PHÄNOMEN HALLSTATT

Seit Jahrtausenden zieht der heutige Weltkulturerbe-Ort am Hallstätter See die Menschen an – in der Jungsteinzeit noch wegen der Salzgewinnung, heute als pittoresker Sehnsuchtsort für Touristen aus aller Welt. So pilgerten 2019 noch eine Million Menschen in die 750-Einwohner-Gemeinde, letztes Jahr hingegen war es still um und in Hallstatt. Mit dem in dritter Generation geführten Gasthofbräu erlebte Verena Lobisser den Wandel hautnah mit.

Die Straßen des in den Felsen gehauenen Ortes Hallstatt sind wie leer gefegt. Nach den weltweit an einen touristischen Super-GAU heran­reichenden vergangenen zwölf Monaten kann man es den Hall­stättern eigentlich nicht verdenken, dass sie über die Verschnaufpause vielleicht ein wenig froh sind – ­Tausende vor­wiegend aus Asien stammende Touristen hatten sich „vor Corona“ tagtäglich durch die engen Gassen des malerischen Ortes geschoben – manche sogar bis in private Gärten und Wohnzimmer. Der Tourismus, der anfangs wie ein Segen für die Gemeinde schien, wurde mit den Jahren zu einer Belastung für die Anwohner.

Mit einer von ihnen, Verena Lobisser, wollen wir sprechen. Als unser Fotograf vor Ort eintrifft, sind aber nicht nur die Straßen wie leer gefegt; auch Lobisser ist nirgendwo zu finden. Einen kurzen Anruf später wissen wir: Sie hat den Termin vergessen – und ist mit ihrem Sohn beim Kinderarzt. Wir nutzen die Zeit, um die Umgebung und das Gasthofbräu zu fotografieren. Lobisser hatten wir bereits via Zoom interviewt.

„Der Boom um Hallstatt hat sich durch Zufall ergeben. Das ist eigentlich eine sensationelle Geschichte. Wäre das die Idee einer Werbeagentur gewesen, hätte sie viel Geld gekostet“, beginnt Verena Lobisser, Wirtin des Gasthofbräus Lobisser in Hallstatt, zu erzählen. „Eine Kollegin von mir, die Gastwirtin vom Hotel Grüner Baum, hatte 2011 einen Gast aus Asien, eine chinesische Architektin, bei sich zum Frühstück sitzen – mit Bauplänen des Hauses der Wirtin am Tisch! Das machte sie neugierig. Nachdem sie mit ihr ins Gespräch gekommen war, berichtete ihr die Architektin über das Vorhaben einer großen chinesischen Bau­firma, Hallstatt in China nachzubauen.“ Das Unternehmen war Minmetals Land, ein Tochterunternehmen des chinesischen Staats­unternehmens Minmetals Corpora­tion, des größten Metall- und Mineralienkonzerns Chinas. Ein Jahr nach dem Treffen eröffnete Minmetals Land eine 900 Mio. U-$ teure Kopie des oberösterreichischen Dorfes in der subtropischen Provinz Guangdong im Süden Chinas.

„Dass diese Pandemie für vom Massentourismus heimgesuchte Destinationen durchaus eine Verschnaufpause und eine Neuorientierung hin zu mehr Qualität und Konzept bedeuten kann, ist unbestritten“, sagt Verena Lobisser.

Anfangs war die medial erzeugte internationale Aufmerksamkeit ein Segen – durch diese Werbung für „den schönsten Ort in Österreich“ wurde sie aber nach und nach zu einem Fluch für das Original. „Die großen Reisegruppen, vor allem aus Asien, haben Hallstatt als einen großen Freizeitpark verstanden, wo man gratis hinfahren kann. Für die Reiseunternehmer war natürlich eine enorme Spanne drinnen, aber der Ort selbst war der Leidtragende. Die vielen Menschen, der Lärm, der Verkehr und der Müll – es war bedrückend. Teilweise standen sogar Wildfremde in unseren Gärten, Stuben und Badezimmern“, so Lobisser. In den Jahren zwischen 2010 und 2019 haben sich die Nächtigungen mehr als verdoppelt – von knapp 70.000 auf 145.000 pro Jahr, 43 % davon aus dem ostasiatischen Raum. Lobisser: „An manchen Tagen in den Sommer­monaten hatten wir 15.000 Besucher hier. Sie drängten sich alle auf der circa einen Kilo­meter langen Straße, die durch den Ort führt.“ Es war eine für viele Einheimische zunehmend beklemmende Situation.

Dann kam im März 2020 der erste Corona-Lockdown – und plötzlich war der Tourismus von einem Tag auf den anderen vorbei: „Es war, als hätte jemand auf die Reset-Taste gedrückt. Ein Ort, der immer auf Hochtouren lief, wurde von der Pandemie eingebremst. Für mich war es wie ein Wachrütteln. Mir sind Dinge bewusst geworden, für die ich vorher keine Zeit hatte“, erzählt Lobisser, die ihr Gasthaus in dritter Generation führt.

Geboren und aufgewachsen im Seeort Hallstatt, waren Verena Lobissers Zukunftspläne eigentlich überhaupt nicht mit dem Familienbetrieb verbunden. Nachdem sie die Kunstgewerbeschule in Graz absolviert hatte, begann sie ein Studium in Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft. Nebenbei assistierte sie einem Kamerateam und entdeckte ihre Liebe zum Film. Nachdem sie jahrelang die Welt bereist und dabei Dokumentarfilme in Kasachstan, Indien und Zentralafrika (mit)gedreht hatte, erkannte sie schließlich den Wert und die Einzigartigkeit ihres Heimatorts. „Viele Gründe haben 2007 dazu geführt, dass ich zurückgekehrt bin. Meine Eltern waren nicht mehr in der Lage, das Hotel zu führen, und mit den Jahren wurde es auch immer mühsamer, sich in der Filmbranche alles selbstständig zu erkämpfen“, erzählt die 50-Jährige. Heute führt Lobisser den Gasthof und seine Mitarbeiter.

Verena Lobisser
...führt das geschichtsträchtige Gasthofbräu Lobisser in Hallstatt in dritter Generation. Bevor sie es 2007 übernahm, arbeitete sie in der Filmbranche und drehte Dokumentarfilme u. a. für die Reihe „Universum“. Lobisser studierte Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Graz.

Der winzige Salinenort Hallstatt ist einer der am längsten besiedelten Orte in Österreich. Bereits in der Jungsteinzeit (5.000 v. Chr.) soll es aufgrund von Salzvorkommen erste Ansiedlungen in dem Bergdorf im Salzkammergut gegeben haben. Ebenfalls weit – wenn auch nicht bis in die Jungsteinzeit – reicht die Geschichte des Gasthofbräus zurück. Lobisser: „In den drei mittelalterlichen Wohntürmen, die über die Jahrhunderte hin zu einem Haus zusammengewachsen sind, verbirgt sich eine geschichtsträchtige Atmosphäre. 500 Jahre lang
war der heutige Gasthof eine Bierbrauerei mit eigener Quelle. Aus Urkunden weiß ich, dass Kaiser Maxi­milian um 1495 hier das Braurecht verliehen hat.“

Durch handwerk­liches Talent haben Lobissers Großeltern nach dem Ersten Weltkrieg mit wenigen finanziellen Ressourcen das Haus immer wieder restauriert und ausgebaut. Schließlich haben sie es Stück für Stück für sich erobert, bis es zu dem Schmuckkästchen wurde, das es heute noch ist. „Etwa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen die sogenannten Sommerfrischler in die Gegend; meist Städter, die in den Ferien aufs Land fahren wollten. So hat meine Familie damals auch begonnen, Gäste zu bekochen“, so Lobisser.

Seither hat sich viel verändert. Und doch lässt sich feststellen, dass in Bezug auf den Tourismus der Trend in Richtung inländische Touristen geht. 2020 war das Jahr des „Overtourism-Stopps“ in Hallstatt. Nach wochenlangem Stillstand öffneten die Gastro­nomen und Hoteliers im Sommer 2020 wieder ihre Tore – diesmal für jene Touristen, die jahrelang von den Massen aus Asien abgeschreckt worden waren. „Kulturinteressiert, in Kindheitserinnerungen schwelgend, einer Sprache mächtig, die man verstehen kann, haben wir das Publikum nach dem ersten Lockdown als sehr angenehm empfunden. Oft blieben die Gäste länger als geplant und waren begeistert von Hallstatt“, erzählt Lobisser. Eigenen Angaben zufolge seien die Umsätze des Gasthofs im Vergleich zu den Sommermonaten in den Vorjahren aber um 20 % gesunken.

Der Trend des Slow ­Tourism zielt auf die Nachhaltigkeit, die Langsamkeit und die Sinnhaftigkeit beim Reisen ab. Es ist eine Bewegung, mit der sich Lobisser identi­fiziert und für die sie auch Potenzial sieht: „Mir – und ich denke, uns Hallstättern allgemein – ist es wichtig, eine Form von Tourismus zu schaffen, die auf das Verweilen, Genießen und Wahrnehmen abzielt.“ Lobisser ist überzeugt: „Dass diese Pandemie für vom Massentourismus heimgesuchte Destinationen durchaus eine Verschnaufpause und eine Neu­orientierung hin zu mehr Qualität und Konzept bedeuten kann, ist unbestritten.“

Der großen „Wiederauferstehung der Gastronomie“ in den kommenden Monaten sieht die ­Wirtin nervös, aber durchaus optimistisch entgegen: „Es ist wie Lampenfieber; als ob man es noch nie gemacht hätte. Dabei hat man ja schon einige Male eine Saison wiedereröffnet. Die ersten Buchungen sind schon hereingekommen, in spätestens 14 Tagen sind wir wieder ausgebucht, wenn das Wetter mitspielt. Wer weiß.“

Text: Naila Baldwin
Fotos: Dirk Bruniecki

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 5–21 zum Thema „Travel & Tourism“.

Naila Baldwin

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