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Quasi über Nacht haben die Staaten der Welt ihre Wirtschaft für mehrere Monate heruntergefahren, um die Coronavirus-Pandemie zu bekämpfen. So wurden Leben gerettet – die Wirtschaft ist aber noch immer auf der Intensivstation. Das globale BIP nimmt Schaden und staatliche Defizite schießen auf ein Niveau, das an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Die Konturen der langfristigen Konsequenzen können wir aktuell bloß erahnen.
Nicht nur Bill Gates warnte in einem Ted-Talk vor den Risiken einer globalen Pandemie, auch das medizinische Journal „Nature Medicine” skizzierte bereits 2015 die Gefahren eines Virus, das dem Coronavirus bereits stark ähnelte. Fünf Jahre später kannten wir alle die Gefahr. Während die Gesellschaft es Schritt für Schritt schafft, „mit dem Virus zu leben“, hat unser Wirtschaftssystem noch kein Auslangen mit Lockdowns & Co. gefunden. Zwar halten die großzügigen staatlichen Unterstützungen und die expansive Geldpolitik der Zentralbanken die Wirtschaft und ihre Unternehmen am Leben, die wirtschaftlichen Folgen werden uns jedoch noch länger beschäftigen. Welche ökonomischen Umwälzungen uns tatsächlich erwarten, ist aktuell schwer abzuschätzen. Ein Blick zurück, in die Zeit nach den großen Pandemien der Vergangenheit, hilft jedoch zumindest, die Größenordnung der uns bevorstehenden Neuorientierung zu erkennen. Die empirischen Muster von Pandemien und anderen Katastrophen sind mit dem Coronavirus zwar nicht identisch, aber in vielerlei Hinsicht doch Weise ähnlich – und enthalten daher so manche Lehre für Gegenwart und Zukunft.
Die Pest, die spanische Grippe und Covid-19
Die Pest brachte die gesellschaftliche Ordnung Europas im 14. Jahrhundert zu Fall – und ordnete damit auch die Wirtschaft gänzlich neu. 25 Millionen Menschen starben, damals ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Dass die Pest – im Gegensatz zum Coronavirus – vor allem junge Menschen traf, erhöhte den Schaden auf Wirtschaft und Gesellschaft.
Als der Schock jedoch verdaut war, brachte das Trauma unerwartet positive Auswirkungen mit sich. Zuallererst führte das Massensterben zu einem Freiwerden von Ackerflächen, die plötzlich einer viel geringeren Anzahl an Bauern zur Verfügung standen. Die vormals stagnierenden Löhne einzelner Bauern schossen aufgrund der geringeren Anzahl an Wettbewerbern bei gleichbleibenden Ackerflächen wegen der erhöhten Produktivität nach oben. Jeder Einzelne erwirtschaftete dadurch höhere Erträge. Die durchschnittliche jährliche Inflation lag zwischen 1360 und 1460 bei 0,65%, verglichen mit einer jährlichen Inflation von 1,58% zwischen 1311 und 1359. Wirtschaftstheoretisch gesehen hätte es wegen des Schocks und der hohen Sterberate eine höhere Inflation geben müssen. Doch im Angesicht des Todes und der dadurch resultierenden Lust nach Konsum sowie der zusätzlichen Möglichkeit der Bauer mehr Erträge für selbst zu erwirtschaften, trat lediglich eine Disinflation ein, die die Realeinkommen steigen ließ.
Der gesteigerte Konsum war auf einen psychologischen Effekt zurückzuführen: Die traumatischen Erfahrungen zahlreicher Pestopfer führten zu einem neuen Genießen unter den Überlebenden. Luxusprodukte erlebten einen Aufschwung – die Menschen konnten und wollten sich plötzlich etwas leisten. Diese wurden meist in Städten gefertigt, was den Ballungszentren eine ganz neue Bedeutung verlieh. Die bedeutendste politische Auswirkung des Schocks und des damit verbundenen demografischen Rückgangs war die rapide Beschleunigung der politischen Zentralisierung in Europa. Die Reaktion der Aristokraten war eine bessere Organisation der Wirtschaft, die das feudale und tributarische System für mehrere Jahrhunderte bis zur Industrialisierung verfestigen sollte. Parallel dazu legte die Pest jedoch auch das Fundament für das Ende dieser Struktur, denn große Teile der Feudalisten starben, das dadurch entstandene Vakuum wurde von aufstrebenden Eliten gefüllt. All diese Faktoren zusammengenommen, bewirkten die Freisetzung des vorhandenen Kapitals und das langsame Aufblühen von Handelsstädten. Der Wiener Historiker Egon Friedell sieht die Konsequenzen der Pest als einen der entscheidenden Wegbereiter der Renaissance.
Letztendlich führten die angeführten Entwicklungen auch dazu, dass Europa seine Vormachtstellung gegenüber China und der arabischen Welt ausbauen konnte. Heute, in der Corona-Pandemie, scheint die Situation umgekehrt: Während Europa und die USA mit den Konsequenzen des Virus schwer zu kämpfen haben, sind asiatische Staaten wie China deutlich unbeschadeter durch die Krise. Laut OECD wird Chinas BIP 2020 um 1,8% wachsen, während jenes der Eurozone um 7,5%, jenes der USA um 3,7% schrumpfen wird. Die höhere Mortalitätsrate der Pest, die die Ursache der oben beschriebenen Entwicklungen war, blieb der Welt mit Corona weitgehend erspart. Doch die damalige Gesellschaft war vorrangig agrarisch bedarfsdeckend und daher weit davon entfernt, der heutigen Moderne zu ähneln.
Die Zeiten, als die spanische Grippe in Europa ihr Unwesen trieb, ähnelt der heutigen Welt schon eher. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs, also rund um das Jahr 1918, breitete sich die damalige Pandemie über den Kontinent und den Globus aus. Die Influenza kostete 50 Millionen Menschen das Leben. Das waren, bei der damaligen Bevölkerung von 1,7 Milliarden Menschen, 3 % der Weltpopulation. Nach diesem ersten Schock mutierte das Virus im Verlauf der Zeit und wurde zunehmend milder, bis es ein Jahr später „alltäglicher” Bestandteil des Lebens wurde. Die ökonomischen Konsequenzen sind schwierig abzugrenzen – denn damals herrschte der Erste Weltkrieg, die Länder stellten ihre Konjunktur dahingehend um. Der Ökonom Robert J. Barro ist der Meinung, dass die Spanische Grippe von 1918 bis 1920 das BIP in Ländern mit höherer Mortalitätsrate unterm Strich dennoch rund 6% kostete.
Durch Corona wird der weltweite BIP-Rückgang laut der OECD 4,2% betragen, jener der G20 3,8%. Das zeigt, dass auch die Veränderung unserer Wirtschaft in Richtung von modernen, digitalen Dienstleistungen kein Allheilmittel gegen physische Gefahren darstellt. Denn noch immer sind zahlreiche Menschen in Bereichen tätig – etwa dem Gesundheitssystem – das sich nicht aus dem Home Office erledigen lasssen. In den USA sind Schätzungen zufolge etwa 20 Millionen Menschen im Bereich „Healthcare“ aktiv, 80 Millionen – ein Viertel der Bevölkerung – gilt als „essential workers“. Da jedoch keine Kriegswirtschaft helfen konnte, den Schock auszugleichen, scheinen die Folgen der Spanischen Grippe doch deutlich dramatischer. Das zeigen auch die Todeszahlen, die mit 50 Millionen Menschen gegenüber den 1,5 Millionen Todesopfern, die Corona forderte, überproportional hoch waren.
Fazit
Die großen Pandemien der Vergangenheit zeigten unterschiedliche Gesichter. Die Pest wütete sieben Jahre, forderte ein Drittel der europäischen Bevölkerung und brachte die gesellschaftliche Ordnung ins Wanken. Die Spanische Grippe trieb nur zwei Jahre ihr Unwesen, forderte dabei jedoch 50 Millionen Todesopfer (knapp 3% der Weltbevölkerung). Beide Pandemien führten jedoch nicht zu einer schwerwiegenden Depression. Die Pest hatte langfristig sogar positive Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft; die Folgen der Spanischen Grippe wurden wirtschaftlich teilweise von den Aufrüstungen im Rahmen des Ersten Weltkriegs ausgeglichen.
Der massive wirtschaftliche Schock, der – ausgelöst durch ein Virus – von einem abrupten Abbruch der wirtschaftlichen Abläufe ausgelöst wurde; die erhöhte Mortalitätsrate gegenüber gängigen Krankheiten; und der im Nachhinein stattfindende ökonomische Reinigungsprozess sind Gemeinsamkeiten der großen Pandemien. Bis jetzt verläuft Covid-19 jedoch deutlich milder als Pest oder Influenza. Die ökonomischen Auswirkungen des Social-Distancing werden aktuell zudem mit der Aufnahme von Staatsschulden abgefedert, die die Regierungen in die Wirtschaft pumpen, um Liquidität für Unternehmen zu gewährleisten. Der Schuldenstand entwickelter Nationen stieg auf 140% der Wertschöpfung (BIP). Damit läge das globale Schuldenniveau in etwa auf dem Stand unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Das stellt für sowieso schon hochverschuldete Nationen wie Italien, Griechenland oder Japan existenzielle Fragen – die jedoch wohl erst nach dem Sieg über die Pandemie beantwortet werden. Beantwortet werden müssen sie jedoch.
Kommentar: Muamer Bećirović
Foto: Ricardo Gomez Angel
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