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Christoph Zulehner über das erfolgreiche „Faken“.
Wir dürfen in einer Zeit leben, in der unglaubliche Veränderungen stattfinden: Die Quantenphysik sorgt selbst bei Wissenschaftern täglich für Überraschungen. In der Neurobiologie werden Phänomene messbar, die wir seit hundert Jahren vermuten, aber bisher nicht beweisen konnten. Die Digitalisierung dringt in unseren Alltag ein und sorgt für Zuversicht wie für Panik vor dem Arbeitsplatzverlust. Die Robotik eröffnet Perspektiven, wie wir sie bisher nur bei Stanisław Lem lesen konnten. Anders gesagt: Der Wissenszuwachs hat seit der Industriellen Revolution einen Raketenstart hingelegt und wir Homo Sapiens werden dabei regelrecht in die Zukunft katapultiert. Das verlangt uns im ersten Augenblick nur mehr Staunen ab. Dann erholen wir uns von ebendiesem und müssen erkennen, dass uns all diese Neuerungen den Blick auf eine der wichtigsten Veränderung verstellt haben: den Tod der Allrounder.
Das exponentiell wachsende Wissen führt nämlich ein unvermeidbares Phänomen mit im Gepäck. Der einzelne Mensch kann diesem Wachstum nicht entsprechen. Wir sind beschränkt – im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei tragen wir, direkt hinter unseren Augen, einen einzigartigen Großrechner mit uns herum. Aber selbst 86 Milliarden Neuronen und 100 Billionen Synapsen helfen uns nicht dabei, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Immerhin entspricht das der Rechenleistung eines 2.500-Terrabyte-Computers. Trotzdem bleiben wir beschränkt. Deshalb müssen wir uns fragen, wie wir damit umgehen. Nicht mitzumachen, mag eine erste Reaktion sein. Allen, die gerade versuchen, sich mit diesem Gedanken anzufreunden, sei in Erinnerung gerufen: Das Internet geht nicht mehr weg! Diese Erkenntnis trifft für alle Neuerungen zu, mit denen wir ständig konfrontiert sind.
Der enorme Wissenszuwachs stellt uns dort vor ganz neue Herausforderungen, wo Wissen unser Produktionsfaktor ist. Das ist der große Bereich der Dienstleistung. 75 Prozent der Menschen arbeiten heute als Dienstleister – Tendenz noch immer steigend. Die Bewältigungsstrategie liegt auf der Hand. Es ist die Kombination aus Spezialisierung und Netzwerk. Stellen wir uns vor, das Wissen dieser Welt sei ein großes Meer. Dieses Meer verdoppelt sich in immer kürzer werdenden Abständen. Und mitten drin schwimmen wir mit unserem individuellen Wissen wie auf einer Scholle. Diese Scholle gilt es zu gestalten.
Eine Möglichkeit ist es, eine Allrounder-Scholle zu formen. Dies bringt uns allerdings zusehends in Schwierigkeiten, denn Allrounder gestalten ihre Schollen breit und ausladend. Die Scholle wird dünner und bricht durch. Allrounder stehen auf dünnem Eis und werden auf dem Meer des Wissens verschwinden. Was also tun? Wie soll die Scholle aussehen, auf der wir unseren Ozean durchschwimmen, ohne in Gefahr zu geraten? Das einzig taugliche Gefährt ist die Experten-Scholle. Sie ist klein im Durchmesser, ragt aber tief in den Ozean des Wissens hinein. Diese Form lädt andere dazu ein, mit uns in Kontakt zu treten, sich mit uns zu verbinden und gemeinsam die stürmische See zu bereisen. Schollen von kleinem Durchmesser werden durchgeschüttelt und sind dem Wellengang ausgeliefert. Aber wenn wir uns umsehen, dann wird klar: Da gibt es viele andere Experten-Schollen, die nur darauf warten, zur gemeinsamen Fahrt eingeladen zu werden. Und so wie es aussieht, stellen sich die Herausforderungen zusehends komplexer dar. Um aber eingeladen zu werden, braucht es Sichtbarkeit und diese will beherrscht sein.
Christoph Zulehner
ist Speaker, Strategieexperte, Unternehmensberater und Faker. Seit über dreißig Jahren beschäftigt er sich mit wissensorientierten Organisationen und ihren Menschen. 2017 hat er das Buch „Make the Fake. Warum Erfolg die Täuschung braucht“ (erschienen im Oriol Verlag) herausgebracht und ist mit den Themen „Make the Fake“ und „Ko-Kompetenz – die Zukunft der Zusammenarbeit“ erfolgreich als Keynote-Speaker tätig.
Grades, Skills, and Attention
Expertise zeichnet sich durch drei entscheidende Parameter aus: Legitimation, Fähigkeiten und Sichtbarkeit. Die Legitimation erhalten wir über Abschlüsse. Abgeleitet von „graduate“ bezeichnen wir sie mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum als „Grades“. Sie sichern die notwendige Erlaubnis. Dabei mag es vordergründig um anerkannte Ausbildungen gehen. Es wird aber gerne übersehen, dass unaufhörlich neue Spezialisierungen entstehen.
Bestimmt geht es Ihnen so wie mir und Sie haben von den folgenden Berufen noch kaum etwas gehört: Hospital Play Specialist, Deep Learning Expert, Robot Companion Technician, Lifestyle Strategist, Telenursing Expert, Gamification Specialist, Nanomedical Engineer, Brain-Computer Interface Designer. Das sind keine Erfindungen. Eines ist aber auch klar: Bestimmte Grades erwerben wir nicht an Hochschulen. Da heißt es, in Vorleistung zu gehen. Und dazu brauchen wir die notwendigen Skills. Sie beantworten die Frage nach dem Wissen, den Fähigkeiten, den Fertigkeiten, der Erfahrung und der Intuition.
Es ist kaum verwunderlich, dass es zwei typische Wege sind, die zur Expertise führen. Zum einen der eher vom Pragmatismus geprägte. Das ist der Weg, auf dem wir immer schon tun, bevor wir dürfen. Denken Sie nur zwei Jahrzehnte zurück: Die ersten EDV-Spezialisten – ja, damals hießen sie weder IT- noch IKT-Experten – haben sich ohne Informatikstudium an die Sache rangemacht. Es waren durchwegs enthusiasmierte, von der neuen Sache begeisterte Freaks. Und sie waren erfolgreich. Zeiten des Umbruchs bieten solche Chancen. Und wir befinden uns in einer Zeit großartiger Veränderungen. Jene, die Neues entdecken, Chancen erkennen und in Vorleistung gehen, nennen wir Pioniere. Jene, die beizeiten nicht die notwendige Erlaubnis erwerben, nennen wir „Hochstapler“.
Zum anderen gibt es den von der Legitimation geprägten Weg. Auf diesem wird nichts ohne Zertifikat begonnen. Es wird nichts ausgeübt, wofür es nicht eine Ausbildung gibt. Universitär versteht sich. Die Ausbildungstrends der letzten Jahre haben vor allem dazu geführt, dass zunehmend dieser Weg beschritten wird. Daran ist zunächst nichts auszusetzen, vorausgesetzt er wird zu Ende gegangen. Hier finden sich nämlich umgekehrt auch jene, welche es verabsäumen, sich die notwendigen Fähigkeiten anzueignen. Ihre Vertreter nennen wir „Legitimiert Ahnungslose“. US-Präsident Donald Trump ist einer der aktuell bekanntesten Repräsentanten. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Neben Legitimation und Fähigkeit ist Sichtbarkeit der Werkstoff der Experten. Fehlt die Sichtbarkeit, kommt die beste Expertise nicht zum Einsatz.
Make the Fake – Die Kunst der Sichtbarkeit
Können Sie sich noch an die Fernsehbilder erinnern, als 1994 in Berlin eine riesige Fassadenbildinstallation errichtet wurde – exakt an der Stelle, an der das im Krieg zerstörte Berliner Stadtschloss gestanden hatte? In originalgetreuem Maßstab sollte die Fassadenbildinstallation den Berlinern und allen Touristen das Projekt vorstellen und dessen Wirkung anschaulich machen. Also vor allem: den Steuerzahlern den Mund wässrig machen, dass sich die riesige Investition lohnt. Die Installation war letztlich eine Werbung für den Wiederaufbau. 2015 fand das Richtfest statt, und 2019 soll der Bau fertiggestellt sein. Worum es hier geht, ist die Fassadenbildinstallation. Sie ist ein wunderbares Sinnbild für den Fake.
„Fake it until you make it“: Der Faker hat eine Mission. Ohne Fake würde unsere Informationsgesellschaft nicht funktionieren. Jede Karriere beginnt auf diese Weise – jeder Experte beginnt einmal, eine Rolle einzunehmen, ohne Erfahrung zu besitzen. Der Faker erwirbt sich das Vertrauen des Marktes, indem er zunächst vortäuscht, was er dann tatsächlich lernt und irgendwann beherrscht. Hochstapler haben kein Interesse an Leistung, legitimiert Ahnungslose kein Interesse am Können. Der Faker spielt nicht; er hat existenzielle Absichten. Der Fake ist eine unerlässliche Kulturtechnik. Er ist es schon immer gewesen, und ist es heute mehr denn je:
Lesen, Schreiben, Rechnen, Faken!
Der Unterschied ist, dass wir zwar alle über unsere Bildungswege sprechen, über das Faken, die heimliche Kernkompetenz der Erfolgreichen aber schweigen. Für alle, die in einer sich immer schneller wandelnden Arbeitswelt erfolgreich oder überhaupt produktiv sein wollen, ist der Fake die Eintrittskarte ins Establishment – in jeder professionellen Umgebung. Der Faker versucht das Vertrauen des Marktes zu gewinnen, indem er zunächst vortäuscht, was er dann tatsächlich lernt und irgendwann beherrscht. Der Fake ist also zweierlei – ein Versprechen an sich selbst und ein Versprechen an den Markt: Ich kann, was ihr von mir erwartet, obwohl ich das noch nie bewiesen habe. Der Faker ist kein Betrüger, sondern versteht sich aufs Überleben im System. Gesellschaft und Markt verlangen den Fake, weil sie sich dadurch besser orientieren können. Fake ist keine negative Strategie der Kompetenzaneignung, sondern eine positive Strategie der Selbstbehauptung. Er ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Profi – erst Schein, dann Sein. Niemand faket zum Spaß, sondern weil es notwendig ist. Zu faken ist ein Zeichen, dass wir etwas wirklich können wollen; dass wir sein wollen, was wir zu sein scheinen. Zurück zum Berliner Stadtschloss: Auch der Faker stellt eine Fassade aus, auf der das zu sehen ist, was er zu werden verspricht – während er hinter der Fassade eifrig an der Fertigstellung oder Erweiterung seines Wissens arbeitet. Darauf vertraut der Markt: dass wir nicht nur so tun, als ob. Dass die Leinwand mit der Fassadenbildinstallation irgendwann fällt und dahinter das entstanden ist, was das große Zielbild versprochen hat.