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Seit 200 Jahren widmet sich Bristol Myers Squibb der medizinischen Forschung. Heute gehört das Biopharma- Unternehmen zu den weltweit führenden Adressen, wenn es um die Entwicklung lebenswichtiger Medikamente im Kampf gegen Krebs oder andere schwere Krankheiten geht. Dabei gleicht die Arbeit der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Nach einem Jahr, das von rasanten Innovationen und nachhaltigen Disruptionen geprägt war, steht der Konzern vor dem nächsten Kapitel: die langfristige Gesundheit von Patienten – sowie des Unternehmens selbst – sicherzustellen.
Der Zyklus der Entwicklung eines neuen Medikaments folgt meist einem relativ vorhersehbaren Verlauf. Die Reise beginnt im Labor, wo Forscher Tausende von Molekülverbindungen untersuchen, bevor sie eine davon auswählen. Danach folgen präklinische Studien, gefolgt von klinischen Studien mit Menschen, um die Sicherheit des Mittels bewerten zu können. Anschließend wird es von den Gesundheitsbehörden geprüft. Was in der Theorie simpel klingt, ist in der Praxis oft ein jahrelanger Prozess: Bis zu zehn Jahre und mehr kann die Entwicklung neuer Medikamente dauern, die Investitionen können Milliarden an Euro kosten. Als Resultat landet ein oft nur erbsengroßes Medikament in den Händen eines Patienten.
Im März 2020 wurde dieser Prozess durch Covid-19 unglaublich beschleunigt. Die Weltgesundheitsorganisation erklärte Covid-19 zu einer globalen Pandemie, Dutzende von Ländern wurden abgeriegelt und Pharma- und Gesundheitsunternehmen mussten ihre klinischen Studien pausieren. Die Unternehmen versuchten händeringend, die Produktion und Lieferung von Medikamenten aufrechtzuerhalten, um den Patienten weiterhin Zugang zu lebensrettender Medizin zu sichern. Es war ein schwerer Schlag für eine Branche, die stolz ist auf ihre etablierten Standards und festen Fahrpläne. Laut Prognosen des Beratungsunternehmens EY könnte die Biopharma-Branche bis 2024 aufgrund der aktuellen Krise Verluste in der Höhe von bis zu 140 Milliarden US-$ erleiden.
Remo Gujer hat diese Schwierigkeiten selbst erlebt. Der gebürtige Schweizer und studierte Pharmazeut ist General Manager für die Schweiz und Österreich bei Bristol Myers Squibb (BMS), einem globalen biopharmazeutischen Unternehmen mit 30.000 Mitarbeitern und 42,5 Milliarden US-$ Jahresumsatz. Das 1989 durch eine zwölf Milliarden US-$ schwere Fusion zwischen der Bristol Myers Company und der Squibb Corporation entstandene Unternehmen zielt mit seinem Medikamentenportfolio auf Patienten mit schweren Krankheiten ab: Krebs, Blutkrankheiten, Herz-Kreislauf- und Autoimmunerkrankungen. „Während der ersten Phase der Pandemie mussten wir die Rekrutierungen in unseren klinischen Studien pausieren. Etwa zwei bis drei Monate lang konnten keine neuen Patienten aufgenommen werden“, sagt Gujer, der nur wenige Monate vor dem ersten Lockdown in der Schweiz zu BMS kam. „Es war definitiv jener Moment in der Krise, in dem die komplexen Vorgänge in der Arzneimittelherstellung und -logistik sichtbar wurden.“
Doch das Unternehmen passte sich schnell an. BMS hat in der Schweiz und Österreich je zwischen 60 und 80 aktive klinische Studien laufen und suchte unter anderem auch nach Möglichkeiten, das Monitoring der Gesundheitsdaten vermehrt virtuell durchzuführen. Auf der ganzen Welt eröffnete das Unternehmen neue digitale Kanäle. War die Krise vielleicht ein Segen für die Life-Science-Branche? „Aus heutiger Sicht war die Krise ein Beschleuniger für neue Initiativen und Erkenntnisse“, sagt Gujer. „Ich sehe transformative Möglichkeiten, um klinische Studien noch effizienter durchführen zu können.“
Ich sehe transformative Möglichkeiten, um klinische Studien noch effizienter durchführen zu können.
Transformation: ein Wort, das Manager in der Krise schon oft verwendet haben. Doch Gujer bleibt Realist – auch und gerade, wenn es darum geht, die Medikamentenentwicklung quasi über Nacht zu revolutionieren. „Solche Veränderungen passieren nicht von einem Tag auf den anderen. Wir bewegen uns in einem sehr begrenzten Umfeld“, sagt Gujer.
Remo Gujer weiß jedenfalls, wovon er spricht, denn Biopharma liegt ihm im Blut. Gujer absolvierte ein Masterstudium in Pharmazie und hält einen Doktortitel in Molekularbiologie von der ETH Zürich. Zudem war er über ein Jahrzehnt lang beim amerikanischen Pharmakonzern Celgene tätig, wo er die Schweizer Niederlassung und im Anschluss zuerst den mittel- und osteuropäischen Markt, danach die UK- und Irland-Niederlassung leitete. Ende 2019 wurde das Unternehmen für 74 Milliarden US-$ von BMS übernommen. Gujer weiß also, dass sich Geduld in dieser Branche bezahlt macht. „Wir haben heute Medikamente zur Verfügung, die auf Technologien zurückgehen, die ich selbst schon vor 20 Jahren im Labor in der Grundlagenforschung durchgeführt habe“, berichtet er.
Obwohl Geduld in der Pharmabranche also eine Tugend ist, waren die Fortschritte in den letzten zwölf Monaten enorm. Impfstoffe wurden
in Rekordgeschwindigkeit auf den Markt gebracht, bis April 2021 wurden weltweit mehr als eine Milliarde Dosen verabreicht. „Die Geschwindigkeit der Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe ist beispiellos“, sagt Gujer. Im gleichen Atemzug setzt er die Durchbrüche jedoch in den richtigen Kontext: „Was wir aber nicht vergessen sollten, ist, dass diese Impfungen auf über zehn Jahren Grundlagenforschung aufbauen. Die Pandemie hat das dann einfach beschleunigt.“ Neben den Impfstoffen werden nach Angaben des Milken Institute gerade über 300 Covid-19-Behandlungen entwickelt. Auch BMS arbeitet an einem solchen Medikament, nachdem das Unternehmen im März eine Partnerschaft mit der Rockefeller University einging. Die Methode basiert auf körpereigenen Abwehrstoffen, die aus genesenen Patienten isoliert und mit gentechnologischen Methoden vervielfältigt wurden. Erste Studien mit Menschen laufen bereits.
All dies zeigt: Ein gemeinsames Ziel bzw. ein gemeinsamer Feind machen Unmögliches möglich. BMS hat dies in seiner branchenübergreifenden Zusammenarbeit mit Forschern und politischen Entscheidungsträgern während der Pandemie selbst erlebt. Ende 2020 bildete BMS ein Konsortium mit 18 Unternehmen aus der Gesundheitsbranche, um Wissen auszutauschen und so die Covid-19-Tests zu verbessern. Zudem kooperiert das Unternehmen bereits mit der Bill & Melinda Gates Foundation, indem es 1.000 Wirkstoffe aus seiner Datenbank für potenzielle Covid-19-Behandlungen zur Verfügung stellt. BMS betrachtet diese wissenschaftlichen Partnerschaften als entscheidend für weitere Innovationen. Nicht umsonst entstanden zwölf der insgesamt 20 Blockbuster-Medikamente des Unternehmens – jene Medikamente mit einem Umsatz von mehr als einer Milliarde US-$ – aus Kooperationen.
Remo Gujer
...studierte Pharmazie und promovierte in Molekularbiologie an der ETH Zürich. Er absolvierte verschiedene Stationen in der Pharmabranche, bis er 2007 zu Celgene kam. 2019 wurde das Unternehmen von Bristol Myers Squibb (BMS) gekauft. Heute leitet Gujer die BMS-Büros in der Schweiz (Steinhausen) und Österreich (Wien).
Selbst bei dieser Innovationsgeschwindigkeit bleibt die zentrale Herausforderung bestehen: Medikamente auf den Markt zu bringen ist teuer, der Wettbewerb ist enorm. Zudem haben Patente ein Ablaufdatum, Generika sind im Kommen. Das Geschäftsmodell besteht noch immer darin, Milliarden von Dollars in ein paar ausgewählte Moleküle zu investieren – in der Hoffnung, dass sie sich in Blockbuster-Medikamente verwandeln. „Unser Modell baut auf vielen, vielen Fehlschlägen auf, wie das Beispiel der Covid-Impfstoffe zeigt“, sagt Gujer. Er schätzt, dass etwa 90 % der Medikamente im Lauf der klinischen Studien scheitern. „Wir sprechen stets nur über die zehn Projekte, die erfolgreich sind – doch es gibt 100 oder mehr, die scheitern.“
Trotzdem hat BMS hohe Erwartungen an die nächste Generation von Medikamenten. Das Biopharma-Unternehmen hofft, das derzeitige Portfolio mit seiner Pipeline von mehr als 50 Wirkstoffen – in Bereichen wie Autoimmunerkrankungen und soliden Tumoren – weiter auszubauen. Zudem investiert BMS jedes Jahr etwa ein Viertel seines Umsatzes in Forschung und Entwicklung. „Durch die Möglichkeit, unsere Therapien auf den Markt zu bringen, ist es uns anschließend möglich, diese Mittel in neue Forschungsprojekte zu reinvestieren. Somit können wir das Leben unserer Patienten langfristig positiv verändern“, sagt Gujer. „Ich nenne das den Erfolgszyklus der Innovation.“
Gujer stellt klar, dass die Hubs in der Schweiz und Österreich eine entscheidende Rolle spielen werden. „Wir brauchen eine Gesundheitsinfrastruktur, die qualitativ hochwertig ist und hochwertige Daten bereitstellt“, sagt er. „Man braucht zudem eine Umgebung, in der die neuesten Standards für Behandlungen verwendet werden, um die Verbesserung gegenüber dem derzeitigen Niveau zu sehen.“ Auch die Verfügbarkeit von hoch qualifizierten Mitarbeitern ist entscheidend. In der Schweiz gibt es beispielsweise drei Produktionsstandorte, von denen sich der größte im französischsprachigen Kanton Neuchâtel befindet. Der Standort beschäftigt 800 Mitarbeiter und stellt Medikamente her, die in 80 Länder der Welt verschickt werden.
Was steht in Zukunft auf dem Programm? „Beim Potenzial von Zelltherapien stehen wir erst am Anfang“, sagt Gujer. BMS hat bereits Pläne, seine erste europäische Produktionsstätte für Zelltherapien – die fünfte weltweit – im niederländischen Leiden zu errichten. Das Unternehmen ist auch dabei, diese Therapie in der Schweiz und Österreich auf den Markt zu bringen. „Man nimmt eine Immunzelle des Patienten und modifiziert sie im Labor so, dass sie die Krebszelle erkennt. Dann infundiert man sie dem Patienten ein paar Tage oder Wochen später“, erklärt der Manager; „die Zellen sind dann darauf vorbereitet, den Krebs zu erkennen.“ Eine weitere Entwicklung wird in der personalisierten Medizin liegen: „Behandlungen werden viel individueller und maßgeschneidert – und zwar nicht nur auf die Krankheit, sondern auf die zugrunde liegende Ursache, etwa bei Krebs und genetischen Mutationen.“
Trotz hochkomplexer Forschungsarbeit bleiben Prognosen knifflig. „Es ist sehr schwer, vorherzusagen, wie die Erfolgsquote sein wird“, sagt Gujer. Dennoch wollen wir eine Antwort auf die Frage, was denn das nächste Blockbuster-Medikament sein wird. Gujer: „Ich kann heute nicht vorhersagen, in welchem Bereich dies explizit sein wird. Doch bei der Geschwindigkeit, in der neue Technologien zur Behandlung von Krebs und immunologischen Störungen erforscht werden, werden wir wahrscheinlich innerhalb der nächsten 20 Jahre revolutionäre Medikamente sehen.“ Also nur ein Augenblick für all jene, die die Zyklen der Pharmaindustrie kennen.
Text: Olivia Chang
Fotos: BMS
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