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CERNs Generaldirektorin über das Higgs-Teilchen, ein uns unbekanntes Universum und Konkurrenz aus China.
Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons feierte Fabiola Gianotti großen Erfolg. Doch die Herausforderungen für die Generaldirektorin des Forschungsinstituts CERN sind größer denn je.
Fünf Prozent. Nur fünf Prozent unseres Universums sind uns bekannt. Das wirkt fast schon lächerlich wenig. Der Grund: Rund 95 Prozent des Universums, in dem wir leben, bestehen aus dunkler Materie. Und die wird – im Gegensatz zu „normaler“ Materie – von der klassischen Physik noch nicht beziehungsweise nur unzureichend erklärt. Das wirkt auf den ersten Blick ziemlich ernüchternd.
Doch es lässt sich auch anders sehen, wie etwa Fabiola Gianotti erklärt: „Das ist eine große Motivation für mich. Es gibt noch vieles zu erforschen, es bestehen viele Möglichkeiten, Neues zu lernen. Es wäre doch langweilig, wenn wir schon alles wüssten.“ Die Teilchenphysikerin lebt von ihrer Neugierde, Neues zu entdecken und Unbekanntes zu verstehen. Diese Eigenschaft zeichnet auch ihre Kollegen aus, jene Forscher, die sich diesem Feld widmen – der Teilchenphysik. Doch die Italienerin ist mehr als „nur“ Forscherin, „nur“ experimentelle Teilchenphysikerin. Vielmehr leitet sie eines der prestigeträchtigsten Forschungsinstitute der Welt: Gianotti ist Generaldirektorin der Europäischen Organisation für Kernforschung CERN. Als erste Frau in dieser Position.
Die Italienerin ist bereits seit fast 30 Jahren am CERN tätig, seit 2016 steht sie der Organisation vor. Sie studierte und promovierte an der Universität Mailand in Teilchenphysik, bevor sie 1987 in die Schweiz ging. „Jede neue Entdeckung hilft uns, die zugrundeliegenden Fragen besser zu verstehen. Entdeckungen werfen in der Regel neue Fragen auf und eröffnen uns neue Wege, die wir beleuchten können.“ Die derzeit relevanten Fragen am CERN sind ganz grundsätzliche: Woraus besteht unser Universum? Wie funktionieren die Grundgesetze der Natur? Wie ist das Universum entstanden?
Eine Grundlage, um diese Fragen beantworten zu können, ist, den „Stoff“, aus dem wir und alles um uns herum gemacht sind – nämlich die Materie – genauer zu verstehen. Und genau diese Motivation war es, die Gianotti und dem seit 2016 von ihr geführten CERN in den letzten Jahren weltweites Interesse sicherte. Doch eins nach dem anderen: Das sogenannte „Standardmodell der Teilchenphysik“ beinhaltet so ziemlich alle Erkenntnisse der Teilchenphysik – Stand heute. Es beschreibt die Elementarteilchen sowie ihre Interaktion miteinander (starke, schwache oder elektromagnetische Wechselwirkung). Die Elementarteilchen werden in zwei größere Gruppen unterteilt: Fermionen – zu dieser Gruppe gehören die Materieteilchen, etwa Quarks und Elektronen – und Bosonen, die Botenteilchen wie etwa Lichtteilchen, die „Photonen“. Das Standardmodell ist eine elegante Theorie, deren Erkenntnisse in zahlreichen Experimenten Schritt für Schritt bewiesen wurde. Ab und zu als „Weltformel“ bezeichnet, hat das Modell nicht nur einige Limitationen, sondern lange Zeit auch einen sichtbaren Schönheitsfehler: Eines der von ihm vorausgesagten Elementarteilchen, das Higgs-Teilchen, ließ sich nicht nachweisen.
Das war den Physikern ein Dorn im Auge. Nicht aus Eitelkeit, sondern wegen der Bedeutung, die das Higgs-Teilchen hat. Fabiola Gianotti: „Das Higgs-Teilchen war das fehlende Puzzlestück in unserem Verständnis der Elementarteilchen. Es hängt mit dem Mechanismus zusammen, wie die Teilchen ihre Masse erhalten. Es gibt Teilchen, die keine Masse besitzen, etwa das Photon, ein Bestandteil des Lichts, das sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Und dann gibt es andere Teilchen, etwa das W-Boson, das in den 1980er-Jahren am CERN entdeckt wurde. Es ist für die thermonuklearen Reaktionen in der Sonne verantwortlich, die Masse haben. Vor der Entdeckung des Higgs-Teilchen wussten wir nicht, wie dieser Unterschied möglich war.“
Das Higgs-Teilchen beweist, dass Teilchen ihre Masse erst erhalten, wenn sie mit dem Higgs-Feld interagieren, welches im ganzen Universum allgegenwärtig ist. Je mehr Interaktion zwischen den Elementarteilchen und dem Feld stattfindet, desto mehr Masse haben die Teilchen. Das zeigt sich anhand der verschiedenen Teilchenarten: Elektronen interagieren kaum mit dem Higgs-Feld, haben also auch wenig Masse. Quarks, aus denen Protonen bestehen, interagieren schon etwas stärker, weshalb sie auch mehr Masse besitzen. Das W- und das Z-Boson interagieren hingegen heftig mit dem Feld, was ihre vergleichsweise große Masse erklärt. Und die schon erwähnten Photonen? Sie „fliegen“ quasi über das Feld hinweg – sie besitzen gar keine Masse.
Warum das wichtig ist? Gianotti: „Wenn die Bestandteile von Atomen – Elektronen und Quarks – keine Masse hätten, würden sie (die Atome; Anm.) nicht zusammenhalten und somit nicht existieren können. Da Atome aber die Grundlage der Materie sind – also auch der Materie, aus der wir gemacht sind – würde das Universum völlig anders aussehen, wenn sie nicht existieren würden.“ Verständlich also, dass die Suche nach dem Higgs-Teilchen zahlreiche Wissenschaftler beschäftigte – und zwar ziemlich lange. Bereits 1964 wurde das Higgs-Teilchen theoretisch vorausgesagt, und zwar nicht nur von seinem Namensgeber Peter Higgs, sondern auch anderen Wissenschaftern wie François Englert.
Die Suche gestaltete sich so schwierig, das Leon Lederman, ein Nobelpreisträger und Physiker, sein Buch „The Goddamn Particle: If the Universe is the Answer, What is the Question?“ betiteln wollte. Sein Verleger änderte den Titel kurzerhand, um Kontroversen zu vermeiden, auf „The God Particle“. Doch die wissenschaftliche Community stieß sich daran: Neben der gewünschten Trennung von Religion und Wissenschaft übertreibt der Titel auch die Bedeutung des Higgs-Teilchen nochmals. Essenziell für die Entdeckung des Bosons war der größte und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt, der Large Hadron Collider (LHC). Darin werden, vereinfacht gesagt, Teilchen in Strahlen („Beams“) auf extrem hohe Geschwindigkeiten beschleunigt (bis zu Lichtgeschwindigkeit), um sie dann kollidieren zu lassen. Das Ganze geschieht in einem Vakuum und bei unfassbar niedrigen Temperaturen. Aus diesen Kollisionen entstehen unzählige Daten, die die Forscher wiederum zur Beantwortung grundlegender Fragen auswerten. 2012 glückte das, als das Higgs-Teilchen nachgewiesen, also erstmals entdeckt, wurde. Am in der Schweiz beheimateten CERN – unter Federführung von Fabiola Gianotti. Als Sprecherin des Projekts „ATLAS“, eines enormen Teilchendetektors, hatte Gianotti einen großen Anteil an dem Erfolg. Doch der Weg war ein langer. Ursprünglich waren nämlich die Amerikaner einen Schritt früher dran: In den USA wurde ab 1983 der „Superconducting Super Collider“ (SSC) in Planung gegeben, 1991 mit dem Bau des Teilchenbeschleunigers begonnen. Doch mitten im Bau – genauer gesagt, nachdem bereits zwei Milliarden US-$ für rund 22,5 Kilometer Tunnel ausgegeben worden waren – entbrannte eine hitzige politische Debatte rund um den SSC. Die Kostenprognosen waren von 4,4 Milliarden US-$ auf zwölf Milliarden US-$ explodiert. Und da sich bei Grundlagenforschung stets nur schwer voraussagen lässt, welchen wirtschaftlichen Nutzen oder welche finanzielle Rendite die riesigen, kostenintensive Projekte letztendlich haben werden, kam das Projekt heftig unter Beschuss. Das Ergebnis: Der US-Kongress stampfte den SSC ein – ein schwerer Schlag für die wissenschaftliche Community in den USA.
Umso besser jedoch für CERN. Denn nun ließ sich in der Schweiz auf dem damals bestehenden Teilchenbeschleuniger „Large Electron–Positron Collider“ aufbauen und der größte Teilchenbeschleuniger der Welt errichten. Doch auch hier war der Weg ein holpriger. Denn die größte Maschine, das komplexeste Experimentwerkzeug der Welt baut man nicht von heute auf morgen. Zehn Jahre wurde am LHC gearbeitet – von 1998 bis 2008 –, das Projekt hatte ein Budget von 7,5 Milliarden €. Zum Vergleich: CERNs Gesamtbudget beträgt rund 1,1 Milliarden € (2016). Hinzu kamen Zwischenfälle, wovon der schwerwiegendste bei der „Initialzündung“ 2008 entstand: Eine Schweißnaht hielt der Belastung der Lichtstrahlen nicht stand. Ein Heliumtank explodierte und zerstörte zahlreiche der für den Beschleuniger essenziellen und wertvollen Magnete. Die Reparaturarbeiten dauerten knapp vierzehn Monate. Der erste „Lauf“ (Run 1) dauerte von 2010 bis 2013. Innerhalb dieser Zeit wurde das Higgs-Teilchen endlich nachgewiesen. Wer nun aber denkt, dass wir damit am Ende der Forschung angelangt sind, irrt sich. Upgrades am Large Hadron Collider sollen die Energieleistung und die Luminosität (Anzahl der Teilchenbegegnungen pro Zeit und Fläche; Anm.) erhöhen, um Erkenntnisse zu gewinnen, die über das Standardmodell hinausgehen. Denn das Standardmodell lässt die Schwerkraft außen vor, die von der Relativitätstheorie gut beschrieben wird. Das Problem: Es gibt keine Verbindung zwischen den beiden Theorien, um ein gemeinsames Verständnis über das Universum zu bekommen. Was aber noch relevanter ist: das Standardmodell erklärt die schon erwähnte dunkle Materie nicht.
Gianotti: „Es gibt Beweise, dass es Physik jenseits des Standardmodells geben muss. Das Standardmodell ist jene Theorie, die Elementarteilchen beschreibt. Sie ist sehr erfolgreich, denn alle Teilchen, die es voraussagt – auch das Higgs-Teilchen – wurden entdeckt. Doch das Standardmodell ist nicht in der Lage, das gesamte Universum zu erklären. Wir wissen, dass 95 Prozent des Universums aus Formen von Materie und Energie bestehen, die wir nicht kennen. Sie werden dunkle Materie und dunkle Energie genannt.“ Die wissenschaftliche Community äußerte Enttäuschung, als das Upgrade keine Erklärungen lieferte, die über das „sichtbare“ Universum hinausgehen. Doch die Generaldirektorin bleibt optimistisch: „Natürlich hätten wir neben dem Higgs-Teilchen gerne noch andere neue Teilchen entdeckt, vorerst war das aber nicht der Fall. Doch die Experimente haben erst einige Prozent – rund drei Prozent – ihrer Gesamtmenge an Daten gesammelt, die der LHC bis zum Ende seiner Laufzeit 2035 sammeln wird.“
Ob der nächste größte Teilchenbeschleuniger auch in der Schweiz betrieben wird, ist jedoch noch unklar. Denn nicht die USA, sondern China zeigt seit Kurzem reges Interesse daran, den nächsten, größten Teilchenbeschleuniger zu bauen – mit Sicherheit auch wegen des internationalen Prestiges, das mit wissenschaftlichen Projekten dieser Größe einhergeht. Rund 55 Kilometer Umfang soll der chinesische Monsterbau haben. Konkurrenten sind Japan mit seinem International Linear Collider – und eben CERN, mit dem Future Circular Collider. Und obwohl die ursprünglichen Pläne, wonach der Bau bereits 2021 beginnen hätte sollen, von der Regierung durchkreuzt wurden – Peking sprach dem Projekt in seinem Fünfjahresplan 2016 keine Finanzierung zu –, scheint sowohl die finanzielle als auch politische Unterstützung in China am größten zu sein.
Doch Europa gibt sich nicht kampflos geschlagen. So soll ein Beschleuniger gebaut werden, der die dreifache Größe des LHC hat. Fabiola Gianotti gibt sich jedoch diplomatisch: „Es ist gut und gesund, Konkurrenz zu haben. Es ist ein positives Zeichen, dass verschiedene Regionen der Erde ein Interesse daran zeigen, einen Hochenergieteilchenbeschleuniger zu beherbergen. Letztendlich kann sich die Welt auch zwei Beschleuniger leisten – wenn sie komplementär sind. Zweimal die gleiche Maschine macht keinen Sinn. Doch wenn die beiden Collider unterschiedliche Eigenschaften – unterschiedliche Teilchen, die kollidieren oder unterschiedliche Energien – besitzen: Das könnte angestrebt werden, wenn die Ziele für die Physik überzeugend sind.“
Überhaupt bereiten die Ambitionen Gianotti weniger Kopfzerbrechen als ein anderes Problem: Der Bedarf nach Rechenleistung. Die Speicherung, Verteilung und Analyse der massiven Datenmengen, die bei physikalischen Experimenten dieser Größenordnung entstehen, waren immer schon eine große Herausforderung für die Forscher. An den LHC sind beispielsweise rund 100.000 Computer angeschlossen. Und auch das World Wide Web, einer der Vorläufer des heutigen Internets, entstand am CERN, um den Austausch von wissenschaftlichen Daten zu organisieren. Die Generaldirektorin ist sich dessen durchaus bewusst: „Wie man die Computing-Ressourcen steigern kann, um die zukünftigen Herausfordeurngen für den LHC und andere wissenschaftliche Projekte zu lösen, ist eine aktuelle Herausforderung. Wir arbeiten mit Hochdruck daran. Gemeinsam mit anderen Disziplinen, von der Astroteilchenphysik hin zur Molekularbiologie – und mit der Europäischen Kommission – wollen wir neue Modelle für die Speicherung, Verteilung und Analyse von wissenschaftlichen Daten entwickeln. Ein wichtiges Prinzip ist, dass die Daten für jeden offen und zugänglich sein müssen.“ Quantencomputer könnten dafür eine Lösung sein.
95 Prozent des Universums unbekannt, ein Wettlauf mit China und eine exponentielle Steigerung der Rechenleistung: Fabiola Gianotti wird auch in den nächsten Jahren genug zu tun haben. Doch Gianotti sieht auch das als Motivation: „Ich will, gemeinsam mit der Community, die Zukunft von CERN gestalten.“ Mal sehen, ob es ihr gelingt.
Dieser Artikel ist in unserer Novemberausgabe 2017 "Lernen Leben Leistung " erschienen.