Von Krisen, Chancen und Ideen, die herumliegen

Chefredakteur Klaus Fiala über die Herausforderungen und Chancen im Zuge der Covid-19-Pandemie.

Als die US-Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 kollabierte und die damalige Finanzkrise damit endgültig ihren Höhepunkt erreichte, saß ich zwölf U-Bahn-Minuten entfernt in meinem Büro in New York City. Ich arbeitete damals als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Center for Jewish History und hatte kein besonders ausgeprägtes Interesse an der Wirtschaft oder den Finanzmärkten – ich wollte Historiker werden. Die Finanzkrise erlebte ich trotz der geografischen Nähe zum Epizentrum als etwas Entferntes und Abstraktes.

Die aktuelle Situation fühlt sich anders an: Ein Volkswirtschaftsstudium und mehrere Jahre als ­Finanz- und Wirtschaftsjournalist später erlebe ich die größte Wirtschaftskrise der letzten 100 Jahre, womöglich aller Zeiten. Das Bedrohliche daran ist, dass es diesmal keine einfache Krise ist, sondern eine dreifache Bedrohung. Denn Covid-19 vereint eine Gesundheits- und eine Wirtschaftskrise vor dem Hintergrund einer Klimakrise. Ausgelöst von einem gesichtslosen Virus bietet sie – im Gegensatz zu den korrupten Bankern der Wall Street oder den „bösen Griechen“ der Eurokrise – noch nicht einmal einen Sündenbock. Sogar Adidas zahlt jetzt wieder seine Miete.

Während zwei Milliarden Menschen in Quarantäne stecken, fast zwei Millionen sich infiziert und über 100.000 ihr Leben gelassen haben (Stand: 13. April 2020), während die Arbeitslosenzahlen auf dem Niveau knapp nach dem Zweiten Weltkrieg angekommen sind und zahlreiche Unternehmen Insolvenz anmelden, fällt es schwer, das Positive zu sehen. Doch Krisen sind Katalysatoren für Veränderung. Milton Friedman, einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts und ein Verfechter freier Märkte, schrieb 1982: „Nur eine Krise – tatsächlich oder nur eingebildet – produziert echte Veränderung. Wenn die Krise da ist, basieren die ergriffenen Maßnahmen auf jenen Ideen, die herumliegen.“ Doch welche Veränderung wird Covid-19 bringen? Welche Ideen „liegen herum“? Zahlreiche Beobachter glauben, dass die Pandemie endgültig das Ende des Kapitalismus besiegelt. Das ist aber weder realistisch noch wäre es klug. Wie gut unsere hoch spezialisierte Arbeits­teilung letztendlich funktioniert, merken all jene, die in ihrer Quarantäne aktuell 40 Stunden benötigen, um Sauerteigbrot zu backen, das sie normalerweise für drei Euro beim Bäcker ums Eck kaufen. Klar ist jedoch auch, dass der Kapitalismus – der größte Wohlstandsmotor aller Zeiten, der alleine in den letzten 30 Jahren über eine Milliarde Menschen aus der extremen Armut gehoben hat – optimiert werden muss.

Zu lange sind Unternehmen der Prämisse des – ebenfalls von Milton Friedman in den 1970er-Jahren begründeten – Shareholder Capitalism gefolgt: Der einzige Zweck eines Unternehmens sei, das Wohl seiner Aktionäre zu maximieren. Das führte dazu, dass Kunden, Mitarbeiter, die Gesellschaft und die Umwelt vernachlässigt wurden. Das einzige Ziel war die Steigerung des Aktienkurses: Von 2014 bis 2018 investierten die Unternehmen des US-Leitindex S&P 500 insgesamt 806 Billionen US-$ in Aktienrückkaufprogramme, die ihre Kurse nach oben drückten – in Forschung und Entwicklung (F&E) flossen im gleichen Zeitraum nur 608 Billionen US-$ an Investitionen. Auch andere langfristig notwendige, aber kurzfristig den Gewinn reduzierende Investitionen, etwa die Ausbildung der eigenen Mitarbeiter, wurden hintangestellt.

Diese Krise ist eine der größten Herausforderungen, die wir je zu meistern hatten – und eine der größten Chancen.

Trotzdem sind wir in vielen Aspekten hoch erfolgreich: Die Zahl von Menschen in extremer Armut hat sich von 2000 bis 2015 von 28 % auf 9 % reduziert. Die Kindersterblichkeit ist von 7 % auf 3,9 % gefallen, das Bildungsniveau steigt weltweit. Doch zugleich sind unsere globalisierten Wertschöpfungsketten zu fragil für Schocks jeglicher Art, Unternehmen agieren mit viel zu wenig Liquidität ausgestattet und die CO2-Emissionen unseres Tuns sind außer Kontrolle geraten.

Das World Economic Forum (WEF) sowie der Business Roundtable (eine Vereinigung der CEOs von 184 Konzernen weltweit) fordern einen „Stakeholder Capitalism“: Neben Aktionären sollen demnach auch Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten, die Gesellschaft und die Umwelt in jede Entscheidung miteinbezogen werden. Der Nachteil: die Komplexität. Wer so viele Interessen gleichzeitig berücksichtigen muss, sieht sich stets mit Konflikten konfrontiert. Das führte dazu, dass CEOs und Gründer zwar viel von einem „Purpose“ sprechen, tatsächlich aber wenig Ahnung haben, welche Ziele sie mit ihrem Handeln verfolgen und welche Gruppe sie zufriedenstellen wollen.

Ob nun „Stakeholder Capitalism“ oder ein anderes Schlagwort passender ist: Kapitalismus muss mehr können als Aktionäre glücklich zu machen. Ganz oben auf der Prioritätenliste sollten zufriedene Mitarbeiter und das Schaffen von Jobs stehen. Auch das Garantieren von echtem Mehrwert für die Kunden muss tief in der DNA verankert sein. Innovationen müssen nachhaltig gedacht werden – und zwar sowohl in Bezug auf die Umwelt als auch in Bezug auf die langfristige Orientierung des Unternehmens.

Technologie wird dabei eine große Rolle spielen: Digitale Transformation und Investitionen in künstliche Intelligenz (KI), Mixed Reality oder 3D-Druck bieten Unternehmen ganz neue Möglichkeiten, ihre Stakeholder zu bedienen. Unternehmen dürfen und sollen mehr sein als nur ein Aktienkurs oder die Zahlen in ihrer Bilanz. Gleichzeitig sollte die Überbetonung des eigenen „Purpose“ nicht überhandnehmen: Wenn ordentliches Wirtschaften vernachlässigt wird, um träumerischen Idealen zu folgen, ist das nicht nur naiv, sondern auch gefährlich.

Um diesen Wandel zu schaffen, müssen Organisationen – beginnend mit der höchsten Ebene – auf unternehmerisches Denken und Diversität setzen. Der durchschnittliche CEO ist heute 4,8 Jahre in seinem Posten. Das ist viel zu kurz, um langfristige Ziele zu vereinbaren und diese dann auch umzusetzen. Wie Unternehmer und Start-up-Gründer müssen auch Manager sich letztendlich vollends verantwortlich fühlen, um Erfolg zu garantieren. Die Krise ist auch eine Chance, in Sachen ­Diversität endlich Geschwindigkeit aufzunehmen. Das gilt für Gender Diversity genauso wie für andere Charakteristika. Ein Beispiel: Die beiden größten Pharmaunternehmen Europas, Roche und Novartis, haben zusammengezählt neun Wirtschaftswissenschaftler, zwei Juristen und zwei Onkologen in ihrem Vorstand, jedoch keinen einzigen Epidemiologen oder Virologen. Vielleicht ändert sich das künftig ja.

Im Gegensatz zur Finanzkrise 2008 ist Covid-19 keinesfall etwas Entferntes oder Abstraktes. Diese Krise ist vielmehr eine der größten Herausforderungen, die wir je zu meistern hatten – und eine der größten Chancen. Ich werde versuchen, sie zu nutzen, um meine Rolle als Führungskraft und unsere Rolle als Organisation radikal neu zudenken. Ich hoffe, Sie tun das auch.

Text: Klaus Fiala

Bei dem Text handelt es sich um den Leitartikel unserer März-Ausgabe 2020 „KI“.

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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