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Untergangsszenarien für den Journalismus haben Hochkonjunktur. Chefredakteurinnen und Verleger zerreißt es förmlich: Sie brauchen immer mehr Texte, um via Social Media und Suchmaschinen neue Nutzer auf ihre Seiten zu locken. Gleichzeitig fehlen ihnen nach den Sparmaßnahmen der letzten Jahre oft die Mitarbeitenden, um die nötigen Inhalte zu produzieren. Und zuletzt müssen sie auch noch die Qualität der Inhalte hochhalten, um relevant zu bleiben.
Alles drei zusammen – mehr Texte auf gleichem Niveau bei weniger Personal – lässt sich mit unseren aktuellen Mitteln nicht bewerkstelligen. Ein „unlösbares Dreieck“ aus Textbedarf, Qualitätsstandards und Sparmaßnahmen würden Ökonominnen das nennen. Fatalistische Journalisten würden vielleicht eher von einem Todesurteil sprechen.
Dabei steckt genau hier das größte Potenzial der Medienbranche. Die Innovation der nächsten Jahre wird darin bestehen, technologiegetriebene Antworten auf das Dilemma zu finden. Das Wall Street Journal hat damit bereits begonnen: Eine KI-getriebene Software verfasst die Sport- und Börsenberichte vollautomatisiert. Die sind dann zwar kein nachhaltiges Leseerlebnis, sie ziehen aber Nutzer auf die Seite und garantieren Qualität. Einen Schritt weiter ging die chinesische Xinhua News Agency: Sie tauschte 2019 altgediente Nachrichtensprecher durch Avatare aus. Die sind kontrollierbar und sorgen für mehr Inhalte, ohne dabei an Qualität einzubüßen. Die Washington Post experimentiert mit einer Software, die laufend öffentliche Datensätze analysiert und Journalisten auf Unregelmäßigkeiten hinweist. Ob der Name einer Firma besonders oft in Congressional-Hearing-Transkripten auftaucht oder die Luftverschmutzung im Umkreis eines Kraftwerks unerwartet besser wird, die Software liefert Hinweise, die wiederum Recherchezeit sparen.
Paul Ostwald
...ist Editor-at-Large der Medienplattform Forum.eu, die er neben seinem Studium in Oxford mitgründete. Am Reuters Institute for the Study of Journalism forschte er zur Pressefreiheit im 21. Jahrhundert und schreibt frei für die FAZ, die taz und das Handelsblatt.
Alle drei Ansätze bieten eine Lösung, sind aber für die meisten Medienhäuser kaum umsetzbar. Statt aufwendiger Software gibt es auch eine weitaus einfachere Lösung: Texte tauschen. Die New York Times verkaufte 2019 ihre Inhalte an mehr als 1.500 Zeitungen in 100 Ländern weiter. Für die Times ein millionenschweres Nebengeschäft, für die Kunden ein guter Deal: Sie bekommen neuen Content auf höchstem Niveau, ohne ihr Personal ausbauen zu müssen. Die Kosten sind gering, besonders wenn die Käufer ihre eigenen Inhalte ebenfalls weiterverkaufen. Auch hier wird künstliche Intelligenz eine entscheidende Rolle spielen: Es ist eine Frage der Zeit, bis automatisierte Übersetzungen so gut werden, dass Texte aus der Times in deutschen Zeitungen ohne große Mehrkosten erscheinen können. „Syndizierung“ nennt das die Medienbranche.
Neben dem Kerndilemma gibt es noch viele offene Fragen, in etwa die dynamische Anpassung von Bezahlschranken an Leserverhalten. KI wird in vielen Fällen Teil der Antwort sein. Laut dem JournalismAI-Bericht nutzten 40 % der Medienhäuser weltweit bereits KI, Tendenz deutlich steigend. Das mag jetzt erst mal teuer sein, aber die gute Nachricht ist: Es zahlt sich langfristig aus.
Gastkommentar: Paul Ostwald
Opinions expressed by Forbes Contributors are their own.
Dieser Gastkommentar erschien in unserer Ausgabe 6–21 zum Thema „NEXT“.