Kampf um die Wolke

Das Geschäft mit Softwarelizenzen macht SAP zu einem der wertvollsten Unternehmen Europas. Doch das Wachstum findet in der Cloud statt. Mittel- und Osteuropa-Chef Hartmut Thomsen, weiß, wie umkämpft der Markt ist.

2018 wird SAP – wenn sich die Prognosen von CEO Bill McDermott und CFO Luka Mucic als richtig herausstellen – erstmals eine wegweisende Schwelle durchbrechen: Erstmals in der Geschichte des Unternehmens werden Cloud-Lösungen mehr Umsatz erzielen als stationäre (auch „on premise“ genannt, Anm.).

Das ist insofern bemerkenswert, als das Thema Cloud (Bereitstellung von IT-Infrastruktur wie Speicherplatz oder Anwendungen über ein Rechnernetz statt über ­lokale Rechner, Anm.) vor wenigen Jahren noch überhaupt keine Rolle für den IT-Riesen aus dem baden-württembergischen Walldorf spielte. Denn das 1972 von fünf ehemaligen IBM-Mitarbeitern (Claus Wellenreuther, Hans-Werner Hector, Klaus Tschira, Dietmar Hopp und Hasso Plattner) gegründete Unternehmen verdiente jahrzehntelang gutes – wenn auch wenig aufregendes – Geld mit stationären Softwarelösungen für Unternehmen. Dabei dominierte der deutsche Anbieter vor allem den Bereich Enterprise Resource Planning (ERP). Bei ERP steht die Verwaltung, Analyse und Integration von unternehmerischen Kernbereichen wie Finance, Sales oder HR im Vordergrund.

Das Geschäftsmodell war klar: Kunden bezahlen die Lizenz für ein Jahr im Voraus, nach zwölf Monaten wird wieder angeklopft. Doch seit etwa zehn Jahren zeigt sich auch für SAP eine Transformation, denn der Markt für Public Cloud Computing, also die Virtualität von Daten oder Anwendungen, wächst unaufhaltsam. Hartmut Thomsen, der seit einigen Monaten SAPs Geschäft in Mittel- und Osteuropa leitet: „Es kommt bei den allermeisten Unternehmen nicht darauf an, ob sie den Schritt in die Cloud machen, sondern wie weit sie dabei gehen.“

Hartmut Thomsen
…studierte in Frankfurt und startete seine Karriere bei Siemens Nixdorf. Es folgten acht Jahre im Salesteam von Oracle, bevor Thomsen zu IBM und vier Jahre später schließlich zu SAP wechselte. Vor seiner Rolle als President of MEE von SAP war Thomsen unter anderem für das Deutschland­geschäft des Konzerns zuständig.

Thomsen sieht das eigene Haus gut aufgestellt: „Wir haben in Sachen Cloud-Lösungen das mit Abstand breiteste Portfolio am Markt.“ Insbesondere im ERP-Markt, der laut Gartner Research bis 2022 48 Milliarden US-$ weltweit umfassen wird, ist SAP weiterhin unangefochtener Marktführer. Mit dem aktuellsten Produkt in diesem Bereich – SAP S/4 HANA – soll diese Vormachtstellung ausgebaut werden.

Doch den Startschuss für das Rennen um den Bereich des Customer Relationship Managements haben die Deutschen vor einigen Jahren verpasst. Denn auf dem bis 2022 82 Milliarden US-$ umfassenden Markt hat sich das vom umtriebigen Milliardär Marc Benioff gegründete US-Unternehmen Salesforce einen ordentlichen Vorsprung erarbeitet. 2017 hatte Salesforce 19,6 Prozent Marktanteil im CRM-Bereich, Oracle kam auf 7,1 Prozent, SAP lag bei 6,5 Prozent. Thomsen sieht den Abstand jedoch schrumpfen: „Wir waren schon immer sowohl im Front­end als auch im Backend unserer Anwendungen stark. Wo es uns jedoch lange ein wenig gefehlt hat, war der klassische CRM-Bereich, dort waren wir spät dran. Mittlerweile verfügen wir aber mit C/4HANA über eine marktführende Customer Experience Suite, die zudem perfekt mit S/4HANA harmoniert.“

SAP sieht die Tatsache, dass Salesforce nie aus dem CRM-Bereich expandierte – eine Eigenschaft, die auch den Erfolg der Vergangenheit für das US-Unternehmen ausmachte –, als Problem. Denn laut SAP-CEO Bill McDermott sei es der eigene Vorteil, in mehreren Bereichen aktiv zu sein. Unternehmen hätten so bessere Informationen, was Kunden kaufen und wie die eigene Wertschöpfungskette funktioniert. Überhaupt ist zunehmend von einer „360-Grad-Perspektive“ für die eigenen Kunden die Rede. Auch die Konkurrenz agiert entsprechend: Marc Benioff benutzte den Begriff in seinem Investorencall zu den Zahlen des ersten Quartals beispielsweise an elf separaten Zeitpunkten. Letztendlich geht es für SAP, Salesforce und Co. wohl darum, den eigenen (Unternehmens-)Kunden zu helfen, dass diese wiederum deren (End-)Kunden besser verstehen, um ihnen bessere Produkte bieten zu können.

Mittelständische Unternehmen sind viel eher bereit, Kernbereiche in die Cloud zu transferieren. Großkonzerne haben deutlich größere Umstiegshürden.

Zuletzt gönnte sich SAP zu diesem Zweck eine ausgedehnte Shoppingtour. Im Januar 2018 kaufte man Callidus Cloud, einen Spezialisten für CRM-Anwendungen in der Cloud, für 2,4 Milliarden US-$. Das Schweizer Start-up Coresystems folgte, bevor im November 2018 die größte Übernahme der Unternehmensgeschichte über die Bühne ging: Der Marktforschungsspezialist Qualtrics wurde für acht Milliarden US-$ übernommen. Alles, um im CRM-Markt besser Fuß zu fassen.

Ganz so leicht ist der Umstieg dann aber doch nicht. Eine Umfrage der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG), zeigte, dass zwar 48 Prozent aller Befragten Marketing- und Vertriebslösungen in der Cloud nutzen, Kernprozesse aber nur von rund zehn Prozent ausgelagert würden. DSAG-Vorsitzender Marco Lenck sagte dazu gegenüber Computerwelt: „Viele Kunden wollen ihre Kernprozesse selbst in der Hand behalten.“ Laut Thomsen muss dabei die Unternehmens­größe betrachtet werden: „Mittelständische Unternehmen sind viel eher bereit, auch ihre Kernbereiche in die Cloud zu transferieren. Großkonzerne, die seit Jahrzehnten SAP-Kunde sind, müssen da deutlich größere Umstiegshürden überwinden.“ Das liege auch daran, dass SAP heute noch Schwierigkeiten habe, Großkonzerne vollständig in der Cloud zu betreuen: „Bei Großunternehmen sehen wir weiterhin hybride Landschaften, also einen Mix aus on-premise (mit einem Server direkt im Unternehmen, Anm.) und Cloud-Applikationen. Das betrifft vor allem die Kernbereiche der Unternehmen.“

Zugleich ändert sich durch jene Kunden, die in die Cloud „umziehen“, der Umsatzmix für SAP: weg von jährlich im Voraus bezahlten Gebühren, hin zu einer monatlichen Abrechnung im Nachhinein. Dadurch könnte die operative Marge langfristig sinken. Im dritten Quartal führten die erhöhten Cloud-Einnahmen bei sinkendem klassischem Softwarelizenzgeschäft zu einem Rückgang der operativen Marge – von 23,5 Prozent im Vorjahr auf 20,5 Prozent. Dennoch will SAP die operative Marge bis 2020 auf über 30 Prozent heben. Der Umsatz mit Cloud-Lösungen soll dann zwischen 8,2 und 8,5 Milliarden US-$ liegen.

In Zukunft kommt der Wett­bewerb jedenfalls auch ­von vormaligen ­potenziellen Kunden – wie von den IT-Riesen Amazon oder Alibaba. Denn die drängen vermehrt selbst in den Cloud-Markt, Amazon etwa mit Amazon Web Services. Thomsen erkennt die Lage zwar, sieht darin aber auch großes Potenzial: „Wir arbeiten mit diesen Hyperscalern, wie wir sie nennen, weiterhin zusammen. Ein Beispiel ist etwa der Bereich ‚Infra­structure as a service‘, an dem solche Organisationen arbeiten. Von diesem Trend wollen wir profitieren.“ Eine engere Zusammenarbeit startete SAP beispielsweise mit Microsoft und Adobe in der Open Data Initiative, die Kunden helfen soll, Daten innerhalb der eigenen Organisation mithilfe von künstlicher Intelligenz zu vernetzen.

Thomsen, der neben Mathematik auch ein Faible für Kunst hat, sieht für SAP in Europa und darüber hinaus jedenfalls eher Chancen als Risiken: „Cloud-Adoption hat in Europa insgesamt sehr aufgeholt. Beim Thema Cloud sehen wir besonders in einigen Ländern der MEE Region massives Potential.“ Und während man nicht behaupten kann, dass die Konkurrenz schläft, steht SAP zumindest in Europa im Bereich der Cloud-Services ziemlich alleine da. Ob das letztendlich einen entscheidenden Vorteil in den von Experten als „Cloud Wars“ betitelten Wettbewerb bringt, wird sich zeigen.

Dieser Artikel ist in unserer November-Ausgabe 2018 „Europa“ erschienen.

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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