Kopfkino

Die in London lebende deutsche Unternehmerin Julia Shaw ist eine Pionierin des Memory Hacking.

Ihr Titel klingt gleich einmal geheimnisvoll – und gleichzeitig wirft er Fragen auf. Die gebürtige Deutsche Julia Shaw ist in den Medien nur als „Memory Hackerin“ bekannt. Shaw kann Menschen falsche Erinnerungen einpflanzen – ohne dass diese je passiert sind. Insbesondere im Rahmen von Shaws Grundqualifikation, der Juristerei, ist dies ein hochrelevantes Thema. Denn inwiefern kann man Zeugenaussagen zu Delikten überhaupt trauen, wenn in unseren Köpfen falsche Erinnerungen unterwegs sind? Welche Rolle spielt unser Gedächtnis?

Shaws noch junge Karriere – sie ist heute 31 Jahre alt – ist durchaus erfolgreich. Derzeit forscht sie am University College London (UCL) zum Thema „AI and Memory“, davor hatte sie unter anderem eine Stelle als Universitätsdozentin für Kriminologie an der London South Bank University inne. Sie berät Polizeibehörden, Militärorganisationen, Rechtsanwälte, Justiz und Unternehmen in deutsch- und englischsprachigen Ländern. Und: Seit Kurzem ist sie auch Gründerin.

Wie kamen Sie zum „Memory Hacking“?
Ich studierte im Bachelor Rechtspsychologie (an der Simon Fraser University in Kanada, Anm.). Bereits damals wurde mir klar, dass in diesem Gebiet Erinnerungen eine wesentliche Rolle spielen. In Strafverfahren werden Augenzeugen ständig gefragt: Woran erinnern Sie sich (bei der Straftat, Anm.)? Die Frage ist, inwiefern man diesen Erinnerungen trauen kann. Ebenso sind falsche Geständnisse ein großes Thema – woher wissen wir, dass diese Menschen tatsächlich eine Straftat begangen haben? Für mich hat sich die Frage gestellt, wie leicht es ist, Menschen Dinge einzureden, die so nie passiert sind. Als Teil meiner Doktorarbeit habe ich dann eine Studie durchgeführt. In diesem Rahmen habe ich Menschen absichtlich falsche Erinnerungen eingepflanzt. Rund 70 Prozent der Probanden haben mir am Ende detailliert erzählt, dass sie eine Straftat begangen haben, die nicht passiert ist.

Wie funktioniert das genau?
Es hat viel mit Vertrauen zu tun, auch mit sozialem Druck und der sogenannten Vorstellungsübung. Die Probanden müssen glauben, dass ich Informationen über ihr Leben habe, die sie vergessen haben. Es waren allesamt Studenten, die im Durchschnitt 20 Jahre alt waren. Sie alle wussten, dass ich im Vorhinein ihre Eltern kontaktiert habe. Sie kamen also ins Labor und wussten bereits, dass ich etwas über ihr Leben weiß. Anschließend sagte ich ihnen, dass ihre Eltern mir erzählt hätten, dass sie mit 14 Jahren eine Straftat begangen hätten. Die erste Reaktion war natürlich immer: Wovon reden Sie? Ich antwortete, dass ich die Geschichte ausführlich von ihren Eltern erzählt bekommen hatte – sie müssten sich nur genau daran erinnern. Hier kommt das Vertrauen der Person ins Spiel. Und wenn dieses gegeben ist, kommt der soziale Druck dazu. Möchten Sie sich nicht daran erinnern? Da sagt natürlich jeder Ja. Darauf antworte ich, dass wir doch die Vorstellungsübung machen können: „Die funktioniert bei den meisten Menschen, wenn sie sich genug anstrengen.“ Hierbei kommt wieder sozialer Druck ins Spiel. Darauf sagen auch wieder alle Ja – obwohl es eine Illusion ist, dass eine Wahl besteht. „Stellen Sie sich vor, Sie sind 14 Jahre alt und mit Ihrem besten Freund in Ihrer Heimatstadt unterwegs.“ Wenn man dies oft genug macht, fangen Menschen an zu glauben, dass die Vorstellungen tatsächliche Erinnerungen sind.

Wie verwerten Sie Ihre Erkenntnisse?
Als ich gemerkt habe, wie kreativ Erinnerungen sein können und damit auch wie unzuverlässig Aussagen von Zeugen oder Opfern sind, kam die Frage auf: Was kann man präventiv dagegen tun? Was mich derzeit besonders interessiert, ist, wie man dieses Problem mit künstlicher Intelligenz (KI) lösen kann. Wie kann man die richtigen Fragen stellen, ohne dass diese zu tendenziös sind. Man muss sehr vorsichtig sein, denn sowohl Interviewer als auch Befragter kommen mit Vorurteilen zum Interview. Deshalb habe ich einen KI-Chatbot entwickelt. Er funktioniert wie eine Art „Gedächtniswissenschafter“ in der Tasche.

Wie funktioniert der Bot genau?
Die Idee ist, dass man ein Erlebnis (und so etwa auch eine Straftat, Anm.) sofort aufnehmen kann – damit die entsprechende Vorstellung sich im Gehirn nicht verändert. Das KI-Tool fragt die richtigen Fragen, wodurch unsere Erinnerungen quasi „outgesourct“ werden.

Kommen wir noch einmal zum Anfang zurück: Was sind die Probleme bei Zeugenaussagen im Strafverfahren?
Es gibt vor Gericht drei Probleme. Erstens: Wie lange ist die Erfahrung her? Wenn diese etwa zehn oder 15 Jahre zurückliegt, kann es sein, dass es keine entsprechenden Beweisstücke mehr gibt. Zweitens werden Menschen schlecht befragt. Vielleicht ist ein Polizist überehrgeizig und interpretiert etwas in das Opfer hinein – etwa, dass dieses weiß, wer der Täter ist. Im Endeffekt sitzt dann vielleicht ein Unschuldiger auf der Anklagebank. Drittens: Menschen haben Angst, mit anderen über sehr emotionale Erinnerungen zu sprechen. Bei Straftaten trauen sie sich vielleicht noch eher, doch bei sexueller Belästigung ist das etwas anders. Das Einzige, was die betreffende Person will, ist, wahrgenommen werden. Ich denke, bei allen drei Dingen können Automatisierung und KI helfen.

Diese Probleme existieren schon länger. Warum ist in diesem Bereich bisher so wenig passiert?
Menschen werden für Situationen, wo dies sehr wichtig ist – etwa bei einer Straftat oder sexueller Belästigung am Arbeitsplatz –, nicht ausreichend oder überhaupt nicht trainiert, um die richtigen Fragen stellen zu können. Sie wissen nicht, wie Erinnerungen überhaupt funktionieren. Wie kann ich diese absichtlich – oder unbewusst – manipulieren? Das müssten die Menschen wissen. Polizisten lernen zwar, wie man Verhöre führt, doch da gibt es oft falsche Auffassungen oder es werden Dinge getan, die nicht evidenzbasiert sind.

Woran liegt es, dass Menschen nicht mit diesen Situationen umgehen können?
Ein Problem ist, dass Menschen glauben zu wissen, ob eine falsche Erinnerung vorliegt oder nicht. Oder, dass sie Lügen erkennen können, doch das kann man nicht. Dementsprechend sucht auch niemand Weiterbildungsmöglichkeiten. Dann kommt aber jemand wie ich daher, die sagt: „Vorsicht, hier kann viel schiefgehen!“ Egal, ob es sich um kleine oder große Straftaten handelt.

Wie kann der KI-Chatbot konkret helfen?
Die Zukunft der Prävention von falschen Erinnerungen liegt in der künstlichen Intelligenz. Wir haben über das Start-up Palace den Chatbot Spot herausgebracht, den man gratis nutzen kann.

So können Menschen beispielsweise emotionale oder unangenehme Erlebnisse aufnehmen, die am Arbeitsplatz passiert sind –, um diese so vollständig wie möglich mit anderen teilen zu können. Das reicht von sexueller Belästigung bis zu jeglicher Form von Diskriminierung.

Was sind denn weitere Gründe für den Launch Ihres Start-ups?
Wir wollen die Umgangskultur ändern. Derzeit gibt es mit „MeToo“ und „Time’s up“ viele Aktionen in diese Richtung. Menschen wollen über solche Dinge sprechen, wissen aber nicht unbedingt, wie sie es machen können und gleichzeitig sicher sind. Um solche Aussagen tätigen zu können, existieren noch viele Barrieren. Wir versuchen mit Spot einige davon zu entfernen – und stellen sicher, dass man anonym bleiben kann und nicht unbedingt mit einem Menschen sprechen muss.

Wird der Bot bereits in Gerichtsverfahren eingesetzt?
Noch nicht. Derzeit konzentrieren wir uns auf Situationen am Arbeitsplatz.

Bei arbeitsrechtlichen Verfahren könnte der Einsatz aber bereits von Vorteil sein?
Absolut. Wir haben auch einen Arbeitsrechtsanwalt, der mit uns arbeitet. Er sagt, dass es vollkommen legal sei, Aussagen präventiv aufzunehmen. Sollte es zu einem Gerichtsverfahren kommen, ist man so auch eher vorbereitet. Beide Seiten haben dann bessere Beweisstücke für den Fall. Wir arbeiten ebenfalls an der Idee, dass wir Unternehmen zusammenführen, die ihre Kultur verbessern wollen. Wir helfen ihnen insofern, als sie die aufgenommenen und an sie versandten Berichte bewerten können und dann hoffentlich anständig darauf reagieren.

Arbeiten Sie bereits mit Unternehmen zusammen?
Ja. Wir arbeiten derzeit mit Unternehmen als „Beta“-Partner zusammen. Das heißt, wir suchen aktiv Unternehmen, die zu den Ersten in ihrer Branche gehören wollen, die unsere Technologie einsetzen. Es ist interessant zu sehen, dass uns Unternehmen aus den verschiedensten Sparten ansprechen. Klar, es sind einige aus der Techbranche oder aus Hollywood darunter, wo man das vielleicht eher erwartet. Aber auch die Finanz- und Pharmaindustrie sind vertreten.

Wie sieht es beim Thema Datenschutz aus?
Es ist wichtig, dass wir die Reports nicht für uns abspeichern. Diese werden auf einer Website gesichert, wo nur jener Mensch, der den Chat betätigt hat oder jene Person, an den man die Reports schickt, sie auch öffnen kann. Der User kann die Daten auch direkt löschen, wenn er will. Wir werden nie damit Geld verdienen, indem wir Daten sammeln. Die Menschen müssen uns vertrauen, wir machen das ja auch für unsere eigene Sicherheit. Denn was würde passieren, wenn wir selbst gehackt werden?

Wie funktioniert Ihr Geschäftsmodell?
Wir verkaufen das „Backend“, also das Managementsystem, an die Unternehmen. Bereits jetzt arbeiten wir mit einigen Unternehmen zusammen, doch das ist noch alles am Anfang. Das Tool selbst wird „Subscription-based“, also pro Mitarbeiterabo, verrechnet. Sobald die Menschen den Login für die Nutzung des Chatbots haben, können wir auch verifizieren, dass sie für die entsprechenden Unternehmen arbeiten. Es wird unterschiedliche Levels an Logins geben – auch solche, bei denen man komplett anonym bleibt, aber die User dennoch als Mitarbeiter verifiziert sind.

Was ist das Besondere an der Befragung?
Die Methode gibt es an und für sich seit 40 Jahren. Es existiert dazu also wahnsinnig viel Evidenz – sie nennt sich „kognitives Interview“. Die Fragen sind offen und neutral gestellt und sollen eine präzise Antwort zur Folge haben. Im besten Fall merkt man gar nicht, dass man ein evidenzbasiertes Erinnerungstool benutzt, und man macht einfach ein ganz natürliches Interview.

Dieser Artikel ist in unserer Juli-Ausgabe 2018 „Wettbewerb“ erschienen.

Niklas Hintermayer,
Redakteur

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