KTM’s Playing Captain

Stefan Pierer formte KTM zum größten Motorradhersteller Europas. Das machte die Marke weltbekannt – und Pierer zum Milliardär. Das ist ihm aber nicht genug: Pierer will KTM an die absolute Weltspitze bringen.

Sichtlich stolz begutachtet Stefan Pierer die KTM 450 SX-F. Mehrmals schweift sein Blick auf das in seinem Büro untergebrachte Motorrad, bevor er sich für das Fotoshooting dagegenlehnt. Er lächelt, als er erzählt, dass es sich um das Motorrad von Jeffrey Herlings handelt, dem MXGP-Motocross-Weltmeister von 2018. Die Maschine, die ihm zum Sieg verhalf, war zwar eine KTM 250 SX-F; dennoch: KTM hat sich an das Siegen gewöhnt – was zu einem guten Teil CEO Pierer zu verdanken ist.

Acht Rekordjahre hintereinander

Der Erfolgshunger spiegelt sich nicht nur im Rennsport wider, wo die Oberösterreicher 297 Weltmeistertitel und 18 Dakar-Siege (in Folge) einfuhren. Auch unternehmerisch reitet KTM seit acht Jahren von einem Rekord zum nächsten: 2018 steigerte der Motorradhersteller seinen Absatz um zehn Prozent auf 261.500 Motorräder (der Marken KTM und Husqvarna), die KTM-Mutter KTM Industries AG erhöhte ihre Umsatzzahlen für das erste Halbjahr 2018 um acht Prozent (auf 821,8 Millionen €) sowie das operative Ergebnis (EBIT) um 19 Prozent (auf 78,4 Millionen €). 2017 erzielte KTM Industries einen Jahres­umsatz von 1,53 Milliarden € und beschäftigte 4.334 Mitarbeiter. Damit ist KTM der größte Motorradhersteller Europas. Zum Vergleich: BMW Motorrad erzielte 2018 auch einen Rekordabsatz, verkaufte in diesem Jahr aber „nur“ 165.566 Stück.

Bild: KTM, Trikot, Stefan Pierer, Redbull, Mattighofen

In den kommenden Jahren wird es aber für KTM schwieriger, die steile Wachstums­kurve beizubehalten. „Es geht darum, sich auf herausfordernde Zeiten einzustellen, und das bedeutet intern auch, die Effizienz von Prozessen zu überprüfen; sich nach acht Rekordjahren hintereinander zu fragen: Ist wirklich alles notwendig, was man über die Jahre eingeführt hat?“, sagt ­Pierer beim Interview in der Unternehmenszentrale in Mattighofen. Die Herausforderungen, die der KTM-CEO anspricht, entspringen insbesondere der Volatilität der globalen Wirtschaftspolitik. Für 2019 erwartet KTM daher eine Konsolidierung des europäischen Motorradmarktes – immerhin (noch) der bedeutendste Absatzmarkt der Oberösterreicher – sowie eine weitere Abnahme des US-amerikanischen.

Die Weltspitze als Ziel

Die Ziele von KTM sind deshalb aber nicht weniger ambitioniert. Ab 2022 will der Motorradbauer weltweit jährlich 400.000 Motorräder produzieren. Nachdem die Mattighofener BMW als Konkurrent bereits seit geraumer Zeit hinter sich gelassen haben, orientiert sich Pierer schon wieder neu. Und richtet seinen Blick nach Osten, denn die großen Spieler in Sachen Motorradproduktion sitzen in Japan. Als Benchmark sieht der Steirer aktuell vor allem Suzuki, über kurz oder lang sollen aber auch Honda und Yamaha gefordert werden.

Unternehmenskennzahlen der KTM Industries AG

 

Umsatz
(in Mio. Euro):

Betriebsergebnis (EBIT)
(in Mio. Euro)

Es scheinen genau solche Herausforderungen zu sein, die Pierer besonders liegen. „Die Krise als Chance“ wurde in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit als sein Wahlspruch verortet. 1991 ging KTM fast pleite, der junge Pierer übernahm mit seiner Beteiligungsgruppe Cross Holding (heute: KTM Industries AG) die Mehrheit daran. Die Motorradsparte wurde als KTM Sportmotor­cycles GmbH neu gegründet und Pierer fokussierte das Unternehmen auf das „Wesentliche“, wie er sagt. Sprich: Gelände-Sportmotorräder, insbesondere Enduro Motocross. Die Qualität wurde kontinuierlich gesteigert und ein in der Branche bis dahin ungewöhnliches Thema stark besetzt: funktionelles Design. Denn seit Pierer das Sagen hat, entwirft die Designagentur Kiska sämtliche von KTM entwickelten Motorräder. So schrieb KTM unter ­Pierer vom ersten Jahr an Gewinne – und verkaufte prompt wiederum 6.000 Maschinen.

Fokus auf Straßenmotorräder

Dabei sah Pierer das Projekt zu Beginn gar nicht als langfristiges: „Als ich vor 27 Jahren bei KTM begonnen habe, sah ich es eigentlich als eine temporäre Aufgabe, das Unternehmen zu restrukturieren und an jemanden weiterzugeben. Doch das Produkt und die Menschen haben mir die Leidenschaft für das Unternehmen klargemacht – und was man daraus noch alles machen kann.“ Doch was bedeutet dieses „noch alles“ – wie sieht ­Pierers Zukunftsstrategie aus? „Ein wichtiger Faktor ist der Eintritt in das Straßenmotorrad-Segment mit Husqvarna. Heuer haben wir die ersten Modelle auf den Markt gebracht, in den kommenden Jahren werden weitere folgen. Ein weiterer Punkt ist, dass unser Partner Bajaj (aus Indien, Anm.) entschieden hat, auch Husqvarna-Motorräder im kleinen Hubraumbereich zu produzieren und in Indien zu vertreiben. Indien ist ein Riesenmarkt – es ist der größte Zweiradmarkt der Welt mit 20 Millionen Stück pro Jahr“, so der KTM-Chef.

Bild: KTM, CEO, Stefan Pierer, Porträt, Mattighofen

Stefan Pierer
... ist seit 1995 CEO der KTM Gruppe, Europas größtem Motorradhersteller. Der Steirer übernahm das Unternehmen 1992 mehrheitlich und formte es seither zur Weltmarke. Im Jahr 2018 verkaufte KTM insgesamt rund 261.500 Motorräder.

Die langfristigen Wachstumstreiber sind damit offensichtlich: Ausbau der Marken, insbesondere von Husqvarna, weitere Forcierung von Straßenmotorrädern sowie eine Vertiefung der Partnerschaft mit Bajaj und die Erschließung neuer Märkte. KTM wurde lange Zeit nur mit Offroad-­Motorrädern assoziiert, bis 1997 die Entscheidung fiel, auch Straßenmotorräder herzustellen. Als erstes solches Modell kam 2002 die Reise­enduro Adventure 690. Anfang 2011 führte der Motorradbauer eine komplette Naked-Reihe ein (beispielsweise KTM 790 Duke oder 390 Duke etc.). Dabei fiel die Umstellung nicht leicht, gibt Pierer zu: „Es hat fast ein Jahrzehnt gedauert, bis wir das richtige Verständnis für dieses Marktsegment hatten – vom Händlernetz bis zur Produktpalette.“ Mittlerweile verkaufen die Innviertler aber mehr als die Hälfte ihrer Maschinen im Straßensegment.

In Zukunft wird es aber auch darum gehen, verstärkt eine junge, mobilere Generation anzusprechen. Die globale Mittelschicht wächst, wodurch auch die Zahl von Menschen, die mit einem Motorradkauf liebäugeln, größer wird. Um diesen Trend zu nutzen, setzt Pierer auf Husqvarna, die unter der ­Husqvarna ­Motorcycles GmbH ebenfalls aus ­Mattighofen vertrieben wird. „Mit Husqvarna sprechen wir im Straßenmotorrad-Segment eine andere Zielgruppe an als mit KTM. Das sind ,Cool Riding‘-Fahrer aus den verschiedensten Altersgruppen, nicht jene, die ,ready to race‘ in der Poleposition stehen wollen“, so Pierer.

Deal mit BMW

KTM kaufte Husqvarna, einen der ältesten Motorradbauer der Welt, 2013 seinem Konkurrenten BMW ab. Die Bayern wollten sich fortan unter dem Titel „Urban Mobility“ auf den Straßenverkehr konzentrieren. „Wir befinden uns in einer Nischenindustrie, man kennt sich untereinander, da herrscht ein gewisses Grundvertrauen. BMW ist mein meistgeschätzter Mitbewerber“, so Pierer. Doch wie beim Einstieg in das Straßensegment war sich Pierer gar nicht sicher, ob die Kunden die starke Offroad-Präsenz honorieren würden. Denn Husqvarna stellte bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich Gelände-Sportmotor­räder her. Doch es sollte sich auszahlen: ­Husqvarna verkaufte im ersten Jahr im KTM-Konzern 16.253 Maschinen – bisheriger Rekord. Zwischen KTM und Husqvarna ist seither von ­einer geschwisterlichen Rivalität die Rede. Während Einkauf, Forschung und Entwicklung sowie die Produktion gemeinsam abgewickelt werden, geschieht der Vertrieb separat. Ob sich Husqvarna langfristig im Straßensegment behaupten kann, zeigt sich, falls die Modelle ­­Vitpilen und Svartpilen sich auf dem Markt etablieren können.

Bild: KTM, Motorrad, Motor, Mattighofen

Sechs Jahre sind seit dem letzten Deal also vergangen. Kein Wunder, dass nach der Ankündigung von Matthias Müller 2017, die Volkswagen-Marke Ducati (untersteht der VW-Tochter Audi, Anm.) verkaufen zu wollen, die Gerüchte hochkochten. Laut einem Reuters-Bericht im August 2018 verschoben sich die Pläne unter dem neuen VW-CEO Herbert Diess jedoch. Diess könne sich einen „Zusammenschluss oder eine Partnerschaft mit anderen Marken“ vorstellen. Pierer zeigt Interesse: „Sollte diese Marke, aus welchen Gründen auch immer, disponiert werden, würden wir uns dafür interessieren. Ducati ist die Marke im Bereich Superbike, welches wir nicht im Programm haben.“ Nicht nur aufgrund der sich verändernden VW-Pläne, auch angesichts des eingangs erwähnten KTM-Fokus auf „Effizienz- und Produktivitätssteigerung“, erscheint ein Kauf aktuell jedoch unwahrscheinlich.

KTM's Plattformstrategie

Eine andere Fähigkeit hat sich Pierer jedoch bereits von den Wolfsburgern abgeschaut: Die Plattformstrategie, wonach Entwicklungskosten auf mehrere Marken aufgeteilt werden, gefällt dem KTM-CEO. Dennoch bestehen Unterschiede: „Um die Reibstellen zwischen unterschied­lichen Marken innerhalb einer Familie zu vermeiden, haben wir immer ein Leitorgan für beide Marken in den verschiedenen Verantwortungsbereichen installiert. Das reicht von der Entwicklung über die Produktion bis hin zum Factory Racing“, so der KTM-Boss. Und noch etwas hat die Motorrad- mit der Automobilbranche gewissermaßen gemeinsam: den Trend in Richtung Nachhaltigkeit und Elektromobilität. Dies soll auch für die Motorradbauer in Zukunft einen Markt darstellen: Laut dem Beratungsunternehmen ­­­Prescient & Strategic (P&S) Intelligence wird der weltweite Markt für E-Roller und E-Motorräder bis 2025 um 7,3 Prozent pro Jahr auf 13,86 Milliarden US-$ wachsen. „Ab 2021 gilt die Abgasnorm Euro 5 (legt für Kraftfahrzeuge spezielle Grenzwerte für den Ausstoß von Luftschadstoffen fest, Anm.). Die Themen Abgasvorschriften, Lärm und Prüfzyklen betreffen uns somit genauso wie die Automobilindustrie“, sagt Pierer. Das bedeutet: Motorräder müssen leichter, effizienter und sicherer werden. KTM setzt daher bereits seit einigen Jahren auf leichte Elektromotorräder – und steckt in den kommenden fünf Jahren eine halbe Milliarde € in Forschungs- und Entwicklungsprojekte (etwa in elektrische Antriebssysteme und Leichtbau, Anm.).

KTM-Konzernstruktur

 

Nicht die großen Maschinen wird KTM entwickeln, sondern nur elektrische Roller, Mopeds und Motorräder bis zur 125 Kubikzentimeter-Klasse, wie Pierer in einem Interview mit Die Zeit verriet. Denn aus den großen elektrifizierten Motorrädern lässt sich schlichtweg kein Kapital schlagen: „Die einzige Problematik bei der Elektromobilität ist, dass bei den leistungsstarken Hochvoltmotoren die Herstellungskosten so hoch sind, dass derzeit keine ausreichende Marge erzielt wird. Das ist auch das Los der Automobilindustrie.“ Pierer, Chef von mehr als 4.100 Mitarbeitern, kennt die Prozesse im Unternehmen in- und auswendig. „Ich verlange nicht mehr von meinen Mitarbeitern, als ich selbst vorlebe – ich spiele die Rolle des Playing Captains. Unternehmertum bedeutet ,Trial and Error‘. Es geht um Fleiß, darum, Risiken einzugehen, Dinge umzusetzen – sowie darum, aus Misserfolgen zu lernen“, beschreibt er seinen Führungsstil.

Vom Sanierer zum Lenker

Pierer ist Unternehmer durch und durch. Nachdem er an der Montanuniversität Leoben Betriebs- und Energiewirtschaft studierte hatte, begann er beim Heizkesselhersteller Hoval in Marchtrenk im Vertrieb zu arbeiten. Doch als er dort den Finanzspezialisten Rudolf Knünz kennenlernte, gründete er sein erstes Unternehmen: 1987 starteten die beiden die Beteiligungsgesellschaft Cross Holding. Laut der Wiener Zeitung attestierte Knünz Pierer „einen gewissen Sturkopf“. Doch es war dieser Charakterzug ­Pierers, der sich bezahlt machen sollte. Er kaufte mit KTM Industries schwächelnde Unternehmen wie den Hausdach- und -fassadespezialisten Eternit oder den Skischuhhersteller Koflach, die er sanierte und anschließend mit Gewinn weiterverkaufte. Doch KTM zeigt, dass Pierer nicht nur reiner „Sanierer“ ist.

Der Vater integriert seine zwei Söhne ins Unternehmen: Alex Pierer ist Vorstandsmitglied der Pierer Industrie AG (zu 61,9 Prozent an der KTM Industries AG beteiligt), Clemens sitzt im Aufsichtsrat. Doch die Zeit bei KTM war nicht immer rosig: 2009 musste er im Rahmen der Wirtschaftskrise Stellen abbauen, zudem floppte der neu entwickelte KTM-Sportwagen X-Bow. Dennoch: Seine Arbeit machte nicht nur KTM bekannt, sondern brachte Pierer 2018 erstmals ­einen Platz auf der „World’s Billionaires List“ von Forbes ein. In Sekundenschnelle analysiert Pierer auf die Zukunft angesprochen die wichtigsten Motorradmärkte: „Indien ist der Hauptmarkt der Zukunft“, so der KTM-Chef. Um den japanischen Herstellern Paroli bieten zu können, wird es insbesondere auf die Partnerschaft mit dem zweitgrößten indischen Motorradhersteller Bajaj ankommen. Wurde der Einstieg der Inder bei KTM 1997 von manchen noch eher misstrauisch beäugt, entwickelte sich die Partnerschaft in weiterer Folge gut. Heute hält Bajaj rund 48 Prozent an der KTM AG. In Pune werden Straßenmotor­rad-Einsteigermodelle (125 bis 390 Kubikzentimeter) produziert, die durch beide Unternehmen vertrieben werden. Ab 2019 werden die klein­volumigen Husqvarna-Straßenmodelle in Indien hergestellt.

Bild: Stefan Pierer, KTM, CEO, Motorrad, Redbull

Für die Wunschproduktion von 400.000 Motorrädern (ab 2022) macht Pierer folgende Rechnung: „An die 160.000 werden es (jährlich, Anm.) in Mattighofen sein – die Premium- und Offroad-Produkte. Der Rest wird in Indien produziert werden – also mehr als 200.000 Stück“, so der Unternehmer weiter. Der Hauptwachstumsbringer im asiatischen Staat soll in den kommenden Jahren Husqvarna mit 100.000 Stück sein. Allgemein sieht Pierer in Südostasien eine aufstrebende Käuferschaft für Motorräder. In China ging KTM erst kürzlich ein Joint Venture mit dem bisherigen Produktionspartner CF Moto ein. Ab 2021 sollen Motorräder in Hangzhou gefertigt werden – als drittem Produktionsstandort. Konkret geht es dort darum, die „KTM-Mittelklasse für den Weltmarkt“ zu bauen. „Wenn es zu Beginn 15.000 bis 20.000 pro Jahr sind, wäre es schon viel“, sieht Pierer die Zahlen jedoch erst einmal niedrig.

Für die nächsten Jahre hat der Steirer somit genügend zu tun. Pierer selbst sitzt als Vorsitzender des kürzlich auf sieben Personen aufgestockten Vorstands jedenfalls fest im Sattel, sein Vertrag wurde bis Ende 2023 verlängert. Somit hat er noch ausreichend Zeit, auch in Zukunft seine Siegermotorräder zu begutachten.

Text: Niklas Hintermayer
Fotos: Thomas Dashuber

Dieser Artikel ist in unserer Jänner-Ausgabe 2019 „Growth-Innovation-Forschung“ erschienen.

Niklas Hintermayer,
Redakteur

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