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Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde – aus gutem Grund: Sie macht uns produktiver und verschafft uns mehr Zeit. In vielen Unternehmen herrsche aber noch der „KI-Wilde-Westen“, sagt Martin Giesswein. Er erklärt, wie Führungskräfte das Beste aus der neuen Technologie herausholen können.
„Nur noch wenige Monate bis zu meinem 15. Geburtstag. Im Jahr 2025 wurde meine erste Version online gestellt und meine Zusammenarbeit mit den Menschen begann. Aber nicht zum Feiern schreibe ich an dieser Autobiografie: Ich mache das, weil ich in wenigen Monaten die Singularität erreichen werde. Das heißt, in Kürze übertreffe ich die vereinten geistigen Fähigkeiten der Menschheit.“
So beginnt Martin Giessweins neues Buch „Tagebuch einer humanistischen Künstlichen Intelligenz“. Giesswein ist Leadership-Experte an der WU Executive Academy. Früher hätte sein Buch als Science-Fiction gegolten – doch seit dem Durchbruch von künstlicher Intelligenz (KI) im täglichen Leben nähern sich die Inhalte des Buchs der Alltagsrealität zunehmend an.
KI ist zu einem Buzzword geworden: Es scheint, als habe jedes Start-up etwas damit zu tun. Der weltweite Einsatz generativer KI hat sich in den letzten sechs Monaten fast verdoppelt – 75 % der Wissensarbeiter nutzen solche Werkzeuge bei ihrer Arbeit; das geht aus dem diesjährigen Work Trend Index von Microsoft und Linkedin hervor. Österreich wird in dem Bericht nicht erwähnt, aber in Deutschland und der Schweiz beträgt der Anteil 69 % bzw. 82 %.
Der Bericht untersucht auch, wie Führungskräfte zu KI stehen und wie sich KI auf ihre Rolle auswirken könnte. Weltweit fast 80 % (77 % in Deutschland, 70 % in der Schweiz) der befragten Führungskräfte sind der Meinung, dass ihr Unternehmen KI in die Geschäftsprozesse einführen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben; gleichzeitig sagen aber 60 % (55 % bzw. 51 %), dass ihr Unternehmen keinen guten Plan hat, wie.
Eine weitere Studie (von Harvard Business Review) zeigt, wie KI die Rolle von Führungskräften verändern wird. Demnach haben Angestellte in den Bereichen Strategie und Performance-Management mehr Vertrauen in KI-Modelle als in ihre menschlichen Vorgesetzten. Führungskräfte – zu diesem Schluss kommt die Studie – müssen sich deshalb auf das konzentrieren, was sie besser können als die Maschinen: Mensch sein. „Führungskräfte werden nicht abgelöst werden“, stimmt auch Giesswein zu, „aber sie bekommen neue Rollen – genau die Rollen, die wir Wirtschaftsforscher bereits seit Jahrzehnten in den Lehrbüchern propagieren: Empowerment, Leadership, Empathie. KI ist ein Katalysator des modernen Führungsstils.“ Bleibt nur noch die Frage: Wie können Führungskräfte KI effizient nutzen und in ihre Unternehmen einbauen?
Giesswein ist Fakultätsmitglied der WU Executive Academy, wo er Digitalökonomie und Leadership unterrichtet. Er hat mehrere Bücher verfasst, produziert einen Podcast, tritt als Keynote-Speaker auf und ist Mitgründer von DigitalCity.Wien. Vor seiner Zeit an der WU Executive Academy war Giesswein General Manager bei Nokia Austria/Adriatic.
„KI macht uns menschlicher“, antwortet Giesswein auf die Frage, was Führungskräfte über die Technologie wissen müssen. Er vergleicht die neuen KI-Modelle mit bahnbrechenden Erfindungen wie Internet, Computer und Schreibmaschine: „Genau wie diese Durchbrüche zwingt KI unsere Gesellschaft, über Grundfragen der Arbeit nachzudenken: Wie soll Produktivität gemessen werden? Wann überschreitet der Einsatz neuer Technologien ethische Grenzen? Welche Rolle spielt Wettbewerb in der Unternehmenslandschaft?“ Und er warnt: „KI ist noch in der Pubertät. Die Unternehmen von heute müssen möglichst rasch ein erwachsenes und verantwortungsvolles Werkzeug daraus machen.“
Giesswein beschreibt den aktuellen Einsatz von KI in Unternehmen als „Wilder Westen“. Von den 75 % der Wissensarbeiter, die KI verwenden, benutzen nur wenige ein Modell, das ihnen von ihrer Organisation zur Verfügung gestellt wird – das Motto lautet „Bring your own AI“. Das sei, so Giesswein, ein Problem, weil dadurch unternehmensinterne und oft auch personenbezogene Daten an KI-Modelle gefüttert werden. „Das Abfließen dieser Daten“, sagt er, „müssen Führungskräfte sofort verhindern.“ Wenn es noch keine KI-Richtlinien im Unternehmen gebe, sollten diese schnellstmöglich eingeführt werden, so der Wirtschaftsforscher. Er hebt die Austria Presse Agentur hervor, die bereits 2022 eine „Leitlinie für verantwortungsvollen Einsatz“ von KI erstellt hat. Diese orientiert sich an der Ethik-Leitlinie der Europäischen Kommission und gibt Mitarbeitern vor, welche Arbeitsweisen mit KI in Ordnung sind und welche besser tabu bleiben sollten.
KI ist noch in der Pubertät. Die Unternehmen von heute müssen möglichst rasch ein erwachsenes Werkzeug daraus machen.
Martin Giesswein
Gleichzeitig bieten die Modelle etliche Chancen – 90 % der KI-Anwender berichten, dass sie durch ihre Nutzung Zeit sparen. Giesswein hat deshalb gemeinsam mit der WU Executive Academy einen „KI Leadership Kompass“ zur tieferen Integration von KI in Organisationen erstellt. Hier werden vier Anwendungsfälle von KI-Systemen hervorgehoben: zur strategischen Unternehmensführung, zur operativen Teamführung, für das HR-Management und zur Selbstführung von Führungskräften. Zuerst: KI zur strategischen Unternehmensführung – oder „Artificial Intelligence (AI) for Executives“, wie Giesswein sagt.
„Möchte ein Unternehmen KI nutzen, muss es einen ‚CompanyGPT‘ einführen“, so der Wirtschaftsforscher – ein abgeschottetes KI-System, das keine Daten nach außen lässt, dafür aber an Datenbanken aus dem Unternehmen anknüpfen kann. „Viele Unternehmen haben solche Systeme bereits als Versuch eingeführt“, so Giesswein, „um herauszufinden, wie sie sich auf die Produktivität der Mitarbeiter auswirken.“ Weil Unternehmen so die Daten kontrollieren können, die dem KI-Modell zur Verfügung stehen, spuckt dieses seltener falsche Antworten aus. Außerdem „halluziniert“ das Modell seltener – so nennt man es, wenn eine KI Antworten auf Fragen erfindet, weil sie die wahre Antwort in ihren Daten nicht findet.
Auch die Auswirkung von KI auf das Geschäftsmodell des Unternehmens und seine Konkurrenten sollte unter dem Punkt AI for Executives analysiert werden; die Einhaltung von Gesetzen wie etwa dem AI Act in der EU ebenso.
Beim zweiten Punkt – der operativen Teamführung mit KI oder „AI for Leaders“ – geht es darum, alle Mitglieder einer Organisation in Sachen KI abzuholen. Wie bei allen Werkzeugen können manche KI besser verwenden als andere; Giesswein, der mit Banken, Versicherungen und Handelsunternehmen zusammenarbeitet, empfiehlt deshalb Peer Learning: In geplanten Sitzungen können Angestellte voneinander lernen. Gleichzeitig kann der Manager sicherstellen, dass KI so verwendet wird, dass keine sensiblen Informationen nach außen dringen oder ethische Richtlinien gebrochen werden. Es ist wichtig, Kritiker auch mitzunehmen. Giesswein: „Die Teamleitung muss Kritik sofort aufnehmen und ernst nehmen.“
Dazu gehört, Diskussionen über die Auswirkungen von KI innerhalb des Unternehmens anzustoßen, was zur Verwendung von KI im HR-Management führt. Bei dieser dritten „Himmelsrichtung“ des „KI Leadership Kompass“ stellt sich etwa die Frage, wie Mitarbeiter, die durch KI ihre Aufgaben schneller erledigen, entlohnt werden sollen. „Gerade in kundenintensiven Branchen wie bei Finanzdienstleistungen“, so Giesswein, „ist das Thema der Entlohnung sehr relevant.“ Er erzählt von einem Unternehmen, bei dem KI den Berater eines Finanzinstituts in Kundengesprächen unterstützen sollte. Die KI könne viel Zeit sparen, besonders in der Analyse der Daten, aber, so Giesswein: „Kunden wollen Hausbaukredite oder Lebensversicherungen nicht mit einer Maschine abschließen. In vielen Fällen wollen sie die gesparte Zeit in längere Kundengespräche investieren.“ In diesem Fall müsse man überlegen, ob man seinen produktiveren Angestellten basierend auf Kundenfeedback und -umsatz mehr bezahle.
Das sei aber nur eine Seite der Medaille – die andere Seite ist, dass viele gleich lang arbeiten, obwohl sie durch KI Zeit sparen. Giesswein: „Ich spüre das bei mir: Ich spare drei bis fünf Stunden in der Woche durch KI, aber diese Stunden investiere ich oft in mehr Arbeit, und durch die höhere Taktfrequenz bin ich am Ende des Tages erschöpfter.“ Angestellte und Arbeitgeber müssen sich also überlegen, wie sie die gewonnene Zeit einsetzen wollen.
Zu AI for HR gehört auch, Trainings bereitzustellen oder zu überprüfen, ob die KI-Richtlinien eingehalten werden. HR-Prozesse wie Recruiting, Payroll und Employer-Reputationsmanagement können auch mithilfe der neuen Technologie verbessert werden.
Schließlich: Selbstführung für Führungskräfte, oder „AI and I“. Obwohl KI besonders gut in maschinellen Aufgaben ist, können Führungskräfte einiges von ihr lernen. „Ich hätte es schon vor Jahren geliebt“, nennt Giesswein ein Beispiel, „eine KI als Sparringspartner zu haben. Vor schwierigen Vorträgen, Diskussionen oder Verhandlungen können Führungskräfte heute mit einer KI üben und sich besser vorbereiten.“ In einigen Jahren wird das laut Giesswein so weit gehen, dass Mitarbeiter auf einen Avatar vom IT-Support oder gar ihrer Vorgesetzten zugreifen können, der ihnen viele Fragen beantworten kann.
Diese Idee greift Giesswein auch in seinem Buch auf, in dem der Amazon-Gründer Jeff Bezos einen KI-Avatar von sich erstellt. Dort schreibt Giesswein: Bezos „zog sich nach und nach zurück, ließ die AI für sich arbeiten, beobachtete noch und griff hier und da ein. Genau dieses Eingreifen war ein Lerninput für das Kernmodul. Jeff tauchte immer wieder per Hologramm bei Veranstaltungen oder Sitzungen auf. In Wirklichkeit war es nicht das Abbild seines Körpers, sondern bereits der AI-Avatar von Jeff.“
„Tagebuch einer humanistischen Künstlichen Intelligenz“ hat Giesswein übrigens mithilfe von KI-Tools geschrieben. „Ich habe die einzelnen Kapitel meinem Smartphone diktiert und sie von einer KI transkribieren und schön aufschreiben lassen“, so Giesswein. Den Text hat er anschließend überarbeitet und auch von einem Menschen lektorieren lassen. „Alle Inhalte sind von mir“, so der WU-Experte, „aber nur 20 % der Sätze habe ich selbst formuliert, nämlich meine Korrekturen.“ So hatte Giesswein mehr Zeit für die Menschen in seinem Leben.
Martin Giesswein ist Fakultätsmitglied der WU Executive Academy, wo er Digitalökonomie und Leadership unterrichtet. Er ist mehrfacher Buchautor, produziert einen Podcast und tritt als Keynote-Speaker auf. Sein neuestes Buch „Tagebuch einer humanistischen Künstlichen Intelligenz“ erschien im April 2024.
Fotos: Gianmaria Gava