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Tierisches Fleisch scheint ein Auslaufmodell zu sein. Doch essen wir bald Fleisch aus dem Reagenzglas?
Ganz neu ist die Idee dann ja doch nicht. Winston Churchill, zweifacher britischer Premierminister und für viele der bedeutendste Staatsmann der Insel des vergangenen Jahrhunderts, prophezeite bereits 1931 in seinem Essay „Fifty Years Hence“, dass die Menschheit vom Konzept der natürlichen Produktion abkommen und Fleisch in 50 Jahren ausschließlich im Labor züchten würde. „Wir werden von dem Aberwitz abkommen, ein ganzes Huhn zu züchten, um die Brust oder den Flügel zu essen, und diese stattdessen in einem geeigneten Medium züchten.“
Statt 50 sollten es letztendlich zwar 82 Jahre werden, doch Churchill behielt recht. Denn 2013 züchtete der niederländische Forscher Mark Post den weltweit ersten In-vitro-Burger, den er unter großer Medienaufmerksamkeit vorstellte. Dabei handelte es sich um einen aus Stammzellen gezüchteten Burger aus Rindfleisch. Die Stammzellen wurden dabei von Post und seinen Kollegen ernährt, vermehrten sich und wurden schließlich zu jenen Muskelfasern, aus denen der Burger bestand. Das Forschungsteam – Gerüchten zufolge übrigens von Google-Gründer Sergey Brin finanziert – benötigte insgesamt 20.000 Muskelfasern, um die für einen Burger erforderliche Größe zu erreichen.
Die Food-Trendforscherin Hanni Rützler war damals eine von nur zwei Testesserinnen. „Die Idee der Laborzüchtung stammt ursprünglich aus der Humanforschung und Organtransplantation. Mark Post lieferte 2013 dann quasi den Proof of Concept. Der Burger hatte eine rote Farbe, die aber nicht vom Hämoglobin – die Zellen haben kein Blut – stammte, sondern von roten Rüben.“ Post hatte das Fleisch mithilfe von Rote-Rüben-Saft rot gefärbt. Zusammen mit dem ebenfalls eingesetzten Safran sah der Burger also völlig normal aus – wenn er es auch nicht war. Denn Rützler erinnert sich auch an die ungewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen, die die Sendung begleiteten: „Die Entwicklung des Pattys (Grillfleisch-Scheibe, Anm.) hatte drei Monate gedauert. Es kam in einer Hochsicherheitsbox mit Securitypersonal.“
Das ist angesichts der Summen, die Post und sein Team in dem Laborburger versenkten, nicht weiter verwunderlich. Denn ein Preisschild für das von Rützler verkostete Burgerlaibchen hätte 250.000 € gezeigt. Seitdem ist der Preis für Kunstfleisch zwar deutlich gesunken, aber dennoch bei Weitem noch nicht in der Nähe der Preise von herkömmlichem Fleisch angekommen. Die Massentauglichkeit des Produkts ist weiterhin Posts großes Ziel, das er mittlerweile im Rahmen seines Spin-offs namens Mosameat verfolgt. Doch die hohen Kosten tun dem Markt keinen Abbruch. Denn Post ist nicht der Einzige, der sich an künstlichen Fleischalternativen versucht. Auch die beiden israelischen Gründer Shir Friedman und Ivor Sadir wollen mit ihrem Start-up Supermeat im Geschäft um das künstliche Fleisch mitmischen. „Wir haben das Potenzial von ‚Clean Meat‘ erkannt und unser Unternehmen Ende 2015 gegründet. Wir erkannten, wie wichtig das Thema für unsere Zukunft ist“, so Friedman. Die beiden hatten sich zehn Jahre vor der Gründung von Supermeat kennengelernt – damals waren sie noch nicht als Unternehmer, sondern als Aktivisten tätig. Sadir ist übrigens aus ethischen Gründen seit 20 Jahren Veganer.
Labor vs. Natur: Ressourcenverbrauch für Fleisch
Die beiden scheinen ein heißes Thema gefunden zu haben. So sammelten sie Anfang 2018 3,1 Millionen € für ihre Idee in einer Series-A-Finanzierungsrunde ein. Unter den Investoren war auch die PHW-Gruppe, zu der auch die Geflügelmarke Wiesenhof zählt – einer von Deutschlands größten Geflügelproduzenten. Friedman: „Das zeigt, dass auch die konventionelle Fleischindustrie die Idee unterstützt.“
Ziel der beiden ist es, das eigene Produkt möglichst schnell auf den Markt zu bringen. Dabei handelt es sich um im Labor gezüchtetes Hühnerfleisch, das aus Stammzellen hergestellt wird, die „in einem schmerzfreien Verfahren entnommen werden“. Friedman sieht das eigene Fleisch als „sauberen Zwilling“, wie er sagt: „Clean Meat ist der biologische Zwilling des echten Fleisches, das wir im Supermarkt kaufen. Es wird nur anders produziert.“ Um diese Produktionsweise auch finanzieren zu können, soll das Unternehmen nicht nur weiter wachsen, sondern das eigene Fleisch in einem ersten Schritt auch der gehobenen Gastronomie anbieten.
Doch auch andere – etwa Memphis Meats – haben (künstliches) Blut geleckt. Der US-amerikanische Produzent von In-vitro-Fleisch gilt als einer der bekanntesten Player in der Branche. Nicht umsonst finden sich auf der Liste der Investoren, die insgesamt 20 Millionen US-$ Risikokapital bereitstellten, prominente Namen wie Microsoft-Gründer Bill Gates und Virgin-Chef Richard Branson. Memphis Meats züchtet ebenfalls Fleisch im Labor, hat aber im Gegensatz zu Supermeat neben Huhn auch Rind und Ente im Repertoire. Dabei liegen die Jungunternehmen im globalen Trend. Hanni Rützler: „In den USA sind bereits die ersten Produkte auf dem Markt. Weltweit gibt es acht Forschungsstellen, da wurde in den letzten drei Jahren wahnsinnig viel Geld investiert.“
Auch Memphis Meats will die Produktionskosten für Laborfleisch drastisch senken: Kostete ein halbes Kilogramm zu Beginn der Tätigkeit noch 18.000 US-$, verkündete das Start-up im Mai 2017, ein halbes Kilo für 3.800 US-$ produzieren zu können. Das ist eine Kostensenkung um den Faktor 80 – in vier Jahren. Die Finanzierungsrunde soll es Memphis Meats bald ermöglichen, das halbe Kilo für unter fünf US-$ herstellen zu können. Der Boom ist nicht weiter verwunderlich, denn der Druck, Alternativen zu herkömmlichem Fleisch zu finden, steigt schon jetzt rapide an. 2050 sollen 9,8 Milliarden Menschen auf der Erde leben, die klarerweise auch ernährt werden müssen. Prognosen zufolge wird der Kalorienbedarf im gleichen Zeitraum zum heutigen Niveau um 70 Prozent steigen. Zudem beschleunigt sich das urbane Wachstum, was wiederum wertvolle Agrarflächen zerstört. Alleine bis 2030 sollen der Urbanisierung 300.000 Quadratkilometer – was der Gesamtfläche von Italien entspricht – zum Opfer fallen.
Während also immer mehr Menschen zu ernähren sind, schwinden die Flächen, Nahrung zu produzieren. Gleichzeitig führt der steigende Wohlstand, insbesondere in Asien, und dort wiederum China, auch zu einem erhöhten Fleischbedarf. Die dort stark wachsende Mittelschicht dürfte den aktuellen Fleischbedarf um bis zu vier Prozent pro Jahr steigern. Hinzu kommt, dass die Fleischproduktion extrem ressourcenintensiv ist: Für Kilogramm Rindfleisch benötigt man etwa rund 15.000 Liter Wasser, 2,6 Kilogramm Getreide, über 50 Quadratmeter Nutzfläche und verursacht über 16 Kilogramm Treibhausgase. Doch ein Kilogramm natürliches Fleisch kostet in der Produktion nur 2,2 US-$. Zwar werden auch beim Laborfleisch Ressourcen gebunden, etwa für Strom oder Betriebsmittel. Dennoch: Der Ressourcenverbrauch ist doch deutlich niedriger.
Hinzu kommt: Das von vielen Menschen als Grund für ihren Vegetarismus oder Veganismus angegebene Argument der Tötung von Tieren fiele ebenfalls weg. Rützler sieht das Thema in einem größeren Kontext: „Den Konsumenten ist nicht mehr egal, wie Tiere gezüchtet oder geschlachtet werden. Es ist klar, dass wir eine ganzheitliche Diskussion zu Fleisch und dessen Qualität führen müssen. Der Wandel geht zwar langsam voran, ist aber nicht mehr aufzuhalten. Wir müssen auch Alternativen zu unserem derzeitigen Fleischkonsum größer denken – ich glaube nicht, dass wir alle vegan werden, doch der Anteil an Konsumenten, die öfter fleischlos essen, wird zunehmen.“
Von dem Thema kann auch Godo Röben ein Lied singen. Seit über 20 Jahren ist er bei Rügenwalder Mühle tätig, einem deutschen Traditionsunternehmen in der Fleischproduktion mit einer fast 200-jährigen Geschichte. Dennoch weiß der Mitarbeiter des unter anderem für seine Leberwurst bekannten Betriebs nur allzu gut über Veganer und Vegetarier Bescheid. Bereits 2013 fing man in Niedersachsen nämlich damit an, das Sortiment um fleischlose Bestandteile zu erweitern. „Wir hatten damals, als klassischer Fleisch- und Wurstwarenhersteller, drei Probleme im Sortiment: Das Tierleid, die Gesundheit der Menschen und den Klimawandel. Für Letzteres ist die Tierhaltung für die Fleischerzeugung beispielsweise stärker verantwortlich als der Verkehr.“, erklärt Marketingchef und Geschäftsführungsmitglied Röben. Über drei Jahre legte er intern immer wieder Zahlen vor, dass der Wurstmarkt im Schrumpfen begriffen war. „Uns war klar: Wenn wir, also die Rügenwalder Mühle, noch länger fortbestehen wollen, mussten wir etwas ändern. Pflanzlicher Fleischersatz ist nun mal besser für das Klima und wesentlich gesünder. Das muss in die Köpfe der Menschen rein.“ Was 2013 als Experiment startete – man erhoffte sich einen Absatz von fünf Tonnen –, entwickelte sich schnell zum profitablen Standbein. Bald verkaufte Rügenwalder Mühle über 100 Tonnen an fleischlosen Produkten und musste Personal aufbauen – aus vormals 460 Angestellten wurden binnen kürzester Zeit 600. Heute investiert das Unternehmen, das jährlich rund 200 Millionen € Umsatz erzielt, sein gesamtes Werbebudget von 20 Millionen € in das Marketing von fleischlosen Produkten.
Röben lobt aber auch Inhaber und Aufsichtsratsvorsitzenden Christian Rauffus: „Der Inhaber bewies wahnsinnigen Mut.“ Doch ein Blick in die Welt zeigt, dass wie beim Laborfleisch auch andere diesen Mut aufbringen: So produziert das kalifornische Unternehmen Impossible Foods einen fleischlosen Burger, der sogar blutet. Das gelingt dank dem Hämoglobinbestandteil Häme, einem eiweißreichen Molekül im tierischen Protein.
Unter den Investoren von Impossible Foods – das Unternehmen sammelte insgesamt 273,5 Millionen US-$ ein – findet sich übrigens erneut Bill Gates. Der Microsoft-Chef dürfte neben Laborfleisch auch intensiv auf pflanzliches Fleisch wetten. Auch andere prominente Geldgeber unterstützen Fleischalternativen: Schauspieler Leonardo DiCaprio, der sich auch im Kampf gegen den Klimawandel engagiert, investierte etwa in der letzten, 72 Millionen US-$ umfassenden Finanzierungsrunde in das US-Food-Start-up Beyond Meat.
Rützler sieht in alledem einen größeren Wandel. Die Demokratisierung des Fleischkonsums durch geringere Kosten habe zu einer Sättigung und Orientierung Richtung pflanzlicher Ernährung geführt. Dennoch wären Fleischalternativen ein nächster Schritt: „Es bedeutet ein völlig neues Denken der Fleischproduktion – das ist ein Evolutionsschritt. Ob sich dieser Trend durchsetzt, ist dann eine kulturelle Frage. Es geht in der Frage, ob neue Lösungen akzeptiert werden, auch um Esskultur. Der deutschsprachige Raum ist nicht sehr offen, wenn es um technologische Lösungen in Essensfragen geht“, so Rützler weiter. Deswegen habe sie Mark Post damals auch London als Ort empfohlen, um seinen Laborburger vorzustellen.
Wie stark diese Ressentiments sein können, beschreibt auch Röben anhand der Belegschaft von Rügenwalder Mühle: „Das kann ein Unternehmen ganz schön durcheinanderbringen – das ist ein Kulturschock. Bei uns gab es die ‚Veggies‘ und die ‚Wurstis‘. Jeder versuchte, seine Idee zu verteidigen.“ Letztendlich war das Problem unter der Belegschaft aber relativ schnell aus der Welt geschafft: „Wir haben uns dann zusammengesetzt und besprochen, dass man da keine Ideologie dahintersetzen muss. Es war einfach eine Erweiterung des Sortiments.“
Der Rückgang, den das Unternehmen bei Fleisch und Wurst hinnehmen musste, wurde durch die neuen Produkte ausgeglichen. Um die gesellschaftliche Akzeptanz von pflanzlichem oder Laborfleisch zu steigern, wird auch viel davon abhängen, wie sehr den Kunden die Fleischalternativen schmecken. Den Burger von Impossible Foods, der mithilfe von Häme blutet, finden viele Kunden kaum unterscheidbar von echtem Fleisch. Auch Röben beschäftigt sich intensiv mit der Frage von Textur und Geschmack: „Viele vegetarische oder vegane Produkte schmecken nicht so richtig gut, den richtigen Biss und die Konsistenz hinzubekommen ist nicht so einfach. Doch dieses Problem wird in den nächsten drei bis fünf Jahren gelöst sein. Wir haben schon viele pflanzliche Proteine, die sehr gut geeignet sind das tierische Protein zu ersetzen – etwa Eiweiß aus Soja, Weizen oder Erbsen.“
Inwiefern Laborfleisch oder vegetarische Streichwurst ein Teil der Lösung für die Ernährung einer ansteigenden, sich urbanisierenden Weltbevölkerung sein werden, ist noch unklar. Ist Laborfleisch so weit skalierbar, dass es kostentechnisch mit natürlichem Fleisch konkurrieren kann? Oder werden, um dieses Ziel zu erreichen, ähnlich viele Ressourcen verbraucht wie bei natürlichem Fleisch? Die Expertenmeinungen dazu gehen auseinander. Verbindliche Angaben? Fehlanzeige. Was hingegen bereits begonnen haben dürfte, ist ein grundlegender Wandel unserer Esskultur. Insbesondere hinsichtlich des Klimawandels ist nicht nur der Verzicht auf Fleisch, sondern auch der Ersatz durch pflanzliche oder künstliche Alternativen wünschenswert. Und sobald die Alternativen dem Original in Sachen Geschmack, Textur und Preis zum Verwechseln ähnlich sind, steht auch dem In-vitro-Burger oder der veganen Streichwurst wohl nichts mehr im Wege.
Illustrationen: Valentin Berger
Dieser Artikel ist in unserer März-Ausgabe 2018 „Food“ erschienen.