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Die erwartete digitale Revolution im physischen Einzelhandel blieb bisher aus – bisher, denn Advertima ändert das gerade im Eiltempo. Mithilfe künstlicher Intelligenz erfasst und interpretiert das Schweizer Start-up das Verhalten von Menschen in physischen Räumen in Echtzeit. Das bringt dem Unternehmen nicht nur Millionenumsätze, sondern auch die Chance, einen neuen Standard im Handel zu etablieren.
Die Idee entstand im Gespräch zwischen Iman Nahvi und den Geschäftsführern von Migros Aare, einer Tochter der größten Schweizer Supermarktkette. Wenige Jahre später ist das damalige Hirngespinst, der „smarte Supermarkt“, schon Realität. Das Konzept klingt einfach: Ein Hardwaresystem erfasst den Raum in der jeweiligen Filiale in dreidimensionaler Form. Das Verhalten der Kunden in diesem Raum wird dann beobachtet und mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) interpretiert. Das Ergebnis: Den Kunden wird für sie maßgeschneiderte Werbung auf digitalen Anzeigeflächen gezeigt – in Echtzeit. Die Unternehmen verstehen damit ihre Kunden besser und generieren mehr Umsätze in den Filialen. „Wir wollen die physische mit der digitalen Welt verschmelzen“, erzählt Nahvi, Mitgründer und CEO von Advertima.
Retailer sollen die Möglichkeit bekommen, ihre Geschäftsflächen smart zu machen, ihre Warenbestände an die Kunden anzupassen und zudem automatische Kassensysteme einzubauen. Dass diese Versprechen unternehmerisches Potenzial haben, wurde früh klar: Bereits ein Jahr nach der Gründung wurde Advertima 2017 vom Züricher Worldwebforum als „Coolstes Start-up der Schweiz“ ausgezeichnet. Heute zählt Advertima mit seinem B2B-Modell – die Kunden sind Supermarktketten wie auch andere Handelsunternehmen – 14 Großkunden in acht Ländern. Das Start-up hat 75 Mitarbeiter und erzielte 2020 nach eigenen Angaben einen hohen siebenstelligen Umsatz. Der Weg, den Nahvi mit Advertima hinter sich hat, war jedoch alles andere als einfach – und wird herausfordernd bleiben, denn der Gründer hat große Ziele: „Unser Ziel ist es, jeden Raum, in dem sich Menschen aufhalten und bewegen, smart zu machen. Dabei nutzen wir KI, um den Räumen beizubringen, das menschliche Verhalten visuell zu interpretieren. Das ist superkomplex“, sagt Nahvi.
Iman Nahvi war neun Jahre alt, als er mit seiner Familie aus dem Iran in die Schweiz kam. Er lernte schnell Deutsch und besuchte das Gymnasium. Nach dem Schulabschluss studierte er Banking and Finance an der Universität Zürich und heuerte später bei der Migros Bank an, die zum Migros-Konzern gehört. Doch die Karriere im Konzern füllte den damals 24-Jährigen nicht völlig aus: „Je tiefer ich in die Bankenwelt eintauchte, desto mehr merkte ich, dass das nichts für mich ist. Tief im Inneren wollte ich eigentlich ein Unternehmen gründen“, schildert Nahvi. Er absolvierte schließlich einen Master im Fach Entrepreneurship an der Universität St. Gallen; 2001 gründete er mit seinem Vater ein Taxiunternehmen und half diesem, von zwei auf sieben Fahrzeuge zu wachsen. „Das Unternehmen gehört mir bis heute zur Hälfte“, sagt Nahvi. Parallel startete er ein zweites Familienunternehmen: Mit seinem Bruder Amir gründete er die Webagentur Digital Delight, die vom Design bis zur Programmierung von Webseiten alles anbot.
Beide Unternehmen liefen gut, doch der Wunsch, Impact zu haben, ließ Nahvi nicht los. 2014 engagierte er sich als Coach bei Startfeld, einem Netzwerk für Schweizer Start-ups. Er merkte, dass ihn nicht die klassischen Betriebe reizten, sondern eine Start-up-Gründung. 2015 kam es dann zur bereits erwähnten Begegnung mit Beat Zahnd und Anton Gäumann, die als Geschäftsführer die Geschicke der größten Migros-Genossenschaft der Schweiz, der Migros Aare, leiteten. Nahvi: „Die beiden fanden Gefallen an unserer Technologie und verstanden unsere Vision. So kamen sie mit der Idee auf, unsere Technologie in ihre Shoppingcenter zu bringen, um intelligente Werbung auszuspielen.“ Zahnd und Gäumann waren so überzeugt von ihrer Idee, dass sie Nahvi sogar die Finanzierung des Projekts in Aussicht stellten, sodass Advertima ohne Fremdfinanzierung gegründet und das Team aufgebaut werden konnte. „Wir haben alles andere stehen und liegen gelassen und uns nur noch auf Advertima konzentriert“, erzählt Nahvi. Vollmundig verkündete der Unternehmer, in nur sechs Monaten die passende Hardware installieren zu können. „Dabei hatten wir zu diesem Zeitpunkt nur einen Prototyp und kein echtes Produkt“, so Nahvi heute.
Als erster Schritt wurde ein Tablet im Taxi seines Vaters installiert, das Alter und Geschlecht der Passagiere erkannte und passende Werbung abspielte. Nahvi dachte sich: Wie schwierig kann die Installation in einem Supermarkt sein, wenn sie in einem Taxi passabel funktioniert? Die Realität sah anders aus. Advertima-CTO Simon Ebner, der Technische Kybernetik und Artificial Intelligence (AI) studierte, war beim ersten Treffen schockiert. Eine Person im Taxi zu analysieren, so Ebner, sei technisch wesentlich einfacher: Die Kameras im Supermarkt sind von den jeweiligen Menschen weit entfernt, zudem bewegen sich diese – im Gegensatz zu Passagieren im Auto – ständig. „Es gab damals kein Unternehmen weltweit, dass das technisch umsetzen konnte“, so Nahvi. Dabei war die Installation der Kameras, die den Raum vollständig dreidimensional erfassen, noch die einfachste Übung. Die Vielschichtigkeit beginnt erst mit dem Erfassen, Auswerten und Interpretieren der Daten. Mittels KI muss das alles innerhalb von Millisekunden passieren, um dem Kunden die für ihn maßgeschneiderte Werbung in Echtzeit am Bildschirm anzuzeigen.
Iman Nahvi
...kam mit neun Jahren aus dem Iran in die Schweiz. Er studierte Banking and Finance sowie Entrepreneurship. 2016 gründete er gemeinsam mit drei weiteren Partnern Advertima.
Während Konkurrenten wie Amazon teilweise oder größtenteils auf Cloud Computing setzen – die Daten also erst in einer Cloud verarbeiten, bevor sie wieder an den Empfänger zurückgeschickt werden –, setzt Advertima auf Edge Computing in Echtzeit. Dabei werden die Daten von zentralen an äußere Rechenzentren verlagert. Datenströme werden an Ort und Stelle in Echtzeit verarbeitet, was Advertima mehr Anwendungsfälle bietet. Die KI so zu programmieren, dass sie im Umgang mit sensiblen Personendaten alle Datenschutzstandards in der Schweiz und Europa einhält, war kein Leichtes. Das führte dazu, dass Advertima die erfassten Personen im Supermarkt im Nachhinein nicht identifiziert. Die KI erfasst Wissen, das sie nicht haben darf, nämlich gar nicht erst. Nahvi: „Durch Edge Computing können wir die mittels Sensorik erfassten Daten anonymisiert und in Echtzeit verarbeiten, ohne Personendaten speichern oder gar in eine Cloud schicken zu müssen. Wir können dadurch in Millisekunden auf die Interaktionen der Kunden reagieren. Das ist mittlerweile einer unserer USPs geworden.“ Trotz Alleinstellungsmerkmal ist Advertima mit dem Ansatz nicht alleine am Markt: Zur Konkurrenz zählen etwa das US-Unternehmen Standard Cognition und das israelische Start-up Trigo. Der Erfolg gibt Nahvi jedenfalls recht: 23 Millionen CHF sammelte Advertima bisher von Risikokapitalgebern ein, darunter MA Ventures – der Venturarm von Migros – und die Schweizer Immobiliengruppe Fortimo. Ende 2021 steht bereits die nächste größere Finanzierungsrunde an, 2022 könnte noch eine folgen. Migros Aare und die österreichische Supermarktkette Spar verwenden Advertimas Technik in ihren Supermärkten; laut internen Studien haben Kunden durch die maßgeschneiderte Werbung um 10 % mehr eingekauft als sonst. 2020 schuf Advertima ein für alle Geschäftsräume und Filialen standardisiertes Produkt, das breit ausgerollt werden soll – Kunden installieren die Hardware, die Software wird über Lizenzverträge bereitgestellt.
Rund um Advertima baut sich Nahvi aber ein ganzes Ökosystem: 2020 gründete er mit Benjamin Wey das Unternehmen Adtrac. Es verbindet Händler mit Werbern, die wiederum auf den Screens in den Filialen Werbung buchen. Werbehäuser, die sich auf Out-of-Home fokussieren, werden durch Adtrac obsolet. Doch auch mit Advertima bleibt genug zu tun: Neben Projekten in der Schweiz, Österreich und Deutschland ist das Unternehmen auch in Großbritannien, Schweden, Tschechien, Zypern und Thailand aktiv. Der nächste Schritt könnte Nahvi in die USA führen, konkret geplant sei jedoch noch nichts. Er will aber nicht nur ein international agierendes und profitables Unternehmen aufbauen, sondern auch den Markt verändern: „Wir wollen physische und digitale Räume verschmelzen und so die Art, wie wir leben und arbeiten, revolutionieren. Ich denke, dass wir mit unseren hohen Standards in der Technik und im Datenschutz überall auf der Welt wettbewerbsfähig sind.“
Text: Muamer Bećirović
Fotos: beigestellt
Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 3–21 zum Thema „Künstliche Intelligenz“.