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Klimawandel, Überbevölkerung, Stadtverdichtung: die Herausforderungen im urbanen Raum werden immer komplexer. Es braucht ein Sprachrohr, das wissenschaftliche Zukunftsszenarien entsprechend vermittelt.
Man könnte meinen, der Titel der Potsdamer Forschungsgruppe „Urban Complexity Lab“ (UCLAB) stünde für sich: Doch trotz des ursprünglichen Fokus’ auf die Visualisierung von Stadtkonzepten arbeitet das Team bereits lange nicht mehr nur daran: „Damit muss man jetzt umgehen“, lacht Initiator und Co-Gründer Boris Müller zu Beginn unseres Telefongesprächs.
Zunächst schien der Weg in Richtung städtischer Themen jedoch geebnet: so dockte das Lab an den Masterstudiengang „Urbane Zukunft“ der Fachhochschule Potsdam an, der erste Projektpartner war der Online-Geodatendienst Here. Mittlerweile aber hat sich das Themenfeld verbreitert und die Forschungsgruppe konzentriert sich auch auf die überschaubare Darstellung komplexer Datensätze aus Wissenschaft und Forschung. Schließlich ist es wichtig, dass die Bevölkerung ein Verständnis für ihre literale Stadt entwickelt sowie für mögliche Zukunftsszenarien, die sie betrifft. Im UCLAB wird eine Stadt daher auch aus kulturellen und sozioökonomischen Perspektiven heraus betrachtet – als ein holistisches Ganzes. Denn eine lebendige Stadt schafft Raum für Kultur: Schließlich sind etwa kulturelle Sammlungen, Klimaprojekte und Geschichtsvermittlung Themenkomplexe, deren öffentliche Bedeutung ebenso die Vielfalt des urbanes Raumes bestimmt, wie etwa dessen Infrastruktur.
Gemeinsam mit dem Informatiker Marian Dörk gründet der Designer Boris Müller 2015 das Urban Complexity Lab in Potsdam – und zwar aus reiner Sympathie dem Kollegen und der Branche heraus, wie Müller lächelnd sagt. „Alles echtes und ehrliches Interesse an der gemeinsamen Arbeit.“ Dörk ist Forschungsprofessor für Informatik an der Fachhochschule Potsdam, Müller lehrt dort ebenso Interaktions- und Interfacedesign. Es ist eine spannende Konstellation aus datenbasierter Wissenschaft und kreativer Praxis, die – sieht man sich die Projekthistorie des UCLAB an – zu funktionieren scheint. Aber was macht diese Konstellation genau aus?
Wo Design auf Forschung trifft
Für Außenstehende mag es auf den ersten Blick wohl etwas paradox wirken, zwei derart konträre Disziplinen in einem Forschungsteam zu bündeln. Im Falle von Dörk und Müller scheinen diese sich jedenfalls gut zu ergänzen. Und auch außerhalb des UCLAB rückt die Verknüpfung der beiden Fachbereiche mehr und mehr in das Bewusstsein sowohl der Design- als auch der Forschungskommunikation: Das UCLAB ist nicht die einzige Forschungseinrichtung in Deutschland, die sich vermehrt mit der Thematik beschäftigt. Eine erfreuliche Entwicklung, sagt Müller – und: „Diese Verbindung ist ein Steckenpferd von mir.“
Immerhin arbeite die Wissenschaft bereits viel mehr mit visuellen Elementen, als manche es ihr vielleicht zutrauen würden, so Müller. Schließlich sei die ansprechende Datenvisualisierung seit jeher ein wichtiger Bestandteil der Forschung. „Die Wissenschaft hat zunehmend mit der Vermittlung von bildgebenden Verfahren zu tun“, so Müller. Das Urban Complexity Lab widmet sich dieser Symbiose, um für die Zukunft der Wissenschaft eine bessere Art der Kommunikation zu schaffen. Genau das ist der Gedanke hinter dem UCLAB und zugleich sein angestrebtes Ziel: Wissenschaftliche, oft schwer begreifliche Themen, durch ansprechendes und verständliches Design an ein öffentliches Publikum zu vermitteln – und somit ein Sprachrohr zu werden zwischen Theorie und Praxis.
Mit allen Sinnen
„Visualisierung kann viel leisten, wenn es darum geht, komplexe Zusammenhänge für die Allgemeinheit verständlich zu machen,“ sagt Müller. So dient sie als Expertentool zum Entdecken von Besonderheiten und Mustern in unerschlossenen Gebieten. Zudem bedeutet Visualisierung immer auch Vermittlung; auch Zeitungen und Magazine verwenden sie immer häufiger, um die Komplexität der großen globalen Herausforderungen verständlich darzustellen. Die New York Times oder Zeit Online arbeiten etwa bereits verstärkt darin, Daten multimedial aufzubereiten. Der Sprung vom technischen Konzept zur populären, leicht zugänglichen Infografik ist damit wohl bereits gelungen. Es stellt sich somit die Frage, wie sich Visualisierungs-Tools zukünftig entwickeln werden?
Visualisierung einer Stadt
Von Seiten der Unternehmen, die bereits mit dem UCLAB gearbeitet haben, besteht vor allem im Bereich des Verkehrs konkretes Forschungsinteresse. Angesichts einer steigenden Bevölkerungsdichte gibt es im Bereich der Mobilität große Herausforderungen.. Wann kann etwa wo eine Baustelle geplant werden, ohne dass es an anderer Stelle zu einem Verkehrsinfarkt kommt? Die Stadt ist in ihrem Kern komplexer als oftmals nach außen hin sichtbar – Visualisierungsprojekte schaffen hier Transparenz.
Bei Google Maps werden Staustrecken bereits relativ zeitnah und genau berechnet. Wird zusätzlich eine Simulationssoftware über solche Karten gelegt, lassen sich noch treffsicherere Szenarien erschließen: Etwa an welchen Wochentagen und zu welchen Tageszeiten es an welchen Orten zur Staubildung kommt – und wie sich diese anderswo auswirkt. „Visualisierung spielt eine große Rolle darin, Bottlenecks aufzudecken,“ so Müller.
Abgesehen vom Verkehr spielen für die Auftraggeber des UCLAB – bestehend aus Infrastrukturunternehmen, Museen, Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen – auch soziale Komponenten eine Rolle. So etwa wird ermittelt, in welchen Vierteln fehlende oder ungünstige Infrastruktur zu sozioökonomischen Nachteilen führt oder führen könnte. „Es geht darum, Muster deutlich zu machen, die oft präsent sind, man mit Bildern aber klarer beschreiben und die Dringlichkeit deutlicher machen kann,“ sagt Müller. Hier wird die Stadt losgelöst von ihrer Infrastruktur: Sie offenbart sich als kultureller, als sozialer Raum.
Eine Wechselwirkung von Infrastruktur und Lebensraum verdeutlicht das Projekt „City Flows“: In drei verschiedenen Städten, Berlin, New York und London, wurden öffentliche Bikesharing-Systeme untersucht und verglichen. Mithilfe von Datensammlungen an den Ladestationen der E-Bikes konnten die Bewegungen der Fahrräder innerhalb der Stadt gemessen werden. „In London sah man sehr schön, an welcher Station die Pendler ankommen, dass sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren und es abends wieder zurückbringen“.
Diversität wird groß geschrieben
Ein Team, das nur aus Designern besteht, reicht nicht aus, um derart vielschichtige Zusammenhänge wie jene von „City Flows“ zu visualisieren. Vielmehr ist das Team im UCLAB breit gefächert: Neben Designern und Informatikern arbeiten im UCLAB auch Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaftler. Die disziplinäre Diversität erlaubt es, eine vielschichtige Perspektive auf die jeweiligen Projekte einzunehmen und alle Seiten zu durchleuchten. Immerhin braucht es neben dem technischen Blickwinkel stets auch eine kritische Bewertung im Hinblick auf Gebrauchsfähigkeit, Erwartungshaltungen, Vermittlung. Findet dieser Prozess des konstanten Feedbacks schon intern statt, können Projekte direkt viel holistischer geplant und aufbereitet werden.
Von Szenarien und Möglichkeitsräumen
Im Rahmen des aktuellen Klimaprojekts Senses gemeinsam mit dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), macht sich die Interdisziplinarität bezahlt. Das Ziel des PIK ist es, aufgrund bestimmter Datensätze unterschiedliche Zukunftsperspektiven zu errechnen – beispielsweise wie sich der Ausstoß von CO2-Emissionen weltweit entwickeln könnte. Denn diese sind jeweils mit anderen Voraussetzungen, Konflikten und Herausforderungen verknüpft, die sich positiv oder negativ auf unsere Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels auswirken. Da die vom PIK ermittelten Datensätze oft schon fast unüberschaubar vielfältig sind, arbeitet das Institut mit dem UCLAB zusammen. Mithilfe von Visualisierungen werden die Daten so dargestellt, dass die Zukunftsszenarien für ein breites Publikum nachvollziehbar werden.
Informationsfreiheit vs. Datenschutz
Doch trotz des großen Forschungsinteresses bei derartigen Projekten, gibt es mit dem Datenschutz ein heißes Thema, so Müller, dessen man sich zukünftig annehmen muss. Denn: Wie kommt man an Datensätze heran, deren Erforschung und Aufbereitung der Öffentlichkeit nutzen, ohne die Privatsphäre von Individuen zu verletzen? Insbesondere im Bereich der sozioökonomischen Stadtentwicklung, der Verbesserung der Mobilität sowie des Klimaschutzes, ist eine für die Allgemeinheit leicht verständliche Informationsaufbereitung eine dringliche Angelegenheit.
Müller wünscht sich für die Zukunft des UCLAB einen gelungenen Zugang zu beiden Ansätzen zu finden – zur entsprechenden Freigabe von Daten sowie zur Sicherheit derer. Damit wäre man in der Lage, ganz neue Ansichten von Städten zu erstellen, die bis heute erst Utopien darstellen. Diese Visualisierungen könnten es der Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft sowie schließlich auch der Öffentlichkeit ermöglichen, sich auf verschiedenste Zukunftsszenarien vorzubereiten. Um diesen Spagat zwischen der Bereitstellung von Daten und Informationssicherheit zu schaffen, gilt es sicherlich noch einige Hürden zu überwinden – insbesondere auch um tatsächlich relevante Fragestellungen zu aktuellen und zukünftigen Problemen im urbanen Raum in ihrer Gesamtheit erforschen zu können. Bei der Potsdamer Forschungsgruppe wäre man jedenfalls bereit dazu.
Text: Sarah Kampitsch
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