Über Melange, Apfelstrudel und Hafermilch

Das Café Sperl in der Gumpendorfer Straße in Wien ist seit 145 Jahren ein fester Bestandteil der Wiener Kaffeehauskultur. Doch hinter der traditionsreichen Fassade hat sich einiges getan: Im Interview spricht der junge Geschäftsführer Florian Stückler darüber, welche Herausforderungen es mit sich bringt, Innovationen in das traditionsreiche Café zu integrieren – und warum hier Zurückhaltung manchmal sogar von Vorteil sein kann.

Das Café Sperl ist an diesem frühen Novembernachmittag gut besucht. Fast jeder Tisch in dem großzügigen Altwiener Café ist besetzt. ­Kellner, traditionell in Hemd, Fliege und Weste ­gekleidet, bewegen sich geschickt zwischen den Tischen und servieren Torten, Kaffee und warme Speisen. Die Gäste bilden eine bunte Mischung aus Familien, Studenten, Paaren und Zeitung lesenden Einzelgängern. Während draußen auf der Wiener Gumpendorfer Straße der hektische Alltag des modernen Lebens tobt, scheint es an diesem Nachmittag im Café Sperl fast so, als hätte man eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert unternommen: Die Wände sind mit Holzvertäfelungen geschmückt, der Parkettboden trägt Abnutzungsspuren, und auch die Einrichtung, Sessel, Marmortische und Luster wirken wie Originale aus dem Jahr 1880. Zwischen dem täglichen Caféb­etrieb findet man den jungen Geschäfts­führer Florian Stückler mit seinem Laptop an ­einem der Alkoven-Tische am Rand des Cafés ­sitzend.

Der 25-jährige Wiener übernahm im ­Januar 2023 das Café Sperl, das seit 1968 in Familienbesitz ist, von seiner Groß­mutter Monika Staub. „Für mich stand früh die Frage im Raum, ob ich meinen Weg in der Gastronomie oder in der ­Immobilienbranche gehen sollte. Nach einigen Praktika in beiden Branchen habe ich mich dann entschieden, mich mit voller Hingabe der Gas­tronomie zu widmen und das Erbe des Cafés zu übernehmen“, erzählt Stückler lachend. Damit tritt er in die großen Fußstapfen der früheren ­Eigentümer und Geschäftsführer des Café Sperl, deren Geschichte bis in die Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zurückreicht.

Das Café Sperl, 1880 von Jakob Ronacher nach den Plänen der Architekten Gross und Jelinek erbaut, wurde noch im selben Jahr von der Familie Sperl übernommen und entwickelte sich schnell zu einem zentralen Treffpunkt der Wiener ­Kaffeehausszene. In den folgenden Jahren zog das Café ein vielfältiges Publikum an, darunter Künstler, Architekten, Musiker und Schrift­steller. Besonders bemerkenswert ist der ab 1895 etablierte Stammtisch der „Hagengesellschaft“, aus dem später die Wiener Secession hervorging. Zu den regelmäßigen Besuchern zählten auch Operettenkomponisten wie Franz Lehár und Schauspieler wie Alexander Girardi.

Diese Tradition setzt sich bis heute fort. Der aktuelle Geschäftsführer Florian Stückler betont die Bedeutung der Geschichte des Hauses: „Unser Café blickt auf eine 145-jährige Historie zurück, in der unzählige Geschichten geschrieben wurden. Diese Tiefe und Authentizität kann ein moderner Coffeeshop nicht bieten.“

1968 übernahm schließlich Manfred Staub, Stücklers Großvater, das Café Sperl von der ­Familie Kratochwilla und begann in Zusammenarbeit mit dem Bundesdenkmalamt um­fassende Restaurierungsarbeiten. Ziel war es, den Charme und die Geschichte des Cafés zu be­wahren, während gleichzeitig moderne Hygiene­standards und Annehmlichkeiten eingeführt wurden. „Mein Großvater sagte immer, dass unser Café das authentischste Wiens ist, weil die Einrichtung zum größten Teil unverändert geblieben ist. Natürlich werden sanfte Restaurierungsarbeiten vorgenommen, wie unter anderem der Neubezug abgenutzter Sitzpolster, aber im Kern sieht das Sperl heute noch genauso aus wie 1880“, erklärt der Geschäftsführer.

Stückler möchte auch in Zukunft an diesem Ansatz festhalten. Das Café sei schließlich unter anderem deshalb so beliebt, weil es wie ein lebendiges Museum wirke. „145 Jahre Café Sperl – das mag vielleicht nach Tradition und Vergangenheit klingen; doch unsere Beständigkeit beruht vor ­allem auf kontinuierlicher Innovation. Wer nicht bereit ist, Neues zu wagen, verliert irgendwann den Anschluss“, sagt der Geschäftsführer.

An innovativen Ideen mangelte es Stückler bei der Übernahme des Cafés im Jahr 2023 nicht. Änderungen mussten jedoch stets mit seiner Großmutter, die weiterhin im Betrieb involviert ist, ­abgestimmt werden – was insbesondere anfangs häufig zu Diskussionen führte. „Als ich Hafermilch als Milchalternative einführen wollte, stieß ich zunächst auf viel Widerstand. Es hat gedauert, bis ich alle überzeugen konnte. Aber manchmal gehört es dazu, für Veränderungen zu kämpfen“, erklärt Stückler.

Mein Großvater sagte immer, dass unser Café das authentischste Wiens ist.

Florian Stückler

Der gebürtige Wiener absolvierte seine ­Matura am Schottengymnasium in Wien und studierte anschließend Hotelmanagement, ebenfalls in Wien. Bereits während seines Studiums sammelte er praktische Erfahrungen durch diverse Praktika in Gastronomiebetrieben und Cateringunternehmen. Nach seinem Abschluss im Sommer 2022 zog es Stückler ins Ausland, nach Prag und München, wo er in verschiedenen Hotels ­Erfahrungen sammelte.

2023 kehrte er schließlich nach Wien zurück, um das Café Sperl von seiner ­Großmutter zu übernehmen. Es war das erste Mal, dass Stückler im Familienbetrieb arbeitete – und das gleich als Geschäftsführer. „In meiner Jugend ergab es sich nur selten, im Café mitzuhelfen oder ein Praktikum zu machen – es gab zu dem Zeitpunkt schlicht keinen Bedarf. Ich habe schon von früh an viel Zeit im Café verbracht, meine berufliche Verbindung zum Sperl wurde jedoch erst später wirklich intensiv“, erinnert er sich. Umso bedeutender war es für den Wiener, schließlich doch im Familienbetrieb Fuß zu fassen und frischen Wind in das Café zu bringen. Heute verwirklicht Stückler seine innovativen Ideen vor allem durch die Onlinepräsenz des Café Sperl auf Social Media und durch modernes Recruiting.

Letzteres ist ihm ein besonderes Anliegen, da der junge Geschäftsführer mit einem Mangel an qualifizierten Kellnern zu kämpfen hat: „Gutes Personal zu finden ist eine große Heraus­forderung. Wir sind sehr bemüht, unsere Mitarbeiter zu schätzen, und dadurch entsteht oft eine sehr lange Zusammenarbeit. Wir setzen bewusst auf hervorragend ausgebildetes Personal, um die Qualität zu sichern.“

Auch wenn es an Per­sonal mangelt, mangelt es nicht an Besuchern – das Café Sperl ist regelmäßig gut besucht. Ob Touristen, Stammgäste, Künstler oder Studenten, das Café zieht wie einst ein vielfältiges und breit gefächertes Publikum an. Stückler fällt dabei auf, das vor allem immer jüngere Menschen das Café zum Lernen oder ­Arbeiten nutzen: „Es freut mich sehr, dass immer mehr junge Menschen den Charme unseres Cafés für sich entdecken. Lange Zeit dachten viele, dass die klassische Kaffeehauskultur langsam aus­sterben würde. Doch das Gegenteil ist der Fall: Unser Café ist heute wie damals ein Ort für alle und belebter denn je.“

In anderen Kaffeehäusern der Stadt sieht die Lage heute anders aus. Obwohl laut einer Umfrage der Wirtschaftskammer Wien rund 32.000 Wiener täglich ein Kaffeehaus besuchen, sind in den letzten Jahren vor allem traditionsreiche Betriebe in Insolvenz gegangen. So stellte 2023 das Traditionscafé Ritter in Ottakring seinen Betrieb ein, auch das Grand Café bei der Volksoper existiert seit Kurzem nicht mehr, und das Café Français beim Schottentor musste saniert werden. Als Hauptursache für diese Entwicklungen nennt die Wirtschaftskammer Wien die Nachwirkungen der Coronapandemie – 2022 schlossen von den damals 1.666 Kaffeehäusern in Wien rund 206 ­ihren Betrieb. Gleichzeitig wurden jedoch 167 neue Cafés eröffnet. Dabei ist anzumerken, dass es sich bei den Neuzugängen in den wenigsten Fällen um Kaffeehäuser im Stil der traditionsreichen Alt-Wiener Cafés handelt.

Statt bei einem Apfelstrudel und einer Melange stundenlang die Zeitung zu lesen, liegt der Fokus in modernen Coffeeshops auf Flat Whites, kurzen Lernsessions und Businessmeetings – eine Veränderung, die Stückler jedoch nicht unbedingt stört: „Coffeeshops und traditionelle Kaffeehäuser lassen sich kaum vergleichen, da sie unterschiedliche Zwecke erfüllen. Unser Schwerpunkt liegt auf der Gemütlichkeit und dem Verweilen.“

Im Café Sperl gibt es beispielsweise keine Zeitbeschränkung – wer etwas konsumiert, darf so lange bleiben, wie er möchte. „Selbst wenn man den ganzen Tag nur ein einziges Soda Zitron bestellt“, so Stückler. Für viele sind alt-wienerische Kaffeehäuser wie das Sperl ein zweites Wohnzimmer; Stückler kennt auch viele der Stammgäste persönlich. Während unseres Interviews verabschieden sich einige Gäste sogar direkt von dem jungen Geschäftsführer. „Ein besonderer Schatz unseres Cafés sind die Stammgäste, die uns seit Jahren die Treue halten. Es ist ein großes Glück, so viele vertraute Gesichter zu sehen, wenn ich ins Café komme“, so Stückler.

Im Sperl scheint die Zeit stillzustehen; nicht nur wegen des unveränderten Interieurs, sondern auch aufgrund der entspannten, ruhigen und gemütlichen Atmosphäre. Während Passanten eilig an den großen Fenstern des Cafés vorbeigehen, lädt das Sperl zum Verweilen ein – eine Stimmung, auf die Stückler besonders stolz ist: „Ich genieße es besonders im Winter, am Fenster zu sitzen, die gemütliche Atmosphäre im Kaffeehaus wahrzunehmen und das bunte Treiben auf der Straße zu beobachten. Diese Momente sind für mich unbezahlbar.“ Genau dieses Gefühl und diese Atmosphäre möchte Stückler auch pflegen: „Unser Café wird heute wie damals geschätzt – gerade weil wir an unseren Traditionen fest­halten und sie behutsam bewahren.“

Florian Stückler ist Geschäftsführer des Café Sperl in Wien. Er studierte Hotelmanagement in Wien und übernahm 2023 die Führung des Cafés von seinen Großeltern.

Fotos: Gianmaria Gava

Lela Thun,
Redakteurin

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