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Das Start-up Kern Tec steht für die Entdeckung von Steinobstkernen als Lebensmittel – aber auch für die Geschichte zweier Kindheitsfreunde, die ihre Ärmel aufkrempeln, um als Unternehmer erfolgreich zu werden.
In einem Zinshaus im hippen siebten Wiener Gemeindebezirk Neubau öffnen Luca Fichtinger (28) und Sebastian Jeschko (30) die Tür zur Zentrale ihres Unternehmens. Neben Michael Beitl und Fabian Wagesreither sind Fichtinger und Jeschko die Mitgründer von Kern Tec. Im Großraumbüro mit hohen Wänden arbeiten 20 Mitarbeiter, die alle etwa gleich alt wie die beiden Chefs sind. Die Stimmung ist gut. Davon, dass die Gründer ihr Unternehmen in einer Garage gestartet und erste Aufträge in Lagerhallen und Tiefkühlhäusern mit ihren eigenen Händen abgewickelt haben, ist heute aber nur mehr wenig zu spüren. Professionalität hat Einzug gehalten.
Fichtinger und Jeschko kennen einander bereits aus der Schulzeit. Jeschko stammt aus einer Unternehmerfamilie, Fichtinger wird unter anderem von seinem Stiefvater, einem Unternehmer, inspiriert. Zum ersten Mal gründeten sie im Teenageralter, und zwar ihre eigene Eventagentur, mit der sie Clubbings organisierten, bis er sich schließlich entschieden, sich mehr auf ihr Studium zu konzentrieren. Fichtinger spezialisierte sich an der Wirtschaftsuniversität Wien auf Entrepreneurship und Innovation. „Im abschließenden Semester haben wir am Seminar ‚Garage‘ teilgenommen, das sich an Steve Jobs anlehnte“, erinnert sich Fichtinger. Der erste Abschnitt dieses Kurses bestand darin, „fesselnde Ideen zu generieren“. Bei einem Besuch in die Wachau, eine berühmte Anbaugegend für Marillen bzw. Aprikosen, erzählte ein Bauer den Gründern Fichtinger von einem Dilemma in der Obstverarbeitung, und der witterte darin ein Geschäftsmodell.
Das Problem: Bei der Herstellung von Marmelade bzw. Konfitüre oder Schnaps bleiben jedes Jahr tonnenweise Marillen- bzw. Aprikosenkerne übrig, die größtenteils verbrannt werden. Der Samen im Inneren des Kerns, der voll von Nährstoffen ist und einen nussigen Geschmack hat, kann aufgrund des Pflanzengifts Amygdalin nicht genutzt werden – Enzyme im menschlichen Körper verwandeln Amygdalin in Blausäure, die für den Menschen ungenießbar sind. Luca Fichtinger und sein damaliger Studienkollege und heutiger Mitgründer Michael Beitl waren überzeugt, eine Lösung für das Problem finden zu können. Sie widmeten sich dem Thema in ihrem Uniprojekt, wobei sie auf „Kernspaltung“ setzten, also die Trennung des verholzten Teils des Kerns vom weichen Samen. Die harten Teile des Kerns können an Kosmetikunternehmen verkauft werden, die sie als Granulat vermahlen und etwa für Peelings verwenden; beim nährstoffreichen Samen, der eben Amygdalin beinhaltet, standen die beiden aber vor einer großen Hürde. Die Studenten erkannten rasch, dass sie sich im technischen Bereich personell verstärken müssen.
Fichtinger holte dann seinen alten Freund Jeschko an Bord. Der Maschinenbau-Absolvent der TU Wien war damals in China tätig und unterstützte Start-ups dabei, Produktionen von Hardware zu skalieren, wie zum Beispiel smarte Hundehalsbänder. Bevor sie überhaupt in Produktion gehen konnten, mussten die Gründer und erste Mitarbeiterin Lebensmitteltechnologin Andrea Alber eine Methode zur Extraktion der Blausäure aus den Obstkernen finden. Der Lösungsansatz, über den die Gründer aber eisern schweigen, fiel ihnen ein Jahr nach Gründung während eines spontanen Barbesuchs nach ihrer Weihnachtsfeier im Jahr 2018 ein; lustigerweise beim Konsum eines blauen Getränks. „Unser Vorteil war unsere Naivität – uns waren die Probleme nicht bewusst, die andere davon abgehalten haben, es zu versuchen“, so Jeschko.
Seine neue Technologie ließ das Team patentieren. Wie das Amygdalin sicher aus den Kernen entfernt wird, ist aber dennoch ein Betriebsgeheimnis. „Das war der Startschuss für unser Unternehmen, wir hatten plötzlich ein Alleinstellungsmerkmal“, sagt Fichtinger. Doch die Produktion war alles andere als massentauglich. „Wir waren ein schlankes Start-up wie aus dem Bilderbuch: vier Leute und eine Garage“, so Jeschko weiter. Zu Beginn war es ein wahrer Kraftakt; die ersten Kerne wurden händisch mit allen möglichen Werkzeugen geknackt. Der erste Testkunde, eine österreichische Ölmühle, sollte für die Produktion eines Genussöls mit 30 Kilogramm Samen beliefert werden. „Wir haben in der Garage angefangen, sind dann in eine Lagerhalle gewechselt, wo wir rausgeschmissen wurden, weil wir zu viele Mäuse angezogen haben. Dann haben wir den ganzen Tag in einem Kühlhaus gearbeitet, bei minus zehn Grad und mit drei Winterjacken“, erzählt Fichtinger und lacht. Im ersten Jahr haben die Gründer mit ihren eigenen Händen zehn Tonnen Kerne geknackt.
Heute wird – mit den von ihnen eigens entwickelten Maschinen – in einer großen Halle in Herzogenburg nahe Wien produziert. „Für die ersten 30 Kilogramm Kerne haben wir eine Woche gearbeitet, heute machen wir das in fünf Minuten“, sagt Jeschko stolz. Mit der Zeit rückte der Fokus von Kosmetika zunehmend hin zur Lebensmittelindustrie. Aus dem Inneren der Samen von Kirschen, Pflaumen und eben Marillen bzw. Aprikosen machte das Unternehmen zunächst Öle, die als Whitelabel-Produkte in den österreichischen Läden der deutschen Supermarktkette Rewe landeten. Als Nächstes wollte Kern Tec beim Pflanzenmilch-Hype mitmischen. In die Branche fließt aktuell viel Geld, denn Hafer-, Mandel- oder Sojadrinks erleben gerade einen Boom. Das Start-up Kern Tec entwickelte einen eigenen Milchersatz aus Marillen- bzw. Aprikosenkernen.
Luca Fichtinger und Sebastian Jeschko sind das österreichische Cover der Ausgabe 10–23 zum Thema „Under 30"
Im April 2022 lancierte das bis dahin hauptsächlich im B2C-Sektor tätige Start-up zusätzlich eine eigene Marke mit dem Namen „Wunderkern“. Heute haben sich die Produkte mit dem verspielten Design einen festen Platz in den Kühlregalen der Supermärkte gesichert. Neben dem Klassiker, dem Kern-Drink, gibt es seit Kurzem auch einen Kakao-Drink und mit „Kesä“ einen veganen Käse zu kaufen. Laut eigenen Angaben verzeichnete das Unternehmen 2022, im vierten Jahr nach der Gründung, einen Umsatz in Höhe von 1,1 Mio. €. Milchersatzprodukte machen etwa 90 % der Einnahmen aus. Um das Wachstumspotenzial abzurufen, holte sich Kern Tec im September 2023 zwölf Mio. € von Investoren. Die Gründer wollen wachsen und europaweit mit Geschäftspartnern durchstarten: In Deutschland wird die Privatmolkerei Bauer Gruppe Kern Tecs Milchalternative bald auf den Markt bringen, mit dem Schweizer Supermarktriesen Coop wird der Einstieg in das Segment Süßwaren und Snacks vorbereitet.
Das Start-up Kern Tec hat eine Technologie entwickelt, mit der aus den Samen von Steinobstkernen Lebensmittel produziert werden können. Die beiden Mitgründer Luca Fichtinger und Sebastian Jeschko verbindet eine lange Freundschaft, 2023 schafften sie es auf die Forbes-„Under 30“-Liste.
Text: Paul Resetarits
Fotos: Tabea Magdalena Martin