Markt. Es seien vielmehr Nischenanbieter, die dem Unternehmen in den einzelnen Segmenten Konkurrenz machten. Als Beispiele nennt Dellantonio die Scout-24-Gruppe in Deutschland, karriere.at, aber auch Riesen wie Google mit Careers und den Facebook Marketplace. „Was Willhaben auszeichnet, ist, dass wir in erster Linie ein Marktplatz für Private sind – und dass wir den Anspruch haben, die große Breite abzudecken“, sagt Dellantonio. Und so findet sich auf Willhaben von Antiquitäten und Büchern bis hin zu Autos, Wohnungen und Jobs so ziemlich alles, was man suchen kann.
Das Modell ist einfach: Privatpersonen können die Plattform gratis nutzen, gewerbliche Kunden (also Autohändler, Makler oder Jobplattformen) müssen für die Anzeigen, die sie schalten, bezahlen. Zusätzlich finanziert sich das Unternehmen durch klassische Werbung und Zusatzprodukte, etwa das kostenpflichtige Hervorheben einer Anzeige. Dellantonio: „Wir sind in der Vergangenheit pro Jahr zweistellig gewachsen, wobei 2020 das Wachstum etwas gedämpft war.“ Laut Unternehmensangaben hat sich der Umsatz von 2010, dem Einstiegsjahr der Geschäftsführerin, bis heute etwa versiebenfacht.
Zwölf Mal in Folge wurde Willhaben von der Initiative „Great Place to Work“ ausgezeichnet – vier Mal davon landete das Unternehmen auf Platz eins in Österreich. Dellantonio: „Der wertschätzende Umgang untereinander steht bei uns im Mittelpunkt. Auch die Leistung jedes Einzelnen muss beachtet werden. Es werden Freiräume geschaffen, in denen sich jeder frei bewegen kann und seinen Aufgaben nach eigenem Tempo nachgehen kann. Jeder Mitarbeiter weiß am besten, was er tut, und auch, was der beste nächste Schritt aus seiner Sicht sein könnte.“ Dellantonio räumt aber auch ein, dass das bei aktuell 270 Mitarbeitern nicht immer ganz einfach ist. Als sie 2010 die Führung des Unternehmens übernahm, war sie mit nur knapp 50 „Willhabingern“ konfrontiert. Schon damals hatte Dellantonio den gleichen Anspruch wie heute: die Profitabilität steigern und das Geschäft langfristig absichern. Die Voraussetzung dabei ist, die richtigen Leute an Bord zu haben. Dass ihr weder das Führen noch Willhaben fremd waren, als sie es auf den Chefsessel schaffte, war natürlich von Vorteil.
Die aus einem kleinen Ort stammende Kärntnerin wollte nie den Café-Konditorei-Betrieb ihrer Eltern übernehmen. „Mit dem Familienbetrieb bin ich aufgewachsen, und retrospektiv betrachtet hat mich dieser sehr geprägt, weil ich früh mitbekommen habe, wie das Geschäft läuft“, sagt sie. Während ihre Schwester den Familienbetrieb übernahm, studierte Dellantonio BWL in Graz und begann als Trainee bei der Styria Media Group, der Eigentümerin der Tageszeitungen Die Presse und Kleine Zeitung sowie des Portals „Willhaben“. Dellantonio arbeitete sich zur Geschäftsführerin des Digitalgeschäfts von Die Presse hoch. Sie war auch für diverse Digitalprojekte der Kleinen Zeitung und der kroatischen Zeitung Večernji list tätig, bevor sie 2010 die Geschäftsführung von Willhaben übernahm. „Obwohl das Kleinanzeigengeschäft ja aus der Zeitung stammt, ist es doch ein völlig anderes Geschäft mit anderen Dynamiken. Anders als bei einem journalistischen Produkt bedienen wir im Grunde genommen ja nicht nur einen, sondern viele Märkte.“ Tatsächlich betreut Willhaben neben dem Kerngeschäft Marktplatz auch andere Branchen wie Immobilien, Autos & Motor und Jobs.
Mittlerweile ist der Trend zur Weiter- und Wiedernutzung von Gegenständen – auch aus Nachhaltigkeitsgründen – viel stärker in den Fokus der Gesellschaft gerückt. Während der Markt für Gebrauchtwagen schon lange floriert, setzen Marken wie Patagonia, Mammut oder Zalando auf Secondhand-Initiativen; auch der Wiederverkauf von Sneakern boomt.
Eine Zahl, die für Willhaben ausschlaggebend ist, ist die des nachhaltigen Handelns auf der Plattform. „Die Nachhaltigkeit des Handelns auf Willhaben, also die Tatsache, dass ungenutzte Dinge eine zweite Chance erhalten, ist für mehr als 80 % unserer Nutzer wichtig“, sagt Dellantonio – und fügt überzeugt hinzu: „Unser Produkt fördert ein nachhaltiges Leben, das ist unser größter Hebel.“ Alljährlich erhebt Willhaben zusammen mit dem Beratungsunternehmen Denkstatt die Umwelteffekte durch die Nutzung der Plattform. Das Jahr 2020 ergab: 380.000 Tonnen CO2 ließen sich durch den Gebrauch der Plattform jährlich einsparen; das entspricht der Absorptionsleistung von fast 30 Millionen Bäumen.
Arbeiten möchte die Geschäftsführerin in Zukunft noch an vielen verschiedenen Themen. Im Interview gibt sie uns eine ganze Liste an Vorhaben preis: „Die Plattform muss noch mehr genutzt werden (jeder zweite Österreicher nutzt die Plattform regelmäßig, Anm.); die Sicherheit beim Kaufen und Verkaufen muss steigen; der Sektor ,Jobs‘ soll stärker für kleine und mittlere Unternehmen (KMU, Anm.) ausgebaut werden und vor allem: Das Suchen und Finden muss noch einfacher werden, um Willhaben weg von der Auslage mehr zu einer Matchmaker-Plattform zu transformieren.“
Stolz zeigt uns Dellantonio die in A4-Format ausgedruckten Gesichter der „Neuen“, die an jeder Abteilung an der äußeren Glasfront hängen. „Bei 270 ‚Willhabingern‘ verliert man schnell einmal den Überblick, wer neu an Bord ist. Das (die Bilder auf den Glaswänden, Anm.) ist eine schöne Möglichkeit, um darauf aufmerksam zu machen.“ Die Gesichter werden so lange ausgehängt, bis sie durch neue ersetzt werden. Ob Willhaben – anders als von Dellantonio behauptet – vielleicht doch schon bald eine zweite blaue Treppe braucht?
Text: Naila Baldwin
Fotos: David Visnjic
Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 9–21 zum Thema „Handel“.