Trash-Tech

Nate Morris will mit seinem „Uber für Müllabfuhrunternehmen“ eine 60 Milliarden US-$ schwere Branche disruptieren.

Ähnlich wie bei anderen Unternehmern, die höchst erfolgreiche Tech-Start-ups leiten, häufen sich auch bei Nate Morris in letzter Zeit Einladungen zu glamourösen gesellschaftlichen Ereignissen und Promi-Events: eine Einladung von Leonardo DiCaprio zur Filmpremiere von „The Revenant“ (er lehnte ab) und eine vom Milliardär Marc Benioff zu einem privaten Abendessen mit Arianna Huffington und Billie Jean King (diese nahm er an). Ein Großteil von Morris’ tagtäglicher geschäftlicher Tätigkeit bei Rubicon Global spielt sich jedoch weitab von Hollywood und dem Silicon Valley ab, an Orten wie Jeffersonville in Indiana, einer 45.000 Einwohner zählenden Kleinstadt. An einem ungewöhnlich warmen Novembertag trifft er sich dort mit dem örtlichen Chef der Müllabfuhr, Bob Lee, der sich mit einer Bitte an Morris wendet: „Wir brauchen Ihre Hilfe.“

Lee ist in der Abfallwirtschaft ­tätig, seit er nach seinem Ausscheiden aus der US Army 1971 als junger Unternehmer einen Müllabfuhrauftrag für das örtliche Arbeitslosenamt ergatterte. Seine Firma Eco Tech Waste Logistics mit Sitz in Louisville, Kentucky, ist genau die Art von kleinem Familienbetrieb, die hinter dem Aufstieg von Rubicon steht. Mit seinen 96 Beschäftigten und 69 Fahrzeugen (Lkws) ist Eco Tech eines der führenden Unternehmen der Gegend. Aber ähnlich wie die meisten anderen kleinen Müllabfuhrunternehmen kämpft auch Eco Tech täglich gegen die Konkurrenz durch die großen nationalen Player mit ihren ungemein größeren Ressourcen. Genau hier bietet die von Rubicon ent­wickelte Technologie eine Möglichkeit zum Kontern.

Rubicon ist das Uber der Müllbranche. Seine Software verbindet jene, die den Müll abholen (also die Müllmänner), mit denjenigen, bei denen er anfällt (Büros, Unternehmen oder auch Eigenheime), und sorgt dafür, dass die Abholung reibungslos funktioniert. Den Müllabfuhrunternehmen kann Rubicons App anzeigen, dass die Abholung ohne aktives Zutun des Fahrers oder ohne Ablenkung desselben über die Bühne geht. Die Fahrzeugdisponenten wissen, wo sich ihre Müllfahrzeuge befinden und wer die meisten Abholorte anfährt. Die Konsumenten erhalten einen Überblick darüber, wie viel von ihrem Abfall auf der Deponie landet und wie viel recycelt wird. Außerdem sehen sie, wie oft sie tatsächlich ihren Müll abholen lassen müssen, was Kosten­einsparungen erleichtert. Für den Zugang zu Rubicons Technologie müssen beide Seiten bezahlen, sowohl Müllabfuhrunternehmen als auch Kunden.

Acht Jahre nachdem Morris das Unternehmen gemeinsam mit Marc Spiegel, einem Freund aus Kindertagen, in Louisville gegründet hat, wo die beiden aufwuchsen, arbeitet Rubicon heute mit 5.000 kleinen Müll­abfuhrunternehmen und einigen Großkunden wie 7-Eleven und Wegmans. Mit Atlanta schloss man im vergangenen Oktober den ersten Vertrag mit einer Gemeinde. Die Umsatz­erlöse verdreifachten sich im Vorjahr auf über 200 Millionen US-$. Rubicon schaffte es, Top-Investoren wie Goldman Sachs und Wellington Management anzuziehen, und lockt Talente aus dem Silicon Valley an. Und dank der neuen Partnerschaft mit Suez Environnement, einem 15 Milliarden US-$ schweren französischen Konzern, der größtes Interesse an Rubicons technologischem Know-how hat, nimmt Morris nun in den USA eine 60-Milliarden-Branche ins Visier, die von den Giganten Waste Management (Umsatz: 13 Milliarden US-$) und Republic Services (9 Milliarden) ­dominiert wird.

Suez steht an der Spitze einer neuen Investition in Höhe von 50 Millionen US-$, mit der Rubicons Bewertung auf 800 Millionen US-$ steigt. Suez hat bereits die ehemaligen Europa-Aktivitäten von Waste Management übernommen und möchte durch die Zusammen­arbeit mit Rubicon wieder in den US-Markt einsteigen. Rubicon wird dafür seine bewährten Softwarelösungen und – für Morris das größte Kapital der Firma – seine Daten mit Suez teilen. „Das US-Modell ist altmodisch“, so Jean-Marc Boursier, der Europa-Chef von Suez Recycling & Waste Recovery, der die Kooperationspläne seines Unternehmens mit Rubicon bisher geheim gehalten hat. „Wir hoffen auf einen großen Überraschungseffekt – und dann sind sie gezwungen, sich schnell weiterzuentwickeln.“ Für Rubicon eröffnet der Deal mit Suez die klare Möglichkeit für einen langfristig angedachten Zugang zu den Märkten in Europa. Aktuell jedoch ist er das Ass im Ärmel, mit dessen Hilfe Morris den etablierten Betreibern weitere Marktanteile abnehmen will. „Und dann wird es erst lustig“, so Morris.

Der heute 36-Jährige wurde bereits in der fünften Klasse zum Vorsitzenden der Schülervertretung gewählt, und in der Highschool traf er Bill Clinton und präsentierte eine Nachrichtensendung im Frühstücksfernsehen. Als Stipendiat an der George Washington University nutzte er die Wochenenden für Praktika und arbeitete nebenbei für die Republikaner in seinem Bundesstaat für die Kampagne zur Wiederwahl von Senator Mitch McConnell.

Es folgte ein Aufenthalt in China, wo Morris Betriebswirtschaft unterrichtete und für das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung seines Heimatbundesstaats Kentucky tätig war, bevor er in Princeton Öffentliche und Internationale Angelegenheiten studierte. Durch die eigene Erfahrung mit ausuferndem Industriewachstum in China war Nachhaltigkeit für ihn zum Thema geworden, und so beschlossen er und Marc Spiegel, dessen Familie seit Jahren in der Abfallentsorgung tätig war, dass die Branche reif für den Einstieg eines Tech-Unternehmens und die damit einhergehenden umfassenden Veränderungen sei. „Damals verdienten sie ihr Geld allein mit den Deponien“, so Morris. „Unser Plan war, als Hirn für die Branche zu fungieren.“

Unser Plan war, als Gehirn der Abfallbranche zu fungieren.

Freunde und Familie reagierten auf die Entscheidung schockiert. „Ich fragte ihn, ob ihm bewusst sei, wer in diesem Geschäft tätig ist. Er antwortete darauf, es mache ihm nichts aus, zu kämpfen“, erinnert sich Morris’ Großvater Lewis Sexton, ehemals Vorsitzender der lokalen Gewerkschaft der Ford-Arbeiter in Louisville. Der Gewerkschaft gefiel Morris’ Vision der Unterstützung unabhängiger Entsorger, und die Versammlungshalle der Gewerkschaft wurde zu Rubicons zweitem Kunden, als Morris belegte, dass sie mit ihm ihre Müllabfuhrkosten um 60 Prozent drücken konnten.

Investoren zu finden erwies sich als schwieriger. Um in manchen Staaten, einschließlich New York, die Geschäftstätigkeit aufnehmen zu können, musste Rubicon jeden seiner Investoren darum bitten, sich die Fingerabdrücke abnehmen zu lassen. Schließlich willigte Lane Moore von QuarterMoore Capital ein, zu investieren und einen Sitz im Board zu übernehmen. Er hatte zuvor bereits das Unternehmen Bagster mitgegründet und es später an Waste Management verkauft. Bedingung für den Einstieg war die Verlegung von Rubicons Firmensitz nach Atlanta, wo Moore arbeitete.

Dadurch fanden sich weitere hochkarätige Unterstützer, und der nächste Durchbruch für Rubicon kam, als Morris sich mit dem Mitgründer und ehemaligen CTO von Uber, Oscar Salazar, anfreundete, der schließlich ebenfalls in Rubicon investierte und ins Board einzog. Salazar vermittelte außerdem wertvolle Tech-Mitarbeiter. So half er bei der Anwerbung von Phil Rodoni, dem Software-Chef von Esurance, welcher in der Folge ein Team leitete, das die Shake genannte App von Rubicon entwickelte: Sie misst Entfernung, Geschwindigkeit und die Schüttel-Bewegung der Mülltonnen beim Entleeren zur Bestätigung der Dienstleistung. Dank der berührungslosen Überwachungsfunktion kann sich der Fahrer auf die Straße konzentrieren, wodurch die Hauptursache für tödliche Unfälle mit Müllfahrzeugen beseitigt ­werden kann. Bei derartigen Unfällen kamen laut dem Nordamerikanischen Siedlungsabfallverband im letzten Jahr 21 Beschäftigte ums Leben, und mehrere Dutzend Zivilpersonen wurden verletzt. Rodoni war auch an der Entwicklung der Software-Management-Suite Caesar beteiligt, die später in Augustus umbenannt wurde und mit der Mengen und Routen überwacht werden können, sowie am E-Commerce-Programm Rubicon Pro. Letzteres bietet Kunden einen Diskont-Marktplatz für Ausrüstung und Bedarfsmaterialien sowie Kredite.

Vieles an Rubicons Geschäftsmodell ist eins zu eins von Ubers Strategie übernommen. Das Unternehmen hält Risiko und Kapitalkosten gering, da es die Fahrzeuge und die Abfallzentren nicht selbst besitzt. Der frühere Uber-CFO Brent Callinicos, der mittlerweile auch im Board von ­Rubicon sitzt, erklärt, dass das Wachstumspotenzial des Unternehmens davon abhängt, dass es ihm weiterhin gelingt, seiner Basis aus Kleinunternehmen ausreichend Schub zu verleihen.

Trotz der bisherigen Erfolge bleibt Rubicon im Vergleich zu seinen Konkurrenten auf nationaler Ebene ein Winzling. Der mit Atlanta geschlossene Vertrag war der erste mit einer städtischen Verwaltung. Im Vergleich dazu arbeitet Waste Management mit 3.500 Gemeinden und Republic mit 2.700. Inzwischen hat Waste Management voriges Jahr 150 Millionen US-$ in IT investiert und 16.500 Lkws mit mobilen Geräten ausgestattet. „Ich möchte der Einführung disruptiver Technologien nicht nur untätig zusehen“, so James Fish Jr., der letzten November zum neuen CEO von Waste Management ernannt wurde. „Ich möchte derjenige sein, der sie einführt.“

Morris ist nicht der Einzige, der große Möglichkeiten vor sich sieht. Analysten zufolge sehen sich die Platzhirsche eher unter Druck, Kosten zu senken und konstant Dividenden auszuschütten, als übermäßiges Wachstum à la Uber anzustreben. Dennoch sind Waste Management und Republic gemeinsam bereits nahezu 50 Milliarden US-$ wert. „Es mag 20 Jahre dauern, aber wenn es die anderen auf 50 Milliarden schaffen, warum sollte das dann nicht auch Rubicon gelingen?“, meint dazu Marc Benioff von Salesforce, der in Rubicon investierte, nachdem er Morris 2014 kennengelernt hatte. Benioffs Aussagen sind natürlich immer mit Vorsicht zu genießen – schließlich ist er in Sachen Tech-Unternehmen der König der Übertreibungen. Aber selbst wenn sich nur ein Bruchteil davon bewahrheitet, könnte sich das Geschäft mit dem Abfall für Rubicon noch als höchst einträglich erweisen.

Text: Alex Konrad
Übersetzung: Denise Tschager

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