VICTOR WILL ES WISSEN

Ob Jules Verne oder Jacques-Yves Cousteau: Der Ozean reizt Menschen seit jeher. Im vergangenen Jahr gelang nun Victor Vescovo ein einsamer Rekord: Ein Spezial-U-Boot brachte ihn zu den fünf tiefsten Stellen der Weltmeere. Nun besuchte er das Calypsotief im Mittelmeer – und plant schon neuen Touren.

Eines ist sicher: Orte, die bisher kein Mensch betrat, sind selten geworden. Was wäre jedoch, wenn uns Pioniertaten in den Ozeanen gelängen? In dieser Geschichte werden wir von einem Mul­timillionär hören, der an drei Top-Univer­sitäten studierte. Es wird zu sprechen sein über seltsames Getier, knapp 44 Millionen € – und eine Plastiktüte. Und über Mut, Erfindergeist und eine bereits heute legendäre Expedition namens „The Five Deeps – In Profundo: Cognitio“. Victor Vescovo ist ein US-Amerikaner – und hat zwar ein erfolgreiches Private-Equity-Unternehmen namens Insight Equity, sieht aber nicht aus wie ein Investor. Der 54-Jährige wirkt viel eher wie ein Störtebeker der Neuzeit: groß gewachsen, mit langen blonden Haaren, die er zum Zopf gebunden trägt, ein weißer Bart und intensiv blaue Augen. Er gehört zum Klub der Unternehmer, die über genügend Privatvermögen verfügen, um sich Extravaganzen zu leisten. Und: Vescovo ist kein Mann für halbe Sachen. Vor dem von ihm initiierten „The Five Deeps“-Projekt bestieg der Abenteurer alle Achttausender-Gipfel und besuchte auf Skiern beide Pole. Dieser Ritt für Idealisten nennt sich auch „The Explorers Grand Slam“.

Den Entschluss, in das weitgehend unerforschte Dunkel der Weltmeere vorzudringen, fasst Vescovo vor acht Jahren. Dazu ließ er sich ein 4,60 Meter langes und 12,5 Tonnen schweres Schiffchen bauen. Er tauft es auf den Namen „Deep Submergence Vehicle Limiting Factor“, oder „LF“. Das Schiff kostet ihn – inklusive des Begleitschiffs „Pressure Drop“ – 44 Millionen €, Hersteller ist das US-Unternehmen Triton Submarines. Die zehn Antriebspropeller lassen das Mini-U-Boot mit einer Geschwindigkeit von sechzig ­Metern pro Minute abtauchen. Der gebunkerte Sauerstoffvorrat reicht für gut vier Tage. Ein besonderes Detail macht deutlich, dass man beim Bau Neues wagte: So findet sich am Titan-Druckkörper keine einzige Schweißnaht. Jener „Limi­ting Factor“ bringt den Investor ab 2018 sicher zu den fünf tiefsten Orten der Ozeane. Alle fünf hatte zuvor noch nie ein Mensch besucht. Die Fahrten führten Vescovo innerhalb von nur neun Monaten um die Welt.

Victor L. Vescovo
... wurde 1966 in Texas geboren und besitzt Studienabschlüsse von der Stanford University und vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) sowie einen MBA aus Harvard. Gut 20 Jahre lang arbeitete er als Offizier in der US Navy und schaffte es dort bis zum Kommandanten. Vescovo spricht sieben Sprachen, darunter Arabisch. Heute ist er geschäftsführender Gesellschafter und Mitgründer von Insight Equity, einer Private-Equity-Firma mit einem Eigenkapital von über einer Milliarde US-$. Vescovo hält den Weltrekord für den tiefsten Tauchgang der Geschichte.

Alles beginnt im Atlantischen Ozean. Die Tour auf fast 8.400 Meter Tiefe gelingt. Später im Südlichen Ozean sinkt er auf rund 7.400 Meter ab, im April 2019 gelingt der Touchdown im Indischen Ozean bei etwa 7.200 Metern. Die vierte Fahrt führt Vescovo zum tiefsten Punkt des Pazifiks auf 10.925 Meter. Damit gelingt ihm der Weltrekord für den tiefsten Tauchgang der Geschichte. Zum Abschluss steuert der Abenteurer vor zwölf Monaten in den Arktischen Ozean; der Tiefenmesser bleibt dort in 5.550 Metern Tiefe stehen.

Geht sein U-Boot auf Tour, ist in seiner Nähe immer das 68 Meter lange ehemalige Kriegsschiff „Pressure Drop“, denn ohne das Mutterschiff wäre keine der Tiefsee-Expeditionen geglückt. Grund dafür: Die „LF“ gelangt nur per Kran ins Wasser. Auf dem Begleitschiff lebt und arbeitet die etwa 50 Mann starke Crew, die aus Meeresbiologen, Vermessungsspezialisten und anderen Forschern besteht. Zur Verfügung steht der Mannschaft zahlreiches Equipment, etwa ein Mehrstrahl-Sonargerät der norwegischen Firma Kongsberg. Damit lässt sich der jeweils tiefste Punkt am Meeresboden bestimmen. Auch drei Tauchroboter, die „Lander“ genannt werden, sondieren vorab das Gelände und helfen bei der Ermittlung des perfekten U-Boot-Landepunkts.

Und weshalb die Tiefsee? Ist die nicht längst erforscht? Nicht wirklich. Die Ozeane gelten als weniger erforscht als die Oberfläche des Mondes. Dabei machen die Weltmeere bis zu 70 % der Erdoberfläche aus. Seit Ewigkeiten errichtet die Natur dort unten ein faszinierendes Reich, das weder Taifune oder Erdbeben kennt – und nur sehr wenige menschliche Besucher.

Steigt man ins Meer, zeigt das Wasser einem alles im Farbtonkaleidoskop. Es ist sattblau, auf den Wellenkämmen fahl, es pulsiert in Grün und treibt je nach Wellengang smaragdgrüne Brecher ans Ufer. Es ist eine eigene Dimension, wenn man so will, der kalte oder – je nach Ozean – brüh­warme Atem der Natur. Wenn Vescovo über die Unterwasserwelt spricht, möchte man zusteigen und mitfahren: „Wir hofften, auf jener Expedition Geschichte zu schreiben – und wollten die Grenzen der Meerestechnik ausloten. Denn mir lagen körperliche und technische Herausforderungen immer schon. Nun öffneten wir eine Tür für die Wissenschaft und ich stellte mir dazu die passende Frage: Wozu sind wir auf dem Planeten?“

Es wird nahezu philosophisch, als der Abenteurer sagt: „Ich versuche, ein interessantes und sinnvolles Leben zu führen. Manche Menschen finden es bei ihren Familien oder in der Religion, aber mich haben immer das Abenteuer und die Erkundung gelockt.“ Vescovos Unter­wassertreiben ist nicht ungefährlich: Bricht ein Feuer an Bord aus oder versagen der Batterie­antrieb oder die Sauerstoffmesser, endet die Expe­dition in einem Desaster. Nicht immer läuft alles glatt – einmal fällt das gesamte Kommuni­kationssystem aus, ein anderes Mal donnert das U-Boot beim Zuwasserlassen an die Außenwand des Mutterschiffs; auch ein 350.000 US-$ teurer hydraulischer Arm bricht eines Tages ab und muss erneuert werden. Was die Erforschung des unbekannten Terrains erschwert, ist der brutale Druck von gut 1.000 Kilogramm pro Quadrat­zentimeter und eine Temperatur von zwei Grad Celsius. Im Hinblick auf weitere Herausforderungen, die das Tauchen in solche Tiefen mit sich bringt, sagt Vescovo: „Es war eine wahre Herausforderung, alle Systeme so zu entwerfen, dass sie diese massive physische Kraft der Natur zuver­lässig und wiederholt überleben.“

Wir öffneten eine Tür der Wissenschaft und ich stellte mir die Frage: Wozu sind wir auf dem Planeten?

Man muss für einen Moment lang innehalten und sich das vorstellen: Da sitzt ein Mittfünfziger in einem Miniwasserfahrzeug
und rauscht bis zu elf Kilometer in unbekannte Gewässer hinunter. Auf dem Weg zu den tiefsten Punkten der Erde ist der Mann in der Regel allein – weil er es sich so wünscht. „Es ist eine sehr private Erfahrung, wenn man an diesem gefährlichen Ort ganz auf sich allein gestellt ist“, sagt der Unternehmer dazu. Empfindet Vescovo Angst? „Du kannst deinen Verstand trainieren,
um die Angst zu kontrollieren und nicht dominant werden zu lassen“, sagt der 54-Jährige.

Ein Beispiel: Die Fahrt in die Tiefe des Marianengrabens dauert 3,5 Stunden. Zur Ablenkung wird Musik gehört, der Stärkung dienen Sandwiches und Cola. Alle 15 Minuten erfolgt eine Meldung in der Zentrale des Mutterschiffs „Pressure Drop“. All der Aufwand lohnt sich, denn während der Fahrt zeigen sich etwa Aale mit durchsichtigen Köpfen und Grenadier­fische. Vier neue Arten von Amphipoden-Krebstieren, die wie Garnelen aussehen, werden ent­deckt. Sicher ist: Es gibt viel mehr Lebensformen, als wir uns bisher vorgestellt hatten. „Wir fanden 30 neue Spezies und andere unglaubliche Dinge, über die ich aber noch nicht sprechen darf“, sagt Vescovo. Grund für die Verschwiegenheit ist ein Vertrag, wegen dem es nun Streit gibt. Rückblick: Vescovo verkaufte die Exklusivrechte an seinen Trips an den Discovery Channel, dieser plante die Ausstrahlung eines TV-Mehrteilers über den Weltrekord für Anfang 2020. Doch die Sendung hängt in der Schwebe: „Man plant noch nicht, sie auszustrahlen, weil es an Werbung mangelt, heißt es. Der Sender besitzt die Inhalte, sie haben dafür bezahlt und können damit tun, was sie für richtig halten. Das ist äußerst frustrierend“, sagt Vescovo dazu.

Als ob das nicht schon genug der schlechten Neuigkeiten wäre, fand Vescovo auch Müll im Marianengraben, wohl eine Plastiktüte. Diese Meldung ging um die Welt, der unglaubliche Tauchrekord jedoch nicht. Darüber ärgert sich Vescovo: „Heute besteht leider kein großes Interesse an der Tiefsee, was ich nicht verstehe. Deshalb bin ich selbst dorthin aufgebrochen.
Die Menschen wissen nicht, dass die bemannte Tiefseeforschung sehr selten und kompliziert ist, besonders dann, wenn wir über Tauchgänge in Tiefen von mehr als 4.000 Metern sprechen.“

Doch aufgeben will Vescovo nicht: Im Februar 2020 reist er zum tiefsten Punkt des Mittelmeers. Bei der Reise zum Calypsotief vor Griechenland ist er zum ersten Mal nicht solo unterwegs – bis auf 5.267 Meter Tiefe begleitet ihn Prinz Albert II. von Monaco. Nur einmal,
in den 1960er-Jahren, sei Menschen der Besuch dieser Stelle gelungen, durch ein Spezial-Tief­see-U-Boot namens „Archimède“, wie Vescovo erzählt. Doch die Reise zum tiefsten Punkt des Mittelmeers zeigt heute Erschütterndes: „Auf dem Grund sahen wir leider eine große Menge menschlicher Kontamination.“

Aktuell arbeiten sich Biologen, Geologen und Kartografen immer noch durch den digitalen und physischen Datenschatz der „Five Deeps“-Tour. So sammelte das Team neben Tieren, die man per Köder anlockte, auch Proben des Sedi­ments und erkannte neue Unterwasserströmungen. Zuletzt bleibt also vielleicht nur eine Frage offen: Wie fühlt es sich da unten an? „Unterhalb von 500 Metern taucht man in eine völlig andere Welt ein. Es ist sehr dunkel und sehr ruhig. Über dir könnte ein Hurrikan hinwegfegen und du würdest nichts davon mitbekommen“, so Vescovo. Auf die Frage, ob er sich jetzt wie einer der ganz großen Entdecker fühlt, verneint er.

Soeben ist Vescovo vom Challengertief zurückgekehrt, wo er sechs weitere Male abtauchte. Mit ihm unterwegs: Dr. Lin Ying-Tsong. Dem Forscher der Woods Hole Oceanographic Institution gelang mit jener Fahrt auf den Grund des Marianengrabens ein Novum: Der Taiwanese war der erste Asiate, dem das Kunststück gelang.

Vescovo sagt über die wiederkehrenden Tauchgänge zu bislang unerreichbaren Regionen unseres Planeten: „Wir freuen uns sehr, zu zeigen, dass jeder Mensch jeden Ort des Meeresbodens zuverlässig besuchen kann.“ Nun reift im US-Investor aber bereits ein neuer Plan: Im September will er mit „seinem Spielzeug“ die Meeresgründe vor Hawaii durchpflügen – und im Februar 2021 kehrt er zurück in den Westpazifik. Man kann jedenfalls sicher sein, dass dem Abenteurer die Ideen und seine Passion für die Wunder der Tief­see nicht ausgehen.

Text: Matthias Lauerer
Fotos: Triton Submarines

Forbes Editors

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