Wiener Samba

Wie Stefan Borgas die österreichische RHI und die brasilianische Magnesita verschmelzen will.

Die Ziele sind relativ klar: internationale Expansion, Nutzung von Synergien in einem nicht allzu rasant wachsenden Markt, eine ­Erweiterung des Produktportfolios und mehr Innovationskraft. Auf den ersten Blick ergibt die Fusion des österreichischen Feuerfestkonzerns RHI mit dem ehemaligen brasilianischen Konkurrenten Magnesita durchaus Sinn. Beide Konzerne befassen sich mit der Herstellung von Produkten, die extremen Temperaturen sowie hoher chemischer und mechanischer Belastung standhalten müssen. Die Kernindustrien: Stahl (68 Prozent des Umsatzes), „Industrial“ (27 Prozent) und Mineralien (vier Prozent). Doch die Choreografie selbst ist leider etwas kompliziert.

Daher eines nach dem ­anderen: Der Marktführer, die in Wien ansässige RHI AG, fusioniert mit der Nummer zwei, der in São Paulo beheimateten Magnesita, zur RHI-Magnesita. Die RHI erwirtschaftet mit rund 7.000 Mitarbeitern rund 1,6 Milliarden € Umsatz, Magnesita mit etwa der gleichen Mitarbeiterzahl eine knappe Milliarde €. Der Kaufpreis beträgt 450 Millionen €. Das neue Unternehmen hat somit mehr als 14.000 Mitarbeiter (wobei aber über die nächsten zwei bis drei Jahre zehn bis 15 Prozent wegfallen, je zu ungefähr der Hälfte in Produktion und Verwaltung; Anm.).

Der Umzug von der Wiener Börse an die London Stock Exchange hat mit den liquideren Kapitalmärkten, einer erhöhten visuellen Präsenz und der Nähe zu Investoren und Peers zu tun. Eigentlich hätte auch die Konzernholding nach London wandern sollen – auch, um den Vorstand von einem Two-Tier-Board zu einem One-Tier-Board umzuwandeln. Doch der Brexit machte der RHI einen Strich durch die Rechnung, die Alternative hieß Amsterdam. Die Konzernzentrale, also der „Place of Effective Management“, bleibt in Wien, die Wegzugsteuer würde den Konzern unnötig belasten – und Wien sei laut RHI ein absolut geeigneter Ort, um den internationalen Konzern in Zukunft zu steuern.

Bleibt noch der Dirigent. Seit Dezember 2016 steht Stefan ­Borgas an der Spitze der RHI, bald der RHI-Magnesita. Für Borgas ist ein ­internationales Konzernumfeld nichts Neues, er ist in der Welt herumgekommen. Er studierte in Deutschland (Universität des Saarlandes) und der Schweiz (Hochschule St. Gallen) Betriebswirtschaft, seine Karriere begann er beim Chemiekonzern BASF. Die erste Führungsposition folgte 2004 beim Schweizer Chemie- und Pharma­unternehmen Lonza Group. Mit gerade 39 Jahren verantwortete Borgas damals rund 8.000 Mitarbeiter und Umsätze von über drei Milliarden Franken. Die hohen Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, erfüllte Borgas jedoch nur teilweise. Zwar position­ierte er Lonza erfolgreich in Richtung Life Sciences und führte eine Börsennotierung in Shanghai durch. Doch die erhofften Effizienzsteiger­ungen und Kostenreduktionen ­kamen nicht, Lonzas Gewinn ging stark zurück – Borgas musste gehen.

RHI MAGNESITA

Der Manager wechselte 2012 zu Israel Chemicals Ltd. (ICL), einem israelischen Chemiekonzern. Ein ausländischer Firmenchef war in Israel eher ungewöhnlich, ein Deutscher umso mehr. Borgas fackelte nicht lange, trennte sich von Randtätigkeiten des Unternehmens und fokussierte sich auf die Sparte Food Additives. Zudem verantwortete er die Zweitnotierung des Unternehmens an der Börse in New York. 2016 verließ er ICL mit der Begründung, nach Europa zurückkehren zu wollen. Damals wurde Borgas bereits als heißer Kandidat für den Chefsessel beim Schweizer Saatgut- und Pflanzenschutzhersteller Syngenta gehandelt, woraus aber letztendlich nichts wurde. Im Dezember heuerte Borgas bei der RHI an.

Der CEO selbst sieht die Komplexität der neuen Struktur gelassen: „Im Prinzip mergen wir eine in Brasilien und eine in Wien gelistete Firma nach London. Die Konzernzentrale bleibt in Wien, die Zwischenstruktur in Holland war notwendig, weil es in Wien kein ordentliches Verfahren gibt, um ein Delisting durchzuführen.“

Das Hauptquartier der RHI selbst ist optisch wenig attraktiv.
Und auch, als wir die Vorstandsebene betreten, herrscht erst mal gähnende Leere. Wenige Tische stehen verloren auf einer riesigen, offenen, scheinbar unbenutzten Fläche, die ihre Bestimmung noch nicht gefunden hat. Die Etage fällt auch etwas aus der Struktur, die den Rest des Hauptquartiers der RHI AG prägt: viele Sichtbarrieren, verschlossene Türen, wenig Charme. Das Bild entspricht einer alten, verstaubten RHI, nicht aber einem internationalen Konzern, wie er hier bald agieren soll. Stefan Borgas selbst passt aber ebenfalls nicht zum Gebäude. Der Deutsche ist Anfang 50, sieht aber jünger aus. Zum Interview erscheint er im Hemd ohne Sakko mit einem lockeren Armband am Handgelenk. Borgas legt auch gleich los, es wird schnell klar, dass auch dem CEO die Gebäudestruktur ein Dorn im Auge ist: „Wir suchen derzeit nach einem neuen Gebäude. Unser aktueller Sitz ist für eine moderne Konzernzen­trale unpassend. Die langen, leeren Korridore, von denen dann links und rechts Büros mit verschlossenen Türen wegführen, erinnern mehr an ein Krankenhaus im alten Stil. Das ist für vernetztes Führen völlig ungünstig.“

Eine moderne Zentrale müsse offen sein, so Borgas. Der Deutsche will aber nicht untätig herumsitzen, sondern den Takt vorgeben. Deshalb zieht der gesamte Vorstand in Kürze in die zuvor beschriebene leere Fläche am Eingang – ohne Büros, ohne ­Wände, in einem einzigen großen Open Space. „Wir wollen den Mitarbeitern zeigen, dass wir das wirklich ernst meinen.“ Und ernst meint der Vorstand, der bald aus RHI- und Magnesita-­Führungskräften besteht, auch den Zusammenschluss. Der Schritt hat auch geostrategische Gründe: Magnesita ist in Nord- und Südamerika stark präsent, die RHI in Europa und teilweise in Asien. China ist für beide noch ein weitgehend unbekanntes Territorium – oder, um es mit Worten der RHI zu sagen, ein Markt „mit Wachstumspotenzial“.

Für die öffentliche Aufregung rund um die Fusion und das damit verbundene Delisting aus Wien zeigt Borgas offiziell Verständnis – „Wir haben uns mit den Argumenten intensiv beschäftigt und versucht, aufzuklären“ – doch wirklich glauben kann man das dem Manager nicht. Viel eher hat der Deutsche die Kritik, die von mehreren Seiten kam, vermutlich für überzogen gehalten. Kleinaktionäre fühlten sich übergangen – der Deal würde nur Groß­aktionären, etwa dem Investor Martin Schlaff, dienen. Zugleich würde der Finanzstandort Wien geschwächt, die RHI machte schließlich rund 1,6 Prozent des österreichischen Leitindex ATX aus. Aktionär Rupert-Heinrich Staller wollte den Deal mit einer Anfechtungsklage gegen die Wahl des Aufsichtsrats sogar verhindern. Denn, da keine einzige Frau vertreten war, verstößt die RHI gegen die 30-prozentige Frauenquote. Ob dem Aktionär wirklich an Gender Diversity gelegen ist oder andere Beweggründe ausschlaggebend waren, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Das Entgegenkommen der RHI stieß auf wenig Begeisterung: Aktionäre konnten ihre Papiere 1:1 in neue Aktien tauschen, zusätzlich gab es ein Abfindungsangebot in bar. Auch die Verlegung in die steuerlich günstigeren Niederlande bei Gewinnversteuerung in Österreich beeindruckte nicht. Selbst dass man von einem größeren Personalabbau in Österreich (Standortgarantie bis 2020) absah, half nicht. Borgas sagt, dass andere Themen für die Fusion viel relevanter waren als diese Diskussionen: „Viel wichtigere Themen für uns waren etwa die Auseinandersetzung mit den Kartellämtern oder mit unseren Kunden.“ Borgas hat in Sachen mediale Aufregung aber sowieso schon ganz anderes hinter sich. Sein Abschied von Lonza versank 2012 in einem medialen Sturm rund um eine ihm ausgezahlte Ablöse von kolportierten 3,3 Millionen Franken. Der Deutsche wurde heftigst attackiert – ­teilweise zu Recht, denn die Höhe der Zahlung selbst scheint angesichts seines Track Records bei Lonza in der Tat überzogen. Doch die mediale Reaktion war nicht nur ­untergriffig, sondern machte Borgas auch zum Exempel für eine viel größere gesellschaftspolitische Debatte – die gerechte Entlohnung von Managern in der Schweiz.

Borgas äußerte sich damals überraschend offen zu den Vorwürfen. Die Argumente, die der Manager brachte – etwa dass bei niedrigerer monetärer Entlohnung ein größerer Anteil über Risikoanteile, etwa Aktien, organisiert würde –, hatten durchaus ihre Berechtigung. Vielleicht war aber auch das Lob, das Borgas zu Beginn seiner Lonza-Zeit einheimste, manchen einfach zu viel. Dass Lonza-Verwaltungsratspräsident Rolf Soiron ebenfalls fleißig nachtrat, tat sein Übriges.

Mit der Kritik kann Borgas vermutlich also umgehen. Dass sich der Druck, der auf ihm lastet, durch die Fusion steigt, ist aber auch klar. So gehen die Schulden der RHI deutlich nach oben – und damit das Risiko für das Unternehmen selbst. Denn die Nettoverschuldung des Konzerns (rund eine Milliarde €) steigt im Verhältnis zum EBITDA (338 Millionen € pro forma für RHI und Magnesita) auf ein Verhältnis von rund 3:1 und damit deutlich an. Dass man sich am Kapitalmarkt in London aufgrund der deutlich erhöhten Sichtbarkeit nicht mehr verstecken kann, kommt hinzu. Borgas weiß genau, dass 2018 ein extrem wichtiges Jahr für den Konzern wird: „Wir waren vor einem Jahr noch viel skeptischer. Wir sind jetzt bei einem Verhältnis (Nettoverschuldung zu EBITDA; Anm.), das uns keine großen Sorgen macht. Es sei denn, die Weltkonjunktur bricht 2018 zusammen – das wäre problematisch. Bei einem normalen Geschäftsverlauf sollten wir aber bald wieder auf einem Investment-Grade-­Schuldenniveau sein.“ Das neue Unternehmen will laut Presse­stelle „in zwei Jahren nahe an ein Verhältnis von 2,0 kommen“.

Borgas begründet das mit dem starken Cashflow der beiden Unternehmen und den Synergien, die die Fusion mit sich bringt. So sollen die Zusammenlegung von Verwaltung sowie Produktions- und Vertriebsnetzwerken und Synergien im Einkauf rund 70 Millionen € (netto) an Kosteneinsparungen bringen. Doch der Markt ist sich noch nicht ganz einig, ob die Übernahme strategisch klug ist. Von sechs Analysten, die das Papier bewerten, raten momentan nur zwei zum Kauf der Aktie (Erste Bank, Hauck & Aufhäuser), vier sagen „Hold“. Auch Christian Obst, Analyst der Baader Bank, gab sich Ende 2016 unsicher: „Durch den Zusammenschluss mit Magnesita könnte RHI in der Lage sein, seine Kosten­struktur weiter zu optimieren und das Working Capital sowie Liefer­zeiten zu reduzieren.“ Doch: „Wir denken, diese Struktur ist kompliziert und teuer.“

Erst mal gilt es wohl, 2018 zu überstehen. Sobald das geschafft ist, könnte sich die Fusion durchaus auszahlen. Die RHI lässt auf Nachfrage wissen, dass aufgrund der „UK-Governance und der Anforderungen des Listing-­Prospectus keine Forecasts abgegeben würden“. Doch im Oktober 2016 gab es eine solche Verlautbarung sehr wohl; inwiefern die Zahlen noch aktuell sind, ist jedoch unklar: Damals wurde bis 2020 ein recht verhaltenes Umsatzziel von 2,6 bis 2,8 Milliarden € ausgegeben – vor der Fusion lag das Ziel alleine für die RHI bei 2,0 bis 2,2 Milliarden €. Die operative EBIT-Marge sollte demnach von zehn auf zwölf Prozent steigen (Die erste gemeinsame Zahlenpräsentation der RHI-Magnesita für das dritte Quartal fand erst nach Redaktionsschluss statt; Anm.).

Dabei wäre das Ganze auch einfacher gegangen: Denn eigentlich handelt es sich hier um eine Übernahme. Die 1,6 Milliarden € ­umsetzende RHI kauft die eine ­Milliarde € umsetzende ­Magnesita. Teure Rebranding-Maßnahmen ­hätte man sich dadurch sparen können, auch die Verwirrung um die Konzernstruktur wäre geringer gewesen. Doch Borgas war es wichtig, alle Beteiligten auf Augenhöhe zusammenzubringen.

Da ist er wieder, der moderne Manager, denn ja: Technisch ge­sehen kauft die RHI die Magnesita, man hätte also auch von einer Übernahme sprechen können. „Doch Zahlen machen kein Unternehmen aus, sondern die Menschen. Wenn man der einen Seite nun sagt: ‚Ihr tanzt ab jetzt nach meiner ­Pfeife‘, dann verliert man die.“ Die Integration der beiden Unternehmen dürfte jedenfalls herausfordernd werden. Auf Vorstandsebene, so Borgas, sei das alles kein Thema. Doch zahlreiche Brasilianer in einen bestehenden österreichischen Betrieb zu integrieren, interkulturelle Barrieren abzubauen, eine gemeinsame Identität zu formen: All das braucht Zeit – und viel Können. Stefan Borgas wird als fähiger ­Kommunikator, als „Charmeur“ bezeichnet. Wird es also ihn persönlich brauchen, um die Integration zu meistern? Borgas gibt sich ­bescheiden – und stimmt dann doch zu, irgendwie jedenfalls: „Ich mag ­solche Bezeichnungen eigentlich nicht. Ich glaube aber schon, dass es in der modernen Unternehmensführung einen engen, verzahnten Austausch braucht.“ Laut Borgas geht es da aber nicht so sehr um ­Österreicher und Brasilianer, sondern um die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen. „Innerhalb der alten RHI und der alten Magnesita sprachen die Forscher für sich, die Produktionsmitarbeiter für sich, das Marketing für sich. Diese Gruppen müssen wir zusammen­bringen.“

Es scheint, als wäre die richtige Hintergrundmusik tatsächlich die größte Herausforderung für den neuen Chef – zumindest in naher Zukunft. Denn Borgas will auch „the best ­people in the industry“ anziehen, um der Organisation neues Leben einzuhauchen: „Wir sind kein österreichischer Konzern mehr. Wir benötigen mehr Frauen im Management, mehr Mitarbeiter aus Zukunftstechnologien, mehr ‚IT-Kids‘.“ Doch während man in der Branche einen guten Ruf hat, weiß der Großteil der Öffentlichkeit wenig bis gar nichts von RHI oder Magnesita. ­Feuerfestkonzerne gelten unter jungen Talenten nicht als besonders sexy. Auch eine Aufgabe für Borgas. Es ist durchaus denkbar, dass sich der österreichische Konzern mit der Fusion mächtig überhoben hat und noch gröbere Probleme bekommen könnte. Aus heutiger Sicht scheint es jedoch viel eher, als ob sich die Aufregung gelegt hätte und die Formalitäten abgeschlossen seien. Ob Stefan Borgas wirklich der richtige Dirigent ist, der den österreichischen Samba kunstvoll in London und Wien anführt, wird sich zeigen. So viel lässt sich aber sagen: Die ersten Takte scheinen gelungen.

Dieser Artikel ist in unserer November-Ausgabe 2017 „Lernen" erschienen.

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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