UMSATZSTARKER TRASH

Wish war 2018 die am häufigsten heruntergeladene Shopping-App weltweit. Die ultragünstigen Waren lassen Walmart wie ein Luxuskaufhaus aussehen. Den 90 Millionen Nutzern ist das aber wohl herzlich egal.

An einem sonnigen Nachmittag in San Francisco steigt Peter Szulczewski die Treppe hinauf zum Gipfel eines Wolkenkratzers in der Sansome Street, vorbei an Stockwerken mit Wish-Wissenschaftlern und Ingenieuren, Billardtischen und DJ-Equipment. Durch die großen Fenster hat man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt. Doch die meisten Kunden von Szulczewski arbeiten nicht in solchen Büros oder leben in nordkalifornischen Küstengebieten. Tatsächlich haben die meisten von ihnen überhaupt nicht viel Geld. Die Kunden von Wish sind typischerweise Amerikaner aus der Arbeiterklasse und kommen aus Regionen wie Florida Panhandle oder East Texas; es sind Schnäppchenjäger, die die 120 US-$ Jahresmitgliedschaft bei Amazon Prime für zu hoch halten.

Unübliche Zielgruppe

„41 % der US-amerikanischen Haushalte verfügen über nicht einmal eine Liquidität von 400 US-$“, sagt Szulczewski und verweist auf die aktuellste Schätzung der Fed. Der 37-jährige, in Polen geborene ehemalige Google-­Ingenieur ist von den Finanzen der gewöhnlichen Leute besessen. Diese Besessenheit nutzte er, um einen E-Commerce-Marktplatz speziell für sie zu gestalten – vollgepackt mit namenlosen Waren, die direkt von chinesischen Händlern verschifft werden.

2018 war Wish die am häufigsten heruntergeladene Shopping-App weltweit – und ist nach Umsätzen heute der drittgrößte E-Commerce-­Marktplatz in den USA. Rund 90 Millionen Menschen weltweit nutzen die App mindestens einmal im Monat. Da Wish seine Einkäufe um 15 % reduzierte, konnte das Unternehmen seinen Umsatz im vergangenen Jahr auf 1,9 Milliarden US-$ verdoppeln. Wish wurde bis zur letzten Fundraising-Runde mit mehr als 8,7 Milliarden US-$ bewertet, Szulczewskis 18-prozentiger Anteil macht ihn dabei zum Milliardär (sein Mitgründer Danny Zhang besitzt nur 4,2 %). Laut Szulczewski sollten Investoren in den nächsten ein bis zwei Jahren mit einem Börsengang rechnen.

Wish ist nicht die erste E-Commerce-App, die jeden Kundenklick mitverfolgt – Amazon hat mit dieser Art von Daten einen Umsatz von 200 Milliarden US-$ aufgebaut. Wish konkurriert mit Alibabas Ali Express und Amazon, indem es Käufern einen endlosen Strom an chinesischen Produkten von Drittanbietern feilbietet. Aber während Amazon Streamingvideos und Zwei-Stunden-Lieferungen an Kunden zur Prime-Mitgliedschaft hinzufügt, macht sich Szulczewski nicht viele Gedanken um schnelle Lieferungen oder Qualität.

Foto: Peter Szulczewski, Wish

Peter Szulczewski
wuchs in den 80er-Jahren in Warschau auf. Mit elf Jahren übersiedelte er nach Kanada. Nachdem er für Google gearbeitet hatte, startete er 2011 gemeinsam mit Danny Zhang den Vorgänger von Wish, Wishwall.me. Der Onlinemarktplatz Wish machte 2018 1,9 Milliarden US-$ Umsatz.

Wish-Pullover gibt es ab zwei US-$ plus zwei US-$ Versand, Android-Smartphones sind für 27 US-$ gelistet. Die Produktlieferungen können Wochen dauern. Die Käufer scrollen durch durchschnittlich 600 bis 700 Artikel. Rund 80 % der Erstkunden von Wish kommen wieder auf die Seite, um ein zweites Mal einzukaufen.

Der Versand ist billig, zum Teil dank einer Vereinbarung zwischen der chinesischen und der US-amerikanischen Post. Diese ermöglicht es, Waren mit einem Gewicht von 4,4 Pfund oder weniger (rund 1,9 Kilogramm) zu niedrigen Preisen zu versenden. So kann es günstiger sein, ein Paket von Peking nach New York zu versenden als von South Carolina nach New York. Wish schreibt jedes Jahr Verluste von rund 190 Millionen US-$. Dennoch behauptet das Unternehmen, rentabel sein zu können, wenn es aufhören würde, so viel für Marketing auszugeben. Das Unternehmen hatte große Kampagnen auf Pandora und Snapchat und ist einer der größten Werbekunden auf Facebook. Angesichts des Wettbewerbs ist das wahrscheinlich gut angelegtes Geld. Mark Zuckerberg meinte erst kürzlich, den Verkauf von Waren über Instagram erleichtern zu wollen. Damit könnte Facebook ein Wettbewerber werden. Amazons Marktplatz für Drittanbieter macht die Hälfte aller verkauften Produkte des Unternehmens aus (nach Volumen, nicht nach Umsatz); vor einem Jahrzehnt waren es noch 30 %.

Unglückliche Kunden

Doch ein viel existenzielleres Problem ist folgendes: Viele Waren auf Wish sind trashig, kitschig, ja sogar mit betrügerischem Hintergrund. Es gibt Hunderte von negativen Bewertungen auf Webseiten wie Trustpilot und High Ya. Kunden sind unzufrieden, dass beim Kundenservice nicht reagiert wird, mit Händlern, die ihre Bestellungen nicht versenden und minderwertigen Waren. Szulczewski hat Connie Chang, eine ehemalige Community-­Managerin bei Facebook, angeheuert, um das Problem zu lösen. Sie organisierte rund 10.000 Wish-­Nutzer, um dem Unternehmen zu helfen, zwielichtige Händler auszusortieren – im Gegenzug für kostenlose Waren und Rabatte. Aber Szulczew­ski scheint unbeeindruckt von der Herausforderung der Qualitätskontrolle und verweist darauf, dass manchmal die Kunden selbst das Problem sind.

Der Mann, der mit seiner Plattform 300 Millionen Produkte zum Verkauf hat, wuchs im kommunistischen Polen der 80er-Jahre auf. Inmitten von leeren Ladenregalen, im dritten Stock eines geschmacklosen Wohnblocks in Warschau. Er war elf Jahre alt, als die Sowjetunion zusammenbrach und seine Eltern nach Waterloo, Kanada, zogen. Er besuchte die University of Waterloo, wo auch die Gründer von Kik Interactive und Instacart studierten. Im Rahmen seines Mathematik- und Informatikstudiums traf er auf einen anderen Immigranten, Danny Zhang. Die beiden spielten zusammen Fußball und wurden Freunde.

Im Jahr 2004 – kurz vor seinem Abschluss im Alter von 23 Jahren – begann Szulczewski ein viermonatiges Praktikum bei Google. Google hatte damals weniger als 1.000 Mitarbeiter und bereitete sich gerade auf den Börsengang vor. Als Szulczewski hauptberuflich bei Google zu arbeiten begann, schrieb er die Prototyp-Algorithmen für die Keyword-Erweiterung – eine Funktion, die Google an frühe Werbekunden verkaufte, um deren Anzahl von Suchbegriffen zu erhöhen.

Szulczewski verließ Google 2009 mit genügend Ersparnissen. Er verbrachte sechs Monate an seinem Computer zu Hause und schrieb Codes für Software, die die Interessen von jemandem vorhersagen konnten – wie beispielsweise Laufen oder Gartenarbeit. Das alles basierte auf dem Browserverhalten und konnte mit einem potenziellen Produkt oder einer Werbung abgeglichen werden. Szulczewski nannte das System Context Logic.

Foto: Peter Szulczewski, Wish

Doch Szulczewski tüftelte weiter. Ende 2011 starteten er und Zhang den Vorgänger von Wish, Wishwall.me. Mithilfe von Anzeigen auf Facebook luden sie Nutzer ein, eine von Wish zusammengestellte Sammlung von Produkten zu durchstöbern. Wish verkaufte tatsächlich keines dieser Produkte. Doch Menschen konnten sich Dinge „wünschen“ und Wunschlisten erstellen, zum Beispiel für Fahrräder oder Wohnaccessoires. Dafür bekamen sie Belohnungen wie Gratis­artikel und Rabatte, um die Nutzer zu binden. Wish häufte Zehntausende von Nutzern an und begann mit dem Matchmaking. Das Unternehmen versandte E-Mails an Dutzende von Händlern, die Produkte auf eBay und Amazon verkauften. Wish versprach, diese einem Pool an kauf­bereiten Nutzern zuzuführen, jedoch nur, wenn die Händler auf 10 bis 20 % des Preises, den sie woanders auswiesen, verzichten. Wenn die Händler zustimmten, wies Wish seine Nutzer darauf hin, dass das von ihnen gewünschte Produkt nun für einen Rabatt auf Wish erhältlich sei.

Maßnahmen der Open-Door-Politik

2016 schlug Szulczewski einen Bieter aus. Ein vertrauter Executive von Jeff Bezos hatte sich gemeldet und Szulczewski nach Seattle eingeladen, um den Amazon-­Gründer zu treffen. Szulczewski ist zu zurückhaltend, um viel darüber zu sagen, was vor sich ging. Aber er sagt, dass Bezos „nicht superdirekt“ war, ein Übernahmeangebot zu machen.

Die Open-Door-Politik von Wish ließ die Verkäufe ansteigen, aber auch Probleme bei der Qualitätskontrolle kamen zutage. „Ich habe unterschätzt, wie herausfordernd das (die Qualitätskontrolle, Anm.) ist“, sagt Szulczewski.

Wish wurde beispielsweise vergangenes Jahr in Medienberichten dafür kritisiert, dass ein Make-up von der Webseite rote Augen verursacht hatte. Wish wählt auch Produkte von Händlern aus, die schlechte Bewertungen erhalten haben oder selbst gefälschte Reviews online stellen. Um Fälschungen automatisch zu erkennen, trainierten die Ingenieure von Wish ihre Software auf offensichtlich erfundene Reviews. Als Beispiel: „Habe ich nicht so schnell erwartet, der Besitzer der Service Begeisterung.“ Jetzt kann die Software Rezensionen mit ähnlichen unsinnigen Phrasen identifizieren. Insgesamt gibt es etwa 60 Regeln auf Wish. Wenn die Algorithmen merken, dass ein Händler gefälschte Produkte aufgelistet oder eine Bestellung mit einer gefälschten Trackingnummer versendet hat, muss er eine Geldstrafe von 500 US-$ zahlen. Der Versand eines Pakets ohne Produkt macht 10.000 US-$ aus. Wish sammelt so monatlich etwa drei Millionen US-$ an Bußgeldern ein. Händler können auch von der Plattform verbannt werden.

Szulczewski malt ein rosiges Bild: Der Schwung an Kundendaten, die in Wish einfließen, werde mehr Bewertungen, intelligentere Targeting-Software und möglicherweise qualitativ hochwertigere Artikel bringen. Diese markenfreien Smartphones werden von Jahr zu Jahr besser, sagt er, „genau wie unsere iPhones“.

Der Artikel ist in unserer April-Ausgabe 2019 „Geld" erschienen.

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