Predictive Policing

Verbrechen voraussagen, noch bevor sie eintreten? Das kalifornische Start-up PredPol setzt dies bereits um.

Eine Stadt mitten im US-Bundesstaat New Jersey. Es ist früher Abend, ein Polizeiwagen befindet sich in einem Viertel mit hoher Kriminalitätsrate auf Streife. Zwei Beamte steigen aus, kommen mit einem Passanten ins Gespräch; sie wollen wissen, wie die derzeitige Lage ist. Als sie zum Streifenwagen zurückgehen, rast plötzlich ein Auto vorbei; eine Person schießt auf den Passanten. Die Beamten reagieren sofort, bringen den Angeschossenen ins Krankenhaus – gleichzeitig wird der Tatverdächtige festgenommen. Die Rechnung hierbei ist einfach: Wären die Polizisten nicht vorausschauend auf Streife gewesen, hätten sie erstens das Opfer nicht retten, zweitens den Täter nicht festnehmen können. Mitverantwortlich dafür? Ein auf Machine Learning und künstlicher Intelligenz (KI) basierender Algorithmus. „Seit diesem Fall waren die Beamten endgültig von der Predictive-Policing-Software von PredPol überzeugt“, erinnert sich Brian MacDonald, CEO des 2012 gegründeten kalifornischen Start-ups PredPol.

Predictive Policing („vorausschauende Polizeiarbeit“) beschreibt das Phänomen, mittels Softwaresyste­m­en zukünftige Verbrechen zu prognostizieren – und zwar Deliktart, Tatort und Tatzeitraum. Straftaten sollen somit verhindert werden, bevor sie begangen werden. Polizeibehörden quer durch die USA und Zentraleuropa setzen mittlerweile auf diese Art der Verbrechens­bekämpfung. Die Kriminalitätsraten sind nach einigen Berichten tatsächlich gesunken. So vermeldete der bayrische Innenminister Joachim Herrmann eine 42-prozentige Reduzierung von Oktober 2014 bis März 2015 in München. Zu welchen Anteilen die Maschine dazu beigetragen hat oder ob dies auf andere Gründe zurückzuführen ist, scheint aber mehr als unklar. Ebenso wird Predictive Policing von einigen Experten (etwa John Hollywood von der amerikanischen Non-Profit-Organisation RAND Corporation) und Datenschützern kritisch beäugt: Darf man sich bei einem derart sensiblen Thema in die Hände eines Algorithmus begeben? Was passiert, wenn falsche Voraussagen gemacht werden? Werden dabei personen­bezogene Daten verwendet?

Fakt ist jedenfalls, dass Predictive-Policing-Lösungen weltweit vermehrt eingesetzt werden. Was die Reichweite betrifft, ist das Start-up PredPol der größte Anbieter. Das Unternehmen entstand aus einem Forschungsprojekt zwischen der University of California, Los Angeles (UCLA) und der Polizei von Los Angeles (LAPD), das 2007 startete. Das Team rund um den auf Verbrechensmuster spezialisierten Anthropologen Jeffrey Brantingham (UCLA) und den Computerwissenschafter George Mohler wühlte sich durch Haufen an kriminologischen Datensätzen, um daraus Verhaltensmuster zu erkennen und auf ein mathematisches Fundament zu stellen. Nach einigen Dezernaten in Los Angeles signalisierte jenes in Santa Cruz (rund 558 Kilometer von Los Angeles entfernt) konkretes Inter­esse daran, dieses zu testen. Ein organisatorischer Rahmen musste her – die Geburtsstunde von PredPol, 2012. Brantingham war ebenso dabei wie Mohler, die Anfangsfinanzierung stammte von diversen großen Business Angels. Seitdem finanziert sich das Unternehmen aus den eigenen Erlösen – wie hoch diese sind, will CEO MacDonald nicht verraten. „Wir bekommen kein Venture Capital und wachsen organisch. PredPol hat vor allem eine klare Mission: Gesellschaften durch die Reduzierung von Kriminalität sicherer zu machen.“ Abgedroschen klingt der Satz bei MacDonald nicht, vielmehr scherzt er in diesem Zusammenhang über den im Silicon Valley oftmals strapazierten Spruch: „We’re making the world a better place.“

Die Basis des Algorithmus bilden zwei wissenschaftlich fundierte kriminologische Theorien – sie setzen am Täterverhalten an. ­„Repeat Victimisation“ besagt, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass ein Krimineller, der in einer Nacht in einen Haushalt eingebrochen ist, es zeitnah wieder dort probiert. Denn dieser „Erfolg“ habe dem Täter bewiesen, dass es funktioniere, und motiviere ihn zu einem nächsten Versuch. „Near Repeat Victimisation“ beschreibt, dass ein Folgedelikt in der direkten Nachbarschaft 48 Stunden nach der ersten Straftat am wahrscheinlichsten ist. Ebenso miteinbezogen wird die Umgebung wie Parkhäuser oder Shoppingcenter, innerhalb derer die Delikte stattfinden. „Für jedes Polizeidezernat tragen wir drei bis fünf Jahre alte Daten zusammen. Die Software arbeitet diese automatisch auf signifikante ­Verbrechensorte und -zeiträume durch“, erklärt MacDonald. Die historischen Daten werden mit jenen aus der Echtzeit verknüpft und ergeben so das (Daten-)Bild für die Zukunft. Die Beamten bekommen auf einem Bildschirm Risikobereiche in Form von roten Boxen präsentiert; in einem Umkreis von 150 mal 150 Metern und einem Zeitfenster bis zu zwölf Stunden. Je nachdem, bei welchem Kunden von PredPol die Software eingesetzt wird, werden verschiedene Delikte vorausgesagt: Einbruchs- und Kfz-Diebstahl, Raub, Überfälle, Waffengewalt.

Besonders wichtig – und im Gegensatz zu verwandten Instrumenten wie der Chicago Heat List, wo 400 Personen gelistet wurden, die zukünftig am wahrscheinlichsten in eine Straftat verwickelt sein werden: Opfer und Täter werden nicht ausgespuckt. „Die Polizisten bekommen eine Anleitung für ihre Schicht, wo es am sinnvollsten ist, zu patrouillieren. Die Entscheidung, ob sie es tun, liegt aber bei ihnen“, sagt MacDonald. Ohne die Entscheidungskompetenz des Menschen sei die Technologie somit nicht verwendbar, so der ehemalige Vice President of Sales bei Vidcie, einem Silicon-Valley-Unternehmen, innerhalb dessen er cloudbasierte Sicherheitslösungen in Bundes­behörden und lokalen Strafverfol­gungs­behörden implementierte.

Auf den ersten Blick scheint PredPol zu funktionieren, oder besser: von den Polizeidezernaten angenommen zu werden. Denn mittlerweile nutzen es über 50 Städte in zwölf US-Bundesstaaten; darunter Atlanta und Norcross sowie Seattle. Einziger Kunde außerhalb der USA ist seit 2013 Kent, Großbritannien, mit 2.000 Polizeibeamten: „Nach anfänglicher Skepsis ist das System Teil ihres Jobs geworden“, so MacDonald. Stellt sich dennoch die Frage: Wie kann der Erfolg von PredPol gemessen werden? „Der objektivste Parameter ist sicherlich die Reduzierung der Kriminalitäts­rate – das hängt aber auch vom Delikt und der Region ab. In einem Department in Los Angeles sank diese innerhalb von fünf Monaten um 53 Prozent. Natürlich kann dies aber auch andere Faktoren haben: Der Kriminelle, der üblicherweise dienstagabends Autos stiehlt, zieht weg oder wird gefasst. Oder die Polizei setzt verstärkt auf andere Maßnahmen, um Straftäter zu überführen. Wir machen dennoch eine starke Korrelation mit unserer Software aus“, so MacDonald. Außer unternehmenseigenen Evaluationen (so eine 21-monatige Studie aus 2015) besteht jedenfalls kein Beweis dafür, inwiefern PredPol tatsächlich wirkt.

Andernorts sieht man sich bei genau dieser Frage mit einer paradoxen Ausgangslage konfrontiert. Einerseits besteht das klare Ziel derartiger Anbieter darin, Straftaten zu reduzieren. Andererseits werden Strafrechtsbehörden nur dann vermehrt auf Predictive Policing setzen, wenn die Prognosen stimmen – und diese passen dann, wenn es zu Folgedelikten (maximal innerhalb von sieben Tagen, Anm.) in den Einsatzgebieten kommt. Die Kriminalitätsrate sinkt insofern nicht. Die Überprüfbarkeit verschwimmt zudem, als man nicht messen kann, wie viele Delikte durch die Software eigentlich verhindert wurden. „Das ist durchaus schwierig zu vermitteln. Wir sind 2011 mit dem Vorsatz angetreten, dass die Kriminalitätsrate innerhalb des jeweiligen Konfigurationszeitraums von sechs Monaten um ein Prozent sinkt“, sagt Ralf Middendorf, IT-Spezialist vom Institut für musterbasierte Prognosetechnik (IfmPt) in Oberhausen. „PreCobs“ heißt die entwickelte Software zur Kriminalitätsprognose, die etwa in Basel, Zürich, Stuttgart und München eingesetzt wird; weitere Städte sind in Planung. PreCobs ist besonders auf Wohnungseinbrüche spezialisiert. „Die Stadtpolizei Zürich hat sich 2013 für die Durchführung eines Pilotprojektes entschieden. Ein Beamter beschäftigte sich dort mit diesem Thema“, sagt der Soziologe und Kriminologe Thomas Schweer, Geschäftsführer des IfmPt. 2014 wurde der Dauerbetrieb aufgenommen; das vorgegebene Ziel hat man bereits erreicht. Laut einem Bericht der Zürcher Stadtpolizei (2017) sank die Zahl der Wohnungseinbrüche von 3.511 im Jahr 2013 auf 2.470 2016.Zwei der Erkenntnisse zu PreCobs waren dabei: „Scheinbar positive Wirkung (Abschreckung) in vormals sehr stark belasteten Gebieten.“ Und weiter: „Der Anteil NR (Near Repeats, Anm.) ist in Zürich gesunken, aber immer noch signifikant hoch.“

Geschäftsführer Schweer war um die Jahrtausendwende viel mit der Polizei auf Streife unterwegs, er analysierte deren Arbeitsweise: „Die Beamten informierten sich immer darüber, was am Vortag passiert ist. Sie markierten anschließend die risikoreichsten Gebiete mittels Stecknadeln auf Wandkarten.“ Etwas Moderneres musste her, keine „Glaskugel“, sondern ein Computer, der nicht müde wird, zu prognostizieren.

Doch auch dieser ist nicht vor Fehlern gefeit, so Schweer weiter. Denn es kann durchaus ­passieren, dass ein Beamter nach einem abgeschlossenen Fall vergisst, den ­„Modus Operandi“ (Tatverhalten) in das Computersystem einzutragen. Denn neben Tatort, Tatzeit und Delikt wird bei PreCobs auch die Beute und eben das Tatverhalten eingespeist. Daraus gewinnt die Maschine wiederum ihre – in diesem Fall ungenauen – Erkenntnisse für die Zukunft. „Der diensthabende Beamte muss entscheiden, ob er hier noch einmal beim Kollegen nachfragt.“ Die Kollegen von PredPol sehen das ähnlich: „Wir versprechen keine 100-prozentige Prognose­genauigkeit. Die Prognose basiert ja auf menschlichem Verhalten. Wenn jeden Freitag zwischen vier und fünf Uhr nachmittags ein Raub passiert, an einem jedoch nicht, beeinflusst das bereits diese Technologie“, sagt MacDonald. Ebenso wie am Institut in Oberhausen werden bei PredPol keine personenbezogenen Daten verwendet, mittels derer auf die Identitäten geschlossen werden könnte. So werden etwa in den rot eingefärbten Gebieten zwei bis drei Häuserblöcke angezeigt, jedoch keine genauen Adressen.

Die Zukunft des eigenen Unternehmens kann MacDonald nicht voraussagen, eine Richtung gibt er aber vor: „Wir setzen auf die internationale Expansion. Wir sind bereits in Kontakt mit Polizeidepartments in Asien und Südamerika. Aber auch große Industrieunternehmen setzen auf unseren Algorithmus, um ihr eigenes Areal sicherer zu gestalten. In Zukunft könnten es Versicherungs- und Logistikunternehmen sein.“

PredPol
Das kalifornische Start-up wurde 2012 von den Co-Foundern Jeffrey Brantingham (UCLA) und George Mohler (ehemals Santa Clara University) gegründet. CEO ist seit zweieinhalb Jahren Brian MacDonald, ehemals Vice President of Sales bei Vidcie. Das Unternehmen bietet eine Softwaretechnologie an, um zukünftige Verbrechen zu prognostizieren und zu verhindern. DIe Basis bilden hierbei menschliche Verhaltensmuster, die auf ein mathematisches Fundament gestellt werden. Die Polizeibeamten bekommen auf einem Interface (siehe Beispiel links) Risikobereiche in Form roter Boxen angezeigt. Diese markieren einen Umkreis von 150 mal 150 Metern und gelten je nach Polizeischicht acht bis 12 Stunden. Die einzelnen Punkte zeigen Delikte wie Überfall oder Raub an, die bereits passiert sind. Kernmarkt von PredPol sind die USA. In Zukunft will das Start-up auch in Südamerika und Asien tätig werden.

Illustration: Valentin Berger

Dieser Artikel ist in unserer Januar-Ausgabe 2017 „Forecasting“ erschienen.

Niklas Hintermayer,
Redakteur

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