Weniger ist mehr

Kaum ein Kind kennt sie nicht: die Tretroller des Schweizer Familienunternehmens Micro. Doch nun wagt sich die Familie rund um die zwei Söhne des Roller-Erfinders Wim Ouboter, Oliver und Merlin, in die Automobilbranche. Mit dem elektrischen Microlino will das Unternehmen vor allem eines: Autofahren wieder auf das Wesentliche reduzieren.

„This is not a car“ – so wird der Microlino auf der Website des Schweizer ­Unternehmens ­beworben. Obwohl der Microlino zwar die ­Funktionen eines Autos erfüllt, hebt er sich ­wegen ­seines ­Designs und seiner ­Funktionalität von ­herkömmlichen Autos ab. „Der Microlino ist wie die ­perfekte Mischung aus Motorrad und Auto“, beschreibt ­Oliver Ouboter, Co-Gründer und CEO von Micro­lino, seine Erfindung. Mit dem ­charakteristischen Design, das an die Isetta von BMW erinnert, hebt sich der Microlino von sonstigen modernen Elektro-Kleinwagen ab. Ganz getreu seinem alten deutsch-italienischen Vorbild Isetta fungiert das Glas in der frontalen Einstiegstür auch als Windschutzscheibe – praktisch, denn ­wegen seiner 2,4 Meter Länge lässt sich das „Auto“ problemlos querparken und dank der frontalen Tür steigt der Fahrer ­direkt auf den Gehweg aus. Das besondere ­Design, das 2019 ­unter anderem den Red Dot Award gewonnen hat, macht das Auto zu einem Hin­gucker auf der Straße. Doch das eigentliche Ziel des ­Microlino war ein anderes.

„Wenn man sich auf der Straße umschaut, sitzen meistens ein oder zwei Menschen in ­einem riesigen SUV. Dabei werden nicht nur Ressourcen wie Strom oder Benzin verschwendet, sondern es wird vor ­allem Platz verbraucht“, erklärt Ouboter. Tatsächlich liegt der durchschnittliche Besetzungsgrad bei Pkw in der Schweiz bei 1,6. Beim Arbeitsweg ist dieser Wert sogar noch geringer, hier sitzen durchschnittlich nur 1,1 Personen im Auto (Quelle: Statistisches Bundesamt). Auch wenn es schon ­einige Zwei­sitzer unter den aktuellen Pkw gibt, ist der Fünf­sitzer ­dennoch deutlich beliebter – so bleiben also durchschnittlich 3,4 Sitze im Auto frei.

Der Microlino hat Platz für zwei ­Personen, einen 230 Liter großen Kofferraum und ist dazu ­elektrisch angetrieben. Der Kleinwagen kann in den meisten Ländern mit einer maxi­malen Geschwindigkeit von 90 km/h auch auf der Autobahn gefahren werden. Voll geladen ist der Pkw laut An­bieter mittels Haushaltssteckdose in vier Stunden, er kommt so auf eine Reichweite von 230 Kilo­metern. Mehr braucht der Kleinwagen laut Oliver Ouboter auch nicht: „Bei den Elektroautos gibt es eine große Reichweitendiskussion. Dabei braucht man im täglichen Leben, zum Einkaufen oder am Weg in die Arbeit nicht mehr.“ Tatsächlich fährt ein Auto in der Schweiz täglich ­durchschnittlich nur 30 Kilometer (Quelle: Statistisches Bundesamt). Doch nicht nur bei der Größe wurde beim Microlino gespart: 50 % ­weniger Teile als herkömmliche Pkw verwendet das kleine Auto. „Der ökologische Fußabdruck des Microlino ist daher auch nur ein Drittel von dem eines herkömmlichen Elektroautos“, erklärt ­Ouboter. Das günstigste Modell des Microlino, der Microlino Urban, ist ab 17.990 € erhältlich.

Oliver Ouboter ist zwar relativ neu im Automobilgeschäft, hat aber familienbedingt schon viel Erfahrung im Mobilitätssektor. Sein ­Vater Wim Ouboter gründete 1996 das Roller-Unter­nehmen Micro Mobility AG. „Mein Vater wollte damals ein Produkt entwickeln, das Fußwege ­verkürzt, aber gleichzeitig besser mit öffentlichen Verkehrsmitteln kombinierbar ist als ein Fahrrad“, so Ouboter. Wim Ouboter und die ­Micro Mobility AG waren somit maßgeblich an der ­Beliebtheit der kleinen Tretroller in den 2000er-Jahren beteiligt. Nach nur einem Jahr der Rollerproduktion konnten über 30 Millionen Stück verkauft werden; ein Jahr später hatte die Micro Mobility AG aber mit einer Überschwemmung des Markts durch Konkurrenzprodukte zu kämpfen. Laut dem Hersteller kopierten über 500 Fabriken weltweit den mittlerweile beliebten Micro-Roller. Wim Ouboter begann danach, sich auf ­Tretroller für Kinder und Jugendliche mit ausgefallenen ­Designs zu fokussieren. Heute liefert Micro seine Scooter in über 80 verschiedene Länder.

Innovation wird in der Familie Ouboter großgeschrieben. So fing Oliver Ouboter schon früh damit an, das Familien­unternehmen mit neuen Ideen aufzumischen. „Mein Bruder und ich haben als Jugendliche unsere Roller modi­fiziert und sind damit in die Skateparks gegangen. Da haben uns natürlich am Anfang alle komisch angeschaut, aber nach einiger Zeit wurden ­Scooter zum Tricksmachen immer beliebter und wir ­haben damit angefangen, am Wochenende Roller zu modifizieren und Ersatzteile zu verkaufen“, so Ouboter über sein frühes Interesse am Unternehmertum. Später studierte er BWL an der Universität St. Gallen, bevor ihm gemeinsam mit seinem Bruder die Idee für den Microlino kam. Der Unternehmer erzählt: „Wir haben uns gefragt, wie ein Fahrzeug aussehen müsste, das an Alltagsstrecken angepasst ist: klein, effi­zienter und vor allem nachhaltig.“

Gemeinsam mit Studenten der Universität Winterthur wurde im Zuge einer Bachelorarbeit das Design eines solchen kleinen Fahrzeugs entwickelt. Für Ouboter war es wichtig, dass zwei Leute nebeneinander plus Einkäufe Platz haben sollten und das Design außergewöhnlich und nicht lächerlich aussieht. „Autofahren ist ja auch häufig ein Imagethema. Wir wollten ein Fahrzeug entwickeln, bei dem man trotz der kleinen Größe sagen kann: ‚Hey, cool, damit fahr ich jetzt rum!‘“, erklärt Ouboter. Als das Projekt gemeinsam mit der Universität abgeschlossen war und das ­Design entwickelt wurde, entschlossen sich die Brüder Ouboter, einen Prototyp zu bauen. „Am Anfang war es wirklich der Plan, nicht damit in Serie zu gehen. Der Prototyp war vielmehr als PR-Gag geplant“, so Ouboter.

So ließen die Brüder 2015 einen Prototyp in China herstellen, um ihn bei einer Messe in Nürnberg auszustellen. Oliver Ouboter erinnert sich noch gut an diese Zeit zurück: „Als der Prototyp am Züricher Flughafen ankam, ­bekamen wir einen Anruf, in dem uns gesagt wurde, dass das Auto zwar angekommen ist, beim ­Ausladen aber auf das Dach gefallen und eigentlich schon wieder kaputt ist“, so Ouboter lachend und fügt hinzu: „Wir haben ihn dann trotzdem mit einem Zettel, auf dem ‚Shit happens‘ draufstand, aus­gestellt.“

So ließen die Brüder 2015 einen Prototyp in China herstellen, um ihn bei einer Messe in Nürnberg auszustellen. Oliver Ouboter erinnert sich noch gut an diese Zeit zurück: „Als der Prototyp am Züricher Flughafen ankam, ­bekamen wir einen Anruf, in dem uns gesagt wurde, dass das Auto zwar angekommen ist, beim ­Ausladen aber auf das Dach gefallen und eigentlich schon wieder kaputt ist“, so Ouboter lachend und fügt hinzu: „Wir haben ihn dann trotzdem mit einem Zettel, auf dem ‚Shit happens‘ draufstand, aus­gestellt.“

Dass aus dem Prototyp jemals ein in ­Serie hergestelltes Fahrzeug wird, ­kristallisierte sich erst auf der Genfer Automobilmesse heraus. Dort beschlossen die Brüder: ­Sollten sie 500 ­Reservierungen für den Microlino be­kommen, wird das Fahrzeug auch in Serie hergestellt. „Innerhalb von zwei Tagen hatten wir 500 ­Reservierungen ­drinnen – das hat uns den Mut gegeben, mit dem Projekt in die nächste Phase zu gehen“, erzählt Ouboter dazu.

Neben der Suche nach einer geeigneten ­Produktionsstätte für den Microlino hatte der ­Unternehmer auch mit einigen anderen Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen. „Man muss sich Gedanken um Customer Journey, Aftersales, Distribution, Testfahrten und natürlich auch die Zulassungsgesetze in den unterschiedlichen ­Ländern machen“, so ­Ouboter und fügt hinzu: „Aber wir haben das ­durchgezogen und ­alles ­geschafft.“ Heute wird der ­Microlino in ­Turin produziert, dabei stammen 80 % der ­verwendeten Teile aus Europa. „Die großen ­Automobilzulieferer in Deutschland oder Frankreich sind erst ab einer Stückzahl von 100.000 daran interessiert, mit einem zu arbeiten. In ­Italien gibt es auch kleinere Zulieferer, weil dort viele Supercars, Motorräder und Traktoren hergestellt werden, die kleinere Stückzahlen haben“, erläutert Ouboter.

Seit dem Beginn der Produktion im Jahr 2022 hat Microlino 3.000 Fahrzeuge verkauft.
Für 2024 plant das Unternehmen, zwischen 5.000 und 10.000 Stück zu produzieren. Insgesamt hat die Microlino AG 100 Mitarbeiter in der Schweiz und Italien; bisher hat sie mit dem ­Microlino 40 Mio. CHF Umsatz gemacht. Ins­gesamt wurde der Kleinstwagen 2023 häufiger verkauft als ­einer der beliebtesten elektrischen Konkurrenten, der ­Renault Zoe.

„Viele etablierte Automobilher­steller ­stellen keine Mikromobi­litäts-Autos her, weil sie ­lieber bei ihren großen Limousinen und SUVs ­bleiben wollen“, so Ou­boter. Dabei sieht der Unter­nehmer in der Mikro­mobilität, also in ­elektrisch getriebenen Kleinfahrzeugen, die Zukunft der globalen Fortbewegung. „Die ­Mikromobilität ­reduziert einerseits den ökologischen Fuß­abdruck, spart ­Ressourcen wie Wasser und Energie und ist gleichzeitig nicht weit entfernt von der gewohnten Mobilität der Menschen – man hat immer noch den Komfort eines Autos, aber ist gleich­zeitig nachhaltiger unterwegs“, sagt ­Ouboter.

In Zukunft will Micro sowohl mit seinem Micro­lino als auch mit seinen Rollern und Elektroscootern ein Umdenken in der Mobilität anregen: „Mobilität ist etwas, das sehr in der Gewohnheit von jedem von uns verankert ist; es wird daher länger dauern, bis sich nachhaltig etwas ändern kann“, so Ouboter. Das Unternehmen will daher noch weiter wachsen, die Produktion ausbauen und auch in andere Länder liefern. Der Microlino soll beispielsweise ab dem zweiten Quartal 2024 auch in Österreich erhältlich sein.

Mittlerweile hat sich der Microlino von ­einem PR-Gag zu einer ernsthaften Mobilitätslösung für den Stadtverkehr entwickelt. Dabei konnte die Familie Ouboter beweisen: Weniger ist manchmal doch einfach mehr.

„Am Anfang war es wirklich der Plan, nicht damit in Serie zu gehen. Der Prototyp war vielmehr als PR-Gag geplant.“ -Oliver Ouboter, Co-Gründer und CEO
von Micro­lino

Text: Lela Thun
Fotos: beigestellt

Lela Thun,
Redakteurin

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