Nach der Krise ist vor der Krise

Das Ausmaß der Schäden der Pandemie in der Reisebranche wird langsam in voller Wucht sichtbar: Um knapp 65 Prozent sank der Umsatz der Reiseveranstalter im letzten Jahr.

Kein besseres Bild zeichnet sich bei den Geschäftsreisen ab: Gerade einmal 20 Prozent der Ausgaben von 2019 tätigten Unternehmen im vergangenen Jahr, und die Verbreitung von digitalen Konferenztools macht es wahrscheinlich, dass dieser Bereich nie wieder auf sein altes Niveau zurückkehren wird.

Eine Konsequenz aus der Pandemie wird sein, dass das über zehn Jahre stetige Wachstum unter anderem in der Reisebranche ein Ende findet. Anstehende politische Weichenstellungen wie die derzeit diskutierten Verbote von Kurzstrecken­flügen, die ja in Wahrheit bereits Vorboten der nächsten Krise – der des Klimas – sind, lassen auch für die Zukunft wenig Hoffnung aufkommen. Nach Finanz-, Euro-, Flüchtlings- und Coronakrise drohen die Gesellschaften zunehmend in einen Zustand des „l’etat d’urgence“ – der Staat im Dauer-Ausnahmezustand – zu gleiten.

Die Reisebranche nimmt die erzwungene Auszeit zum Anlass, um mit Nachdruck in Digitalisierungs­strategien zu investieren. Zum einen geht es um die Flexibilisierung bei den Infrastrukturen, um sich an veränderte Geschäfts- und Erlösmodelle – etwa digitale Marktplätze – anzupassen; zum anderen stehen Vertriebsstrukturen im digitalen Raum auf dem Prüfstand. Außerdem wird es in Zukunft auch wieder viel stärker darauf ankommen, die Bonität des jeweiligen Geschäftspartners genau zu kennen, um vorab einschätzen zu können, welchen Kreditrahmen man ihm noch einräumen kann. Gleiches gilt für die Sicherung von Erlösen im Provisionsgeschäft, bei dem eine genaue, automatisierte Prüfung des Anbieters in den kommenden Jahren Standard werden wird. Im Individual- und Pauschalreisegeschäft werden es die Expedienten sein, die mit ihren unternehmerisch unabhängigen Reisebüros in den Fokus des Risikomanagements der großen Veranstalter rücken – denn eine TUI wurde zwar durch den Staat gestützt, die rund 11.000 Reise­büros mussten sich hingegen zunächst mit Rück­erstattungen bereits verbuchter Zahlungen beschäftigten und starrten anschließend monatelang untätig auf die Meldungen von immer neuen Risiko­gebieten auf der ganzen Welt.

Ralph Schuler
...ist seit 2018 CEO und Vorstandsvorsitzender der SHS Viveon AG. Vor SHS Viveon war er in leitenden Positionen bei Mapp Digital, IBM und PricewaterhouseCoopers tätig.

Digitalisierung und Big Data haben auch vor Bonitätsprüfungen nicht haltgemacht. Die heute noch weitgehend heterogene Systemlandschaft der Reisebüros muss derart vereinheitlicht werden, dass die Daten eine Quasi-Echtzeit-Betrachtung der Risikolage mit jedem Geschäftspartner erlauben. Gängige Bonitäts-Scorings greifen häufig zu kurz, da bei kleineren Unternehmen nicht genügend Daten für aussagefähige Analysen vorliegen. Es gilt, viele Informationen zu kombinieren – zum Beispiel zusätzlich die Unternehmensform oder spezifische Länderrisiken –, und auch direkte Erfahrungen aus dem eigenen Vertrieb strukturiert in die Bewertung einfließen zu lassen. Dies erfordert Workflows, die in der Regel weit über die vorhandene IT-Ausstattung hinausgehen. Heißt: Hier wird in Zukunft auch zunehmend künstliche Intelligenz gefragt sein. Denn so, wie bereits klar ist, dass '„nach der Pandemie“ auch „vor der Pandemie“ bedeutet, so kann man in einem größeren Zusammenhang folgern: „Nach der Krise ist vor der Krise.“

 

Gastkommentar: Ralph Schuler
Opinions expressed by Forbes Contributors are their own.

Dieser Gastkommentar erschien in unserer Ausgabe 5–21 zum Thema „Travel & Tourism“.

 

Forbes Contributor

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