KAMALA HARRIS: EINE ZWISCHENBILANZ

Kamala Harris, die Vizepräsidentin der USA, möchte in ihrem Land so einiges ändern. In ihrem Essay für Forbes schreibt sie etwa: „Wir müssen unser Finanzsystem neu denken.“ Von konkreten Maßnahmen war in ihrer Amts­zeit aber bisher wenig zu sehen. Was ist Harris’ Bilanz, neun Monate nach ihrer Angelobung?

Es ist der 11. August 2020. In weniger als einer Woche findet in den USA der Parteitag der Demokratischen Partei statt – eine Versammlung der demokratischen Wahlmänner, die den nächsten Präsidentschafts­kandidaten der Partei nominieren. In genau zwölf Wochen findet das wichtigste politische Ereignis der USA statt: die Präsidentschaftswahl.

Plötzlich klingeln rund 37 Millionen Handys im ganzen Land (laut Bericht des Time Magazine sammelte die Kampagne von Joe Biden satte 37 Millionen Telefonnummern) – das Team des Präsidentschaftskandidaten Joe Biden hat an seine Anhänger eine Nachricht geschickt: „Hier ist Joe Biden. Große Neuigkeit: Ich habe Kamala Harris als meine Partnerin für die Wahl gewählt. Zusammen und mit euch werden wir Trump besiegen.“

So verkündet Biden eine der wichtigsten Entscheidungen, die er im Laufe seines Rennens um das Weiße Haus trifft. Denn die Umfragen prophezeien damals noch ein knappes Match: Der republikanische Amtsinhaber Donald Trump liegt laut den Polls bei ungefähr 43 % der Stimmen, Joe Biden kommt auf 48 %. Mit einer Schwankungsbreite von rund 5 % ist das Rennen also völlig offen. Dazu kommt der bevorstehende Parteitag der Demokraten am 17. August. Hier muss Biden eine klare Botschaft senden und dabei vor allem die linke Fraktion seiner Partei ansprechen. Denn als „alter weißer Mann“ muss er glaubwürdig symbolisieren, dass er genauso für progressive Werte steht – darunter Diversität, Inklusion und die Gleichberechtigung von Frauen.

Es ist nicht unüblich, dass Vizepräsidentschaftskandidaten eine Art Gegenteil des Präsidentschaftskandidaten sind – auch wenn ­früher beide Kandidaten fast immer weiße Männer waren, kamen sie oft aus verschiedenen Regionen des Landes: Franklin D. Roosevelt aus dem reichen New York, Harry Truman aus dem bescheidenen Missouri; John F. Kennedy aus einer Elitenfamilie in Massachusetts, Lyndon B. Johnson aus einer Bauernfamilie in Texas; Richard Nixon aus dem glamourösen Küstenstaat Kalifornien, Gerald Ford aus dem Industriestaat Michigan. Doch 2008 kam eine Wende: Barack Obama gewann als erster Afroamerikaner das Rennen um das Weiße Haus – zusammen mit Joe Biden. Beide repräsentierten jedoch keine gegensätzlichen Regionen, sondern demokratische Hochburgen (Obama kam aus Illinois, Biden aus Delaware). Statt auf regionale Unterschiede zu setzen, hatte Biden einen anderen wichtigen Vorteil für Obama: Als weißer Mann hatte er eine andere Identität. Genau das gleiche Muster wiederholte Joe Biden 2020 – nur eben umgekehrt.

Harris dürfte keine schlechte Wahl gewesen sein. 84 % der Demokraten billigten die Entscheidung, sie auf Bidens „Ticket“ zu setzen. Auch die Finanzmärkte freuten sich: Am Tag nach der Bekanntgabe schrieb das konservative Finanzblatt Wall Street Journal: „As Kamala Harris Joins Biden Ticket, Wall Street Sighs in Relief.“ Grund dafür war die Annahme, dass eine „strikte Überwachung des Finanzsystems keine hohe Priorität“ sein würde.

Am 3. November wurde dann schließlich gewählt; vier Tage später, am 7. November um 17.30 Uhr, war das Resultat da: Joe Biden und Kamala Harris hatten die Wahl gewonnen. Erstmals hatten die USA somit eine Frau als Vice President, eine mit nicht weißer Hautfarbe noch dazu. Doch wie viel Macht hat die neue Vize­präsidentin der Vereinigten Staaten tatsächlich? Und was will sie damit tun?

Wenn man in der US-amerikanischen Verfassung nach dem Wort „Vizepräsident“ sucht, gibt es acht Treffer. Nur bei einem einzigen der acht Einträge geht es um konkrete Aufgaben (beim Rest wird erläutert, was im Falle eines Impeachment-Verfahrens, also einer Amtsenthebung, passiert). Die einzige verfassungsrechtliche Aufgabe der Vizepräsidentin ist jene als Präsidentin des Senats. In der Verfassung heißt es: „Der Vize­präsident der Vereinigten Staaten ist Präsident des Senats. Er hat jedoch kein Stimmrecht, aus­genommen im Falle der Stimmengleichheit.“ Sehr viel ist das nicht.

Dennoch ist Harris gut beschäftigt. Hier ein Beispiel: Laut Politico sah das Tagesprogramm von Harris am 10. August 2021 folgendermaßen aus: 9.35 Uhr: Die Vizepräsidentin verlässt Washington, D. C., auf dem Weg nach Newark, N. J.; 11.45 Uhr: Harris nimmt an einem Round Table über die Bedeutung staatlicher Investitionen in die Kinderbetreuung im Ben Samuels Children’s Center der Montclair State University teil. 14.40 Uhr: Harris besichtigt eine Impfstelle am Essex County Col­lege. 16.35 Uhr: Harris verlässt Newark und kehrt nach D. C. zurück.

Mehr oder weniger sind all das repräsen­tative Tätigkeiten. Ob das üblich ist oder nicht, lässt sich nicht wirklich beantworten. Denn wenn es um den Posten des Vizepräsidenten geht, gibt es keinen Standard dafür, was dieser Job sein sollte. So sagte der 44. Vizepräsident Dan Quayle (Vizepräsident von George H. W. Bush) einmal: „Die Vizepräsidentschaft ist ein heikler Job. Es hängt alles vom Willen des Präsidenten ab.“

Was Harris machen darf und soll, liegt somit in den Händen Joe Bidens. Und Biden überlässt Harris durchaus schwierige Tätigkeiten: Im März 2021 übertrug Biden Harris die Verantwortung für die Migrationskrise an der Südgrenze – eine unlösbare Aufgabe mit keinerlei (politischen) Gewinnaussichten. Im Juni bekam sie noch eine zweite Aufgabe – die Wahlrechtsreform. In diesem Fall bat sie laut New York Times Biden selbst um den Job.

Seit März ist nun ein halbes Jahr vergangen – was hat Vizepräsidentin Harris in dieser Zeit in Sachen Migrationskrise unternommen? Am 29. Juli veröffentlichte sie einen Strategiebericht zur „Bekämpfung der Ursachen für die Migration aus Mittelamerika“. Darin enthalten: rund vier Milliarden US-$ amerikanisches Steuergeld, das in die Region fließen soll, sowie 750 Millionen US-$ an privaten Investitionen, um die Wirtschaft vor Ort zu unterstützen. In Sachen Wahlrechtsreform hielt Harris eine Rede über den umstrittenen Gesetzesentwurf „H.R. 1“ (auch „For the People Act“ genannt). Darin enthalten sind etwa Än­derungen in der Wahlkampffinanzierung, die Wiederherstellung des Wahlrechts für Häftlinge, neue Regeln über die Bestimmung von Wahl­bezirksgrenzen (um der Praxis des „Gerryman­dering“ entgegenzuwirken) und vieles mehr. Der Gesetzesentwurf ging am 3. März im demokratisch kontrollierten Repräsentantenhaus durch – ­scheiterte aber im Juni 2021 im Senat. Obwohl die Demokraten dort eine knappe Mehrheit haben (51 von 100 Stimmen), brauchten sie wegen par­la­mentarischer Manöver (Stichwort „Fili­buster“) drei Fünftel der Stimmen, also 60. Ohne Kooperation der Republikaner konnte der Ge­setzesentwurf bis jetzt noch nicht verabschiedet werden. Auch hier ist unklar, was Vizepräsidentin Kamala Harris an dieser Situation ändern könnte und worin sie ihre genaue Aufgabe sieht.

Einer breiteren Öffentlichkeit wurde ­Harris im Zuge der demokratischen ­Vor­wahlen bekannt, wo sie als durchaus aussichtsreiche Kandidatin für die demokratische Nominierung galt. Am 3. Dezember 2019 musste sie ihre Kampagne allerdings aufgrund mangelnder Finanzmittel aufgeben – und schaffte es später doch noch ins Weiße Haus.

Aufgewachsen ist Harris in der Bay Area in Kalifornien. Ihre Mutter Shyamala Gopalan, eine Krebsforscherin, emigrierte als Kind aus Indien in die USA, ihr Vater war jamaikanischer Abstammung und als Wirtschaftsprofessor an der Stanford University tätig. Harris selbst studierte Politik­wissenschaften und Wirtschaft in ­Washington, D. C., bevor sie nach Kalifornien zurückkehrte, um dort an der University of California Rechtswissenschaften zu studieren. Ihre Karriere begann sie 1990 bei der Staatsanwaltschaft von Alameda County, wo sie acht Jahre als District Attorney arbeitete. 2003 kandidierte Harris dann als Bezirksstaatsanwältin der Stadt San Francisco und gewann. 2011 wurde sie Attorney General von Kalifornien, dem größten US-Bundesstaat mit rund 40 Millionen Einwohnern. 2016 machte Harris einen großen Schritt: Sie kandidierte erstmals für einen Senatssitz im US-Kongress. Im November 2016 gewann sie mit 62 % der Stimmen gegen die republikanische Kandidatin Loretta Sanchez.

Vor allem ihre Zeit als Attorney General von Kalifornien stellte sich bei der Wahl 2020 als entscheidend heraus. Denn im Zuge dieser Tätigkeit erhielt Harris den Ruf, dass sie „tough on crime“ sei. Das wird in den USA von Progressiven gerne als Vorwurf des Konservatismus verwendet. Ob das tatsächlich der Fall war oder nicht, ist im Nachhinein nur schwer zu eruieren – ihr Vor­gehen war zu der Zeit von vielen Widersprüchen geprägt. Jedenfalls spielte Harris’ Ruf ihr in die Karten: Als farbige Frau mit indischen Wurzeln war sie ein Gewinn für die Progressiven, während ihr „Tough on crime“-Ruf sie für die Moderaten attraktiv machte.

Natürlich gilt die Vizepräsidentin auch als Stellvertreterin des Präsidenten – eine Rolle, die insbesondere in der diploma­tischen Arbeit Relevanz hat. Als erstes Reiseziel wählte Harris Guatemala und Mexiko. Die Botschaft war klar: „Ich möchte den Menschen in der Region, die mit dem Gedanken ­spielen, die gefährliche Reise zur Grenze zwischen den USA und Mexiko anzutreten, eines klar­machen: Kommen Sie nicht!“, sagte sie bei einer Pressekonferenz in Guatemala-Stadt. Es war eine Aussage, die man eher vom ehemaligen Präsidenten Trump erwartet hätte als von der demokratischen Vizepräsidentin. Progressive Figuren in der Demokratischen Partei, darunter die äußerst be­­liebte Alexandria Ocasio-Cortez, waren empört.

Ich möchte den Menschen in der Region, die mit dem Gedanken spielen, die gefährliche Reise zur Grenze zwischen den USA und Mexiko anzutreten, eines klarmachen: Kommen Sie nicht!

Ihr Essay für Forbes ist ein Beispiel dafür, wie Vizepräsidenten zu kommunizieren haben, denn dort verweist sie vor allem auf zwei Dinge – ers­­tens: Kapital soll unabhängig von Hautfarbe und Geschlecht jedem zugänglich gemacht werden. Und zweitens: Das Land braucht eine kostenlose Kinderbetreuung. Beide Appelle sind Teil des von Biden vorgeschlagenen Sozialpakets („American Families Plan“, Anm.) – also nicht unbedingt Ideen von Harris selbst. Damit macht sie aber genau das Richtige, denn als Vizepräsidentin hat sie die Aufgabe, die Agenda des Präsidenten zu fördern, statt sich selbst ins Rampenlicht zu stellen.

Genau das wird Harris aber früher oder später tun müssen – und zwar, wenn sie, wie manche politische Beobachter vermuten, bei der Präsidentschaftswahl 2024 als Kandidatin antreten möchte. Während des Wahlkampfs war Harris’ Rolle klar: als Frau mit Migrationshintergrund die Attraktivität von Bidens Kampagne zu vergrößern. Jetzt ist Harris aber Vizepräsidentin und muss Leistungen vorweisen. Denn wenn sie in drei Jahren tatsächlich die demokratische Nominierung gewinnt, könnten ihr Geschlecht und ihre Abstammung bei der US-weiten Wahl sogar ein Nachteil sein.

Disclaimer: Die Autorin Sophie Spiegelberger ist neben ihrer Tätigkeit als Redakteurin bei Forbes DACH auch Sprecherin (ehrenamtlich) der Democrats Abroad Austria. Democrats Abroad ist eine Unterorganisation der Demokratischen Partei für im Ausland lebende US-Bürger.

Auch an ihrer Beliebtheit muss Harris noch arbeiten: Derzeit schneidet sie bei den Umfragen sogar etwas schlechter ab als Joe Biden. Eine knappe Mehrheit (51 %) der Wähler zeigt sich mit ihren Leistungen „unzufrieden“. Dabei bewerteten Männer die Vizepräsidentin um 14 % schlechter als Frauen. Harris’ Umfragewerte liegen damit niedriger als jene ihrer Vorgänger Joe Biden, Dick Cheney und Al Gore (zur gleichen Zeit in ihren jeweiligen Amtsperioden, Anm.). Wie auch ihr Tätigkeitsgebiet liegt aber ihr Schicksal gar nicht in ihren eigenen Händen – sondern vor allem in denen von Joe Biden. Der kennt das Gefühl gut, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Biden war mit damals fast 40 Jahren Erfahrung in der Politik ein wichtiger Berater für den auf höchster Ebene unerfahrenen Obama. Das ist bei Harris nicht der Fall. Sie hat ihre Rolle – Frauen und progressive demokratische Wähler anzusprechen – mit dem Wahlsieg bereits erfüllt. Jetzt steht ihr die große Herausforderung bevor, Herrin ihres eigenen Schicksals zu werden.

Text: Sophie Spiegelberger
Fotos: Official White House Photo by Jamel Toppin, Adam Schultz, Lawrence Jackson and Erin Scott

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 8–21 zum Thema „Women“.

Sophie Spiegelberger,
Redakteurin & Head of Digital

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