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Chelsea Manning ist zurück, und hackt wieder - nur dieses Mal für ein Blockchain-basiertes Datenschutz-Startup. Von ihrer Gefängniszelle aus half sie einem Kryptographen des MIT, und formiert die Zukunft der Datenschutzsoftwares.
Das lange blonde Haar einer jungen Frau weht in der kühlen Sommerbrise, als diese in die Starr Bar in Brooklyn einbiegt, ein schummriges, alternatives Lokal im Herzen der Hipster-Enklave Bushwick. Ihr Name: Chelsea Manning. Jene 33-Jährige, die dafür bekannt ist, dass sie 2010 hunderttausende streng geheime Regierungsdokumente an Julian Assange weitergegeben hat.
Sie trägt einen schwarzen Anzug und eine silberne Omega-Uhr und geht zu einem kleinen Holztisch, der von einem Sonnenstrahl beleuchtet wird. Sie bestellt eine Cola. Anders als man etwa erwarten könnte, scheint sich die zur Trans-Ikone gewordene Whistleblowerin (Anm.: Manning outete sich als Transgender in 2010) in der hippen Umgebung nicht wohl zu fühlen. Ein Fan kommt ehrfürchtig auf sie zu und heißt sie willkommen. "Das ist nun mein Leben", sagt sie, nachdem dieser gegangen ist, bedankt sich für die guten Wünsche und beklagt zugleich den Verlust ihrer Privatsphäre. "Ich bin nicht nur berühmt - ich stehe in den Geschichtsbüchern.”
Während sie die längste Strafe verbüßte, die jemals an einen Whistleblower verhängt wurde, da sie via Tor 700.000 Regierungsdokumente anonym weitergegeben hatte, nutzte sie die Zeit ihrer Inhaftierung. Und zwar um einen besseren Weg zu finden, die gelegten Spuren anderer Online-Nutzer “zu verwischen”. Das gemeinnützige Netzwerk Tor zur Anonymisierung von Verbindungsdaten, mit dem sie selbst Dateien an Wikileaks schickte, ist mittlerweile nicht vor neugierigen Blicken von Geheimdiensten und Strafverfolgungsbehörden zu schützen. Der Schlüssel für ihren Entwurf einer neuen Technologie: die Blockchain. Mittels der Technologie hinter Bitcoin will Manning ein ähnliches Netzwerk aufzubauen - ohne staatliche Finanzierung.
Bei der Behebung der bekannten Schwachstellen dieser Netze wie Tor geht es um mehr als nur um den Schutz künftiger Informanten und Krimineller. Private Netze sind auch für große Unternehmen, die Geschäftsgeheimnisse schützen wollen, lebenswichtig. Die Branche der privaten Netzwerke, einschließlich der virtuellen privaten Netzwerke (kurz VPNs), die wohl vielen vertraut sind, erwirtschaftete 2019 einen Umsatz von 29 Milliarden US-$ und wird sich bis 2027 voraussichtlich auf 75 Milliarden US-$ verdreifachen. Manning ist der Meinung, dass gemeinnützige Organisationen wie Tor, die auf die Finanzierung durch die US-Regierung und ein weltweites Netzwerk von Freiwilligen angewiesen sind, um ihre anonymen Server zu betreiben, nicht widerstandsfähig genug sind. "Non-Profit-Organisationen sind nicht nachhaltig", sagt Manning beiläufig gegenüber Forbes, während sie an ihrer Cola nippt. "Sie brauchen ständige Unterstützung durch große Kapitalfonds, oder durch große Regierungen".
Im Januar 2017 hatte sie bereits sieben Jahre ihrer 35-jährigen Haftstrafe in Fort Leavenworth verbüßt. Als Präsident Barack Obama sich darauf vorbereitete, aus dem Amt zu scheiden, gewährte er Manning noch eine bedingungslose Umwandlung ihrer Strafe. Kaum in Freiheit, wurde sie von Harry Halpin kontaktiert, einem 41-jährigen Mathematiker, der von 2013 bis 2016 für den Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, am MIT arbeitete und ihm half, die Verwendung von Kryptografie in Webbrowsern zu standardisieren.
Halpin bat Manning, nach Sicherheitsschwachstellen in seinem neuen Datenschutzprojekt zu suchen. Aus dem ging schließlich Nym hervor, ein Krypto-Startup, das seinen Sitz im schweizerischen Neuchâtel hat. Halpin gründete Nym im Jahr 2018, um Daten anonym über das Internet zu versenden und dabei die gleiche Blockchain-Technologie zu verwenden, die auch dem Bitcoin zugrunde liegt. Bis heute hat Nym rund 8,5 Millionen US-$ von einer Gruppe von Krypto-Investoren wie Binance, Polychain Capital und NGC Ventures erhalten. Das Unternehmen beschäftigt derzeit zehn Mitarbeiter und nutzte die jüngste Kapitalrunde, um seine Teamgröße zu verdoppeln.
Halpin war von Mannings technischem Wissen beeindruckt. Fürh ihn ist Manning nicht nur eine berühmte Informantin, die zufällig Zugang zu geheimen Dokumenten fand, sondern brilliert auch durch ihr tiefes technologisches Verständnis dafür wie Regierungen und Großunternehmen versuchen, private Nachrichten auszuspionieren.
"Wir hatten nur sehr selten Zugang zu Leuten, die wirklich im Inneren der Maschine waren, die erklären können, was ihrer Meinung nach die tatsächlichen Fähigkeiten dieser Art von Gegnern sind und welche Arten von Angriffen wahrscheinlicher sind", sagt Halpin. "Manning wird uns sicherlich helfen, Lücken in unserem Design zu beheben."
Die in Oklahoma geborene Manning kam in der High School zum ersten Mal mit der Thematik in Berührung. Sie und ihre walisische Mutter Susan waren 2001, als Manning 13 Jahre alt war, nach Haverfordwest, Wales, gezogen. Im Jahr 2003 lernte sie in einem Computerkurs, wie man die Sperren umgeht, die die Schule eingerichtet hatte, um Schüler am Herunterladen bestimmter Dateien zu hindern - und wurde beim Raubkopieren von Musik der Band Linkin Park und Jay-Z erwischt. Der Schuldirektor hatte das Ganze aus der Ferne beobachtet. "Das war der erste Moment, in dem mir klar wurde: 'Oh, das liegt mir.”
2008 brachte Mannings Interesse an der Analyse des Netzwerkverkehrs sie zum ersten Mal zu The Onion Router (Tor), einem Netzwerk von Computern, welches hilft, die Identität von Benutzern zu verbergen. Die gemeinnützige Organisation nutzte das sogenannte "Onion Routing", bei dem Nachrichten unter Verschlüsselungsschichten versteckt werden. Jede Nachricht kann nur von einem anderen Mitglied des Netzwerks entschlüsselt werden, das die Nachricht an den nächsten Router weiterleitet, um sicherzustellen, dass nur der Absender und der Empfänger die Nachricht entschlüsseln können. Ironischerweise wurde das Netzwerk, das umgangssprachlich als "Dark Web" bekannt ist und das Manning nutzte, um geheime Dokumente an WikiLeaks zu senden, von der US-Regierung selbst entwickelt, um Spione und andere online tätige Regierungsagenten zu schützen.
Etwa zur gleichen Zeit, als Manning Tor entdeckte, trat sie der US-Armee bei. Als junge Geheimdienstanalystin war es ihre Aufgabe, geheime Datenbanken auf der Suche nach taktischen Mustern zu durchforsten. Nachdem sie von dem, was sie über die Kämpfe im Irak und in Afghanistan erfuhr, desillusioniert war, schloss sie ihren Computer an, setzte ihre Kopfhörer auf und legte eine CD mit Musik von einer anderen ihrer Lieblingsmusikerinnen, Lady Gaga, ein. Anstatt das Album anzuhören, löschte sie es jedoch und lud herunter, was schließlich als das größte einzelne Leck in der Geschichte der USA bekannt werden sollte von sensiblen diplomatischen Kabeln bis hin zu Videos, die zeigen, wie US-Soldaten Zivilisten töteten, darunter zwei Reuters-Journalisten.
Mithilfe von zwei linierten Zetteln aus dem Gefängnisladen zeichnete Manning einen Plan für Yan Zhu, Chief Security Officer von Brave. Diesen nannte sie nur “Tor Plus”. Anstatt die Daten nur zu verschlüsseln, schlug sie vor, das Informationsäquivalent eines Rauschens in die Netzwerkkommunikation einfließen zu lassen. Am Rande des Dokuments postulierte sie sogar, dass Blockchain, die durch Bitcoin populär gewordene Technologie, eine Rolle spielen könnte. In den Notizen darunter schrieb sie die Worte: "Neue Hoffnung".
"Mit der zunehmenden Verbreitung des Dark Web, Tor und VPN und all diesen anderen Diensten haben sich die Werkzeuge zur Analyse des Datenverkehrs dramatisch verbessert", sagt Manning im Interview. "Es gab eine Art kalten Krieg zwischen den Entwicklern des Tor-Projekts und einer Reihe von staatlichen Akteuren und großen Internetanbietern." Im Jahr 2014 lernte das FBI, wie man Tor-Daten entschlüsselt. Im Jahr 2020 kontrollierte ein einzelner Nutzer Berichten zufolge genug Tor-Knoten, um Bitcoin-Transaktionen zu stehlen, die über das Netzwerk initiiert wurden.
Im Februar diesen Jahres wurde sie von Halpin eines Nachts mit einer verschlüsselten Textnachricht geweckt, in der er sie aufforderte, sich ein Papier anzusehen, in dem seine Technologie Nym beschrieben wurde. In dem Papier, das völlig unabhängig von Mannings Skizze im Gefängnis entwickelt wurde, wird ein fast identisches System beschrieben, das echte Nachrichten mit weißem Rauschen tarnt. Als eine Mischung aus dem dezentralen Tor, das auf die Unterstützung von Spendern angewiesen ist, und einem firmeneigenen VPN, bei dem man einem Unternehmen vertrauen muss, versprach dieses Netzwerk das Beste aus beiden Welten liefern zu können. Als gewinnorientiertes Unternehmen organisiert, würde Nym die Personen und Organisationen, die das Netzwerk betreiben, in Kryptowährung bezahlen. "Am nächsten Tag habe ich meinen Terminkalender komplett geleert", sagt sie. Im Juli hatte sie einen Vertrag mit Nym unterzeichnet, um eine Sicherheitsprüfung durchzuführen, die schließlich einen genaueren Blick auf den Code, die Mathematik und die Verteidigungsszenarien gegen Regierungsangriffe beinhalten könnte.
Im Gegensatz zu Tor, das den Zwiebel-Router verwendet, um die über ein gemeinsames Netzwerk gesendeten Daten zu verschleiern, verwendet Nym ein sogenanntes Mix-Netz, das nicht nur die Daten mischt, sondern auch die Methoden ändert, mit denen die Daten gemischt werden, so dass es fast unmöglich ist, sie wieder richtig zusammenzusetzen.
"Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Kartenspiel", sagt Manning. "Man nimmt im Grunde genommen ein Kartenspiel sowie einen ganzen Haufen weiterer Kartenspiele, die alle unterschiedlich sind und mischt diese."
Wie sich herausstellt, ist außerdem nicht jede Regierung damit einverstanden, ein weitgehend von der US-Regierung finanziertes Datenschutznetz zu nutzen. Trotz des Engagements von Halpin, ein Netzwerk aufzubauen, dessen Betrieb nicht von der Regierung finanziert werden muss, hat Nym im Juli einen Zuschuss von 200.000 € von der Europäischen Kommission angenommen, um es auf Schiene zu bringen.
"Das Problem ist, dass es nie ein sinnvolles Finanzierungsmodell für den Aufbau dieser Technologie gab", sagt Halpin. "Es gab keinerlei Interesse von Seiten der Nutzer, Risikokapitalgeber oder Großunternehmen. Jetzt erleben wir eine einmalige Konstellation, bei der Risikokapitalgeber ihr Interesse am Datenschutz bekunden, das gleiche gilt für private Nutzer und Unternehmen. Und dieses wurde durch Kryptowährungen geweckt. Das war vor fünf Jahren noch nicht der Fall."
Ironischerweise hat dieselbe Kryptowährungskultur, die laut Halpin so viel Aufmerksamkeit von Investoren auf sich gezogen hat, Manning davon abgehalten, sich früher zu engagieren. Obwohl sie sich selbst zu den frühesten Bitcoin-Anhängern zählt und behauptet, die Kryptowährung kurz nach der Aktivierung durch Satoshi Nakomoto im Jahr 2009 gemined zu haben, hat sie ihre Bitcoins im letzten Jahr aus entschieden nicht-monetären Gründen verkauft.
"Ich bin kein Fan der Kultur rund um Blockchain und Kryptowährungen", sagt sie. "Es gibt eine Menge großer Persönlichkeiten, die sehr abgehoben sind, wie Elon Musk und so weiter", sagt sie. "Es wirkt auf mich, als wäre ihre Devise einzig 'Oh, wir wollen mit Blockchain reich werden'. Neureich, eine New-Yuppies-Bro-Kultur. Mancherorts ist es ein bisschen besser geworden. Doch das ganze Spiel erinnert mich an Gordon Gekko und den Film Wallstreet - nur ist da jetzt die Blockchain ."
Text: Michael del Castillo
Übersetzung: Chloé Lau
Foto: Jamel Toppin