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Die meisten Unternehmer halten sich an Gesetze, aber nicht alle – viele erfolgreiche Firmen biegen oder brechen den gesetzlichen Rahmen oder verstoßen gegen moralische Wertvorstellungen. Nikolaus Franke, wissenschaftlicher Leiter des Executive MBA Entrepreneurship & Innovation der WU Executive Academy, erklärt, was Unternehmer von solchen Extremfällen lernen können.
Im Jahr 1919 traf sich der Boss einer Bande Kleinkrimineller aus Birmingham, Großbritannien, mit einem Kommissar, der von der britischen Krone geschickt worden war, um in der Stadt „aufzuräumen“. Birmingham war eine Arbeiterstadt und nach dem Ersten Weltkrieg waren seine Bewohner arm; Verbrechen waren an der Tagesordnung. Der Kommissar warnte den Gangster, Thomas Shelby: Sobald er genug Beweismaterial gesammelt habe, werde er die Gang zerschlagen – es sei denn, der Gangster kooperiere mit dem Beamten. Shelby wusste, er und seine Bande waren in Gefahr. Er wusste auch, wie er den Kommissar an sich binden konnte. Er schlug ihm einen Deal vor: Ein paar Wochen zuvor war eine Waffenlieferung durch Zufall in die Hände der Gang gefallen – „25 Lewis-Maschinengewehre, 50 Karabiner (eine weitere Art Gewehr, Anm.), 10.000 Ladungen Munition“, zählte Shelby auf. Fielen diese in die falschen Hände – etwa jene der Irish Republican Army, die damals einen Guerillakrieg gegen die Krone führte –, wäre das ungemütlich für die britischen Streitkräfte in Irland geworden; und die Karriere des Kommissars wäre zu Ende gewesen. Dieser nahm Shelbys Deal an.
Die Szene ist zwar nicht aus einem Business-Lehrbuch, sondern aus der beliebten TV-Serie „Peaky Blinders“, doch Führungskräfte können trotzdem aus Geschichten wie dieser lernen, so Nikolaus Franke. „Wie reagieren Führungskräfte in Stresssituationen? Nicht für alle Probleme gibt es eine formal vorgegebene Lösung. Manchmal muss man über den Tellerrand hinausschauen und Verantwortung auch für unkonventionelle Vorgehensweisen übernehmen, die den bestehenden Regeln möglicherweise nicht zu 100 % entsprechen“, sagt er.
Franke ist Academic Director des Executive MBA Entrepreneurship & Innovation der WU Executive Academy und hat 2001 das gleichnamige Institute for Entrepreneurship & Innovation der WU Wien gegründet. Mit Mitarbeitern erforscht der Professor, was er „die dunkle Seite von Entrepreneurship“ nennt: Unternehmen, die sich an den Grenzen des Legalen und moralisch Akzeptablen bewegen – und manchmal darüber hinausgehen. Es geht dabei natürlich nicht immer um britische Gangster, aber solche Organisationen stehen meistens einzigartigen Herausforderungen gegenüber; und davon, so Franke, kann jeder Unternehmensgründer, Manager und jede Führungskraft auch für die „helle Seite“ lernen.
Franke gruppiert unternehmerisches Handeln anhand zweier Achsen – auf der einen werden Entrepreneure danach sortiert, ob sie innerhalb oder außerhalb des legalen Rahmens arbeiten: Hält sich der Entrepreneur an alle Regeln, bewegt er sich in einer Grauzone oder übertritt er formale Regeln oder juristische Normen? Auf der anderen Achse werden sie in die Gruppen „legitim“ und „illegitim“ eingeteilt: Legitimes Verhalten bedeutet, dass man sich an moralische Regeln hält – gesellschaftlich akzeptierte Normen und Standards; illegitimes Verhalten heißt, das man diese missachtet. Vereinfachend kann man entsprechend unternehmerisches Verhalten in vier Quadranten einordnen. Der wünschenswerte Normalfall sei natürlich, so Franke, legal und legitim zu arbeiten. Es sind die anderen drei Arten, die zu irgendeinem Zeitpunkt auf die dunkle Seite des Entrepreneurships gewechselt sind.
Die erste solche Gruppe ist die von illegalen, aber legitimen Unternehmern. Franke nennt solche Entrepreneure „informelle Unternehmer“, oder auch: „der Robin-Hood-Fall“. Gemeint ist nicht das US-amerikanische Finanzdienstleistungsunternehmen, sondern der mittelalterliche Held in grüner Tunika und Hut mit Feder. Robin Hood, so die Geschichte, hat gegen das Gesetz verstoßen: Er hat die Reichen bestohlen. Aber da er seine Beute an das Volk verteilte, wurde er von der breiten Gesellschaft akzeptiert, gefeiert und unterstützt.
„Die Gesetzgebung war damals sehr ungerecht, aber das war nicht nur im Mittelalter so“, leitet Franke ein zweites Beispiel ein – im kommunistischen China der 1970er-Jahre war es Bauern verboten, Land zu besitzen. In der Provinz Anhui stellten sich einige Bauern gegen das Gesetz und teilten sich das Land untereinander auf, sodass jeder dafür verantwortlich war, seine Felder und Plantagen zu bewirtschaften. Diese Form von Innovation – die Bauern haben zum Wohl der Gesellschaft außerhalb des Gesetzes gedacht – steigerte die Ernteerträge erheblich. 1984 reformierte die kommunistische Partei das Agrarsystem.
Franke zieht auch Parallelen zur heutigen westlichen Welt: „Ein schönes Beispiel ist Uber. Das Ride-Hailing-Unternehmen hat den Taxi-Markt in den USA völlig auf den Kopf gestellt; zum Teil, indem es Vorschriften umgangen hat, weil es sich als Technologieunternehmen positioniert hat.“ Die Nachfrage war aber so groß, dass viele Staaten und Städte ihre Regulierungen angepasst haben. In einigen Städten, etwa San Francisco, ist der Taxi-Markt in den letzten Jahren enorm gewachsen. Und, fügt Franke hinzu: „Konsumenten profitieren von einem breiteren Angebot und können ein Taxi einfach per App buchen. Insgesamt war der Effekt positiv, obwohl Uber einige Gesetze umgangen hat.“ Andere Beispiele für informelles Entrepreneurship sind das Buchungsportal Airbnb und die Filesharing-Plattform Pirate Bay. „Besonders wenn Technologie sehr schnell voranschreitet, kann es passieren, dass Gesetze veraltet sind und sinnvoller Innovation im Weg stehen. Dann können informelle Entrepreneure ein Treiber des Wandels sein“, so Franke über den ersten Quadranten der dunklen Seite des Entrepreneurships. Auch innerhalb von Unternehmen besteht das Problem: Es ist leichter, Vorschriften zu erlassen, als sie wieder abzuschaffen. Das Ergebnis ist oft ein Dickicht an längst überholten Regelungen. Informelle Unternehmer können helfen, dieses Dickicht zurechtzustutzen.
Im zweiten Quadranten sind Unternehmen, die legal, aber illegitim handeln. Beispiele dafür sind Kasinos, Bordelle, Tabakunternehmen oder Waffenhersteller. „Wenn Ihr guter Freund als Manager eines solchen Unternehmens arbeiten würde, würden Sie das wahrscheinlich nicht gerade feiern“, zeigt Franke das zentrale Problem kontroverser Unternehmen auf: Für sie ist es schwierig, Arbeitskräfte zu finden und zu motivieren. „Wenn ich der World Wildlife Fund bin, ist das leicht – das Unternehmen setzt sich für Dinge ein, die fast jeder gut findet.“ Für den österreichischen Waffenhersteller Glock etwa sieht die Sache anders aus; mit ein Grund dafür, dass Gründer Gaston Glock medienscheu war. Dazu kommt, dass Industrien wie Glücksspiel, Waffen oder legale Drogen meist stark reguliert sind.
Gleichzeitig ist die Angebotsseite schmal, was kontroverse Märkte oft sehr profitabel macht. Das zieht Entrepreneure an, die für hohe Profite gesellschaftliche Verachtung in Kauf nehmen: Hugh Hefner (Gründer von Playboy) oder Larry Flynt (Verleger von Hustler) zum Beispiel eckten bei vielen Menschen an. Das muss aber nicht immer schlecht sein: Beate Uhse, die Gründerin des ersten Sexshops der Welt, eröffnete ihr Geschäft zu Weihnachten, um Übergriffe empörter Menschen zu vermeiden; heute gilt sie als Pionierin. Kontroverse Entrepreneure erkennen Trends früh und prägen diese mit – sie können gut mit Widerstand umgehen.
Was können Führungskräfte konventioneller Unternehmen von kontroversen Entrepreneuren lernen? „Solche Unternehmen setzen stark auf ein Wir-Gefühl, um trotz des schlechten Rufs Mitarbeiter anzuziehen und zu behalten“, so Franke; oft seien die Arbeitsbedingungen in solchen Firmen sehr gut. Und: Kontroverse Entrepreneure investieren oft mehr Ressourcen in die Unternehmenskommunikation.
Zuletzt spricht Franke über kriminelle Unternehmen: jene, die illegal und illegitim arbeiten. Er zitiert eine bekannte Studie, die zeigt, dass Entrepreneure eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, in jungen Jahren leichte Vergehen begangen zu haben – etwa betrunken Auto zu fahren oder in der Schule bei Schlägereien mitzumachen –, als Manager. „Für schwere Verbrechen wie Diebstahl gab es dagegen keinen Unterschied zur Kontrollgruppe“, so Franke. „Wie erklärt sich das? Unternehmer sind oft Menschen, die an die Grenze gehen. Sie stellen Dinge infrage und probieren, wie weit sie gehen können. Jede Innovation überschreitet ja auch die Grenze des Bestehenden“, so Franke weiter.
Was können sich legal agierende Unternehmer aber nun von Kriminellen abschauen? Manchmal ist es die Kraft der Verführung – in der Welt der Verbrecher gibt es dafür zahllose Beispiele. Eines der berühmtesten ist Charles Ponzi, der Investoren absurde Renditen versprach, aus den neuen Einzahlungen die früheren Investoren bezahlte und mit diesem Pyramidenspiel in kurzer Zeit ein Vermögen von knapp 200 Mio. € aufbaute (und im Jahr 1920 zu jahrelanger Haft verurteilt wurde). „Fake it till you make it“ ist laut Franke ein real bedeutsames Prinzip im Entrepreneurship: „Ein Start-up-Gründer, der bei einem Pitching-Contest sagt: ‚Ganz ehrlich, wir haben keine Ahnung, wozu die Technologie gut ist, und funktionieren tut sie auch noch nicht‘, wird keine Investoren überzeugen“, bringt es der Professor überspitzt auf den Punkt.
Eine weitere Lehre ist, dass Business Planning essenziell ist. „Man kennt das aus den ‚Ocean’s‘-Filmen (Heist-Filme aus den 2000er- und 2010er-Jahren, Anm.): Dort plant das Team jedes Detail, damit während des tatsächlichen Raubs keine Fragen mehr offen sind“, so Franke. Erfolgreiche Raubzüge in der echten Welt, so der Wirtschaftswissenschaftler, sind ähnlich gut geplant. Als Beispiel nennt er den Dresdner Juwelendiebstahl im Jahr 2019, bei dem Preziosen im Wert von 100 Mio. € gestohlen wurden.
Besonders für junge Unternehmen sei eine gute Planung ebenfalls essenziell, doch gleichzeitig müssen Gründer flexibel und agil sein: In den „Ocean’s“-Filmen läuft ein Detail in letzter Sekunde nicht nach Plan und die Protagonisten müssen improvisieren; in der Business-Welt ist es nicht anders. Franke: „Wie kommuniziert und koordiniert man in einem Notfall? Das müssen Start-up-Gründer mit dem besten Plan genauso lernen wie Danny Ocean (der Hauptcharakter der Filmserie, Anm.).“
Franke betont in unserem Gespräch, dass er natürlich niemandem rät, das Gesetz zu brechen. Aber: „Von negativen Extremfällen kann man viel lernen – und dies zum Guten nutzen.“ Informelles, kontroverses und kriminelles Entrepreneurship bietet solche Extremfälle. Franke: „Die Beispiele zeigen, dass erfolgreiche Entrepreneure über den Tellerrand hinausblicken. Und das können – und sollten – Unternehmer auch innerhalb des gesetzlichen Rahmens tun. Dass eine Idee oder ein Produkt noch nie umgesetzt worden ist, ist kein Argument, es nicht zu versuchen.“
Nikolaus Franke gründete 2001 das Institute for Entrepreneurship & Innovation der WU Wien. Er ist auch Gründer und akademischer Leiter des WU Gründungszentrums und des Executive MBA Entrepreneurship & Innovation der WU Executive Academy. Franke habilitierte sich im Jahr 2001 als Doktor und Diplom-Kaufmann an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Fotos: Gianmaria Gava