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Megan Jones Bell, Chief Science Officer von Headspace, forscht, wie psychische Erkrankungen frühzeitig erkannt und behandelt werden können.
Megan Jones Bell kennt die Dunkelheit. Wer die junge Frau heute sieht, so aufrecht sitzend und mit offenem Blick, kann sich kaum vorstellen, wie sehr sie als Teenager gelitten hat. Unter ihrer Unsicherheit, den ständigen Vergleichen und der Angst, nicht genug zu sein: nicht stark genug, nicht schlau genug, nicht schön genug. Irgendwann verlor Jones Bell die Kontrolle über ihren Körper. Nur mithilfe ihrer Familie und Verhaltenstherapie überlebte sie Magersucht und Depression. Es ist diese Erfahrung, die sie antreibt. „Ich finde nicht, dass andere Menschen so tief in das Loch fallen müssen wie ich“, erklärt sie.
Mit Mitte 30 ist die Klinische Psychologin ein Rising Star der kalifornischen Start-up-Szene. Sie sucht nach Signalen, die einen psychischen Kollaps ankündigen, will wissen, wann und wo sie Menschen abfangen kann, bevor diese über den Rand der Klippe stolpern. Einige Jahre forschte sie an der Universität von Stanford, seit Herbst (der Artikel stammt aus dem Jahr 2017, somit beziehen sich alle weiteren Zeitangaben ebenfalls auf dieses Jahr, Anm.) arbeitet sie wieder an der medizinischen Fakultät in Wien, wo sie seit 2013 als Visiting Scientist aktiv ist. Ihr zentrales Thema ist Prävention, und sie setzt dafür auf Technologie.
Als Jungforscherin überzeugte sie 2011 den damaligen Präsidenten von Stanford, John Hennessy, von der Idee, ein vielversprechendes Programm namens StudentBodies zur Bekämpfung von Essstörungen auszubauen. Hennessy hörte ihr aufmerksam zu, ermöglichte ihr eine Professur und die Finanzierung für ein Jahr – allerdings mit dem Zusatz, ihr Projekt müsse danach auf eigenen Beinen stehen. Was sie in ihrer Studie herausfand, ist alarmierend: Sechsmal mehr Studenten am Campus sind von Essstörungen betroffen als bislang angenommen. Hochgerechnet betrifft das allein in Stanford 700 Menschen. Was nur wenige wissen: An Essstörungen sterben mehr Betroffene als an anderen psychischen Krankheiten.
Megan Jones Bell
Die gebürtige US-Amerikanerin ist Chief Science Officer bei Headspace und war davor Chief Science Officer sowie Gründungsmitglied von Lantern. Ihre Arbeit fokussiert auf psychischen Erkrankungen – mittels Technologie will sie frühzeitig Symptome erkennen und dann auch effizienter behandeln. Jones Bell ist mit einem österreichischen Forscher verheiratet, lebt zurzeit in Wien und ist Mutter eines Sohnes.
Erkrankte leiden oft zusätzlich an Panikattacken und Depressionen, die häufigste Todesursache lautet nicht Unterernährung, sondern Suizid. Jones Bell wollte unbedingt weitermachen mit dem Projekt, wusste aber nicht, wie. Die Forschungsfinanzierung hängt in den USA am Tropf privater Stiftungen und Mäzene; psychische Erkrankungen zählen nicht unbedingt zu den Verkaufsschlagern im Kampf um Fördergelder. So reifte ihre Idee, ein Geschäft hochzuziehen.
Gemeinsam mit zwei Businesspartnern in San Francisco gründete sie 2012 das Start-up Lantern. Für 49 US-$ im Monat erhalten Betroffene über eine App direkten Kontakt zu Therapeuten. Es gibt geführte Meditationen, Essenstagebücher und Interventionen in Zwölf-Stunden-Abständen. An dem Projekt klebte allerdings auch ein Preisschild für Jones Bell – die Investoren wollten nur einsteigen, wenn sie ihre Stelle in Stanford aufgibt und Vollzeit dabei ist.
„Ich habe diese Entscheidung regelrecht vor mir hergeschoben“, erzählt sie. Eine Woche nahm sie sich dafür frei, dann sagte sie zu. Mit dieser Entscheidung fiel der Startschuss für ihren Aufstieg in der Digital Health Industry. Lantern verfügt mittlerweile über ein Venture-Capital-Volumen von mindestens 22 Mio. US-$ und beschäftigt 40 Angestellte. Das Programm zur Früherkennung von Essstörungen wurde an 38 US-amerikanischen Universitäten implementiert.
Wenn die junge Frau über ihre eigene Erfahrung mit der Krankheit spricht, weicht der mädchenhafte Ausdruck aus ihrem Gesicht. Es gehört viel Mut dazu, öffentlich über eine Essstörung zu sprechen. In den USA habe sie Therapeuten kennengelernt, die Patienten die Schuld geben, ihnen sagen, sie müssten sich zusammenreißen. „Aber es ist eine Krankheit“, sagt sie verärgert. Doch nicht nur das Stigma, das psychischen Leiden anhaftet, ist ein Problem, es gibt auch einen Versorgungsengpass: Laut US-Gesundheitsministerium fehlen in 55 Prozent der Bezirke praktizierende Therapeuten.
Schon bald erkannte Jones Bell aus den Nutzerdaten, dass der Behandlungserfolg stark von der persönlichen Interaktion abhängt: Wer regelmäßig motiviert wird, entwickelt mehr Engagement, seine Lebensgewohnheiten zu ändern. Der Zusammenhang ist schon aus der kognitiven Verhaltenstherapie bekannt. Egal ob digital oder in einer Praxis, wichtig für den Effekt ist immer die Routine.
Auf diesem Prinzip baut Lantern auf. Echte Menschen schicken regelmäßig Nachrichten und rufen an. Wenn ein Kunde abtaucht, kontaktieren sie ihn so lange, bis er sich meldet. Angesichts teurer Behandlungskosten und monatelanger Wartelisten sind solche Programme für Menschen in Not eine gute Zwischenlösung. Doch bei allem Erfolg sind digitale Gesundheitsprogramme unter Fachleuten umstritten: Bei Lantern arbeiten nicht nur ausgebildete Therapeuten, das ist auch bei anderen Apps der Fall. Haftung und Verantwortung heißen die großen Schwachstellen künstlicher Intelligenz. Die Käufer müssen deshalb gleich zu Beginn zustimmen, dass die Coaching-App kein Ersatz für Therapie ist. Bei starken Symptomen verweist Lantern die Benutzer an Ärzte und psychosoziale Zentren.
Ich finde nicht, dass andere Menschen so tief in das Loch fallen müssen wie ich.
Jones Bell ist inzwischen weitergezogen. Seit April 2017 ist sie Chief Science Officer von Headspace, mit mehr als 14 Millionen Downloads der Platzhirsch unter den Achtsamkeits-Apps. Gründer und Stimme des Unternehmens mit Sitz in London und Kalifornien ist Andy Puddicombe. Seine Idee machte den Briten, der Anfang 20 Mönch wurde und halb Asien durchwanderte, zum Millionär. Forbes schätzt den Unternehmenswert auf 250 Millionen US-$; Jahresumsatz: 50 Millionen US-$. Weil es nicht nur ums Geld gehen soll, spendet Headspace für jedes bezahlte Abo einen kostenlosen Zugang an Bedürftige.
Als Jones Bell im Frühjahr zum Bewerbungsgespräch in den Flieger stieg, war sie nicht allein. „Ich war ganz offensichtlich schwanger“, erzählt die Psychologin lachend. Eine groteske Situation, schließlich dürfen Arbeitgeber nicht nach der Familienplanung fragen. Also habe sie es selbst angesprochen und gleich zwei Bedingungen für den Jobwechsel genannt: „Erstens, dass ich zu Hause bleiben will, da ich im Juni ein Kind erwarte, und zweitens, dass ich mit meinem Mann in Wien lebe und nicht umziehen will, bis er eine neue Anstellung gefunden hat.“ Zu ihrer Überraschung reagierten alle gelassen. „Warum sollte das ein Problem sein?“, bekam sie stattdessen zu hören. Und: „Herzlichen Glückwunsch!“
Im Juni kam ihr Sohn Lorenz zur Welt. Jones Bells Eltern waren zu Besuch in Wien; während des Interviews gingen sie mit ihm spazieren. Auch ihr Mann, ein österreichischer Wissenschaftler und in Top-Position, hat sich nach der Geburt freigenommen. Zusammen wollen sie noch in der Karenz nach Kalifornien fliegen, bevor sie im November wieder einsteigt. Noch gibt es viel Unterstützung. Wie aber geht es weiter, wenn der Alltag zurückkehrt?
„Wir haben für den Winter einen Krippenplatz gefunden“, sagt Jones Bell. Dann werden beide wieder arbeiten. Auf Familienzeit bestehen sie weiterhin: Gemeinsam frühstücken, Lorenz in Ruhe in die Krippe bringen, das müsse drin sein. Was an Arbeit liegen bleibt, wird eben in den Abend verschoben, das sei jetzt auch schon der Fall. Wenn Jones Bell ab Oktober wieder loslegt, wird Lorenz vier Monate alt sein. Für österreichische Verhältnisse ist das ein junges Alter für die Rückkehr der Mutter in den Job, eine US-Amerikanerin kann davon nur träumen: Je nach Arbeitgeber beträgt der Mutterschutz dort nur wenige Wochen.
Anders als erwartet hat nicht sie als Mutter Kritik für die Entscheidung geerntet, sondern ihr Mann – weil er sich freigenommen hat. Viele Kollegen warnten ihn, so viel Auszeit schade seiner akademischen Karriere. Er tat es trotzdem. Das Paar scheint in diesem Punkt einer Meinung zu sein: „In unserem Leben gibt es fixe Faktoren: das Kind und die Partnerschaft. Es sind unsere Jobs, die flexibel sein müssen“, meint sie. Höchstleistung ja, aber zu den eigenen Bedingungen.
Ob sie sich vorstellen könne, zwei oder drei Jahre zu Hause zu bleiben, wie es in Österreich möglich ist? Die Frage ist heikel, Jones Bell holt tief Luft. Es sei toll, wenn Frauen die Wahl haben, antwortet sie schließlich. Für sie persönlich sei es nicht das Richtige. „Ich bin zu aufgeregt und zu begeistert von dem, was ich tue.“ Vier Jahre lang pendelte die Klinische Psychologin zwischen den USA und Österreich. Wenn das Projekt ihres Mannes in Wien endet, ist Kalifornien als nächster Lebensmittelpunkt vereinbart. „Wir haben einen Deal“, meint Jones Bell. Es gehe nicht um gegenseitiges Aufrechnen, wer wann in der Beziehung zurückstecken musste, sondern um die Balance.
Als Spitzenqualifizierte verhandelt es sich natürlich leichter, das wisse sie. Nur wenige Frauen können ablehnen, wenn der Arbeitgeber Homeoffice verweigert. Jones Bell will junge Frauen unterstützen, selbstbewusster aufzutreten und sich gegenseitig zu stärken. Deshalb sitzt sie im Vorstand von „Iamthatgirl“, einer Vereinigung, die junge Mädchen dazu aufruft, sich Gehör zu verschaffen. „I promise to lift other girls up, have their backs, and make it safe for them to be exactly who they are. I’m on a mission to raise the standards for how we treat each other, how we treat ourselves, and how we treat the world“, steht im Online-Formular. Wer der Bewegung beitritt, stimmt dieser Aussage zu.
Mit dem Job hat es sofort geklappt, ob mit oder ohne Babybauch. Warum wollte sie eigentlich weg von Lantern? „Headspace hat mich schon lange fasziniert. Das Programm ist Lantern sehr ähnlich – nur erreichen wir damit 14 Millionen Menschen. Mir war immer klar: Später will ich auf einer größeren Leinwand malen“, sagt sie strahlend. 14 Millionen Kunden bedeutet Zugriff auf wertvolle Daten. Verglichen mit der Therapie- und Medikamentenforschung steckt die Wissenschaft über die Wirkung von Meditation noch in den Kinderschuhen. Jones Bell erhofft sich hier künftig bahnbrechende Erkenntnisse.
Gemessen wird der Effekt auf drei Ebenen: psychisch (über Befragung von Anwendern), physisch (durch Aufzeichnung von Herzfrequenz, Blutdruck oder der Ausschüttung des Stresshormons Cortisol) sowie durch bildgebende Verfahren (fMRI). Die sind allerdings sehr teuer. In den USA gibt es erste Ergebnisse mit Gehirnscans: Meditation wirkt demnach nicht nur auf unser Bewusstsein, sondern lässt Bereiche im Gehirn schrumpfen, die an der Steuerung von Angst beteiligt sind.
Wer bei Headspace als Neukunde einsteigt, macht die ersten zehn Tage nichts anderes, als mithilfe von Andy Puddicombes Stimme bewusster zu atmen. Das klingt leicht, fällt aber erstaunlich schwer. Jones Bell selbst kam als Studentin zur Meditation, als ihr Körper mit Migräne und Schlafstörungen auf den Druck im Studium reagierte. Bis heute praktiziere sie die Übungen jeden Tag, oft auch gemeinsam mit ihrem Mann – und jetzt eben mit Baby auf dem Bauch.
Dieser Artikel ist in unserer September-Ausgabe 2017 „Women“ erschienen.