It’s All Relative

Die aktuelle Diskussion rund um Gleichstellungspolitik und Feminismus sieht Christina Lutter „aus historischer Perspektive differenziert“ – denn die österreichische Historikerin, seit Kurzem Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, betont, dass Individuen stets unter spezifischen Rahmenbedingungen agieren. Das macht die Analyse von Geschlechterverhältnissen nicht einfacher, aber umso spannender.

Eine historische Lieblingspersönlichkeit habe sie nicht, sagt Christina Lutter. Das heißt nicht, dass Lutter kein großes Interesse an spannenden historischen Einzelgeschichten hat, doch sie interessiert sich nicht so sehr für die oftmals verklärten Heldengeschichten historischer Figuren, denen sich die Öffentlichkeit regelmäßig hingibt. Vielmehr will Lutter die Strukturen, die Rahmenbedingungen, die Zeiten und Regionen sowie die ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse, in denen diese Persön­lichkeiten eingebettet sind, verstehen.

Und so hat Lutter keine Lieblingspersönlichkeit, aber zum Beispiel ein „Lieblingstestament“: Es stammt aus dem 14. Jahrhundert und von einer Wiener Bürgerin aus gutem Haus. Sie bedenkt in ihrem Testament ihre Familie und Angehörigen, Freunde, aber auch Dienerinnen und geistliche Institutionen. Sie teilt nicht nur ihr ökonomisches Portfolio auf, sondern sorgt auch für ihr Seelenheil vor, indem ein Teil ihres Besitzes an die Kirche geht, denn in Kirchen und Klöstern wurde für Verstorbene gebetet. „Indi­viduen handeln, heute wie damals, nie nur aus eigenem Interesse, sondern sind immer einge­bettet in die sozialen Rahmenbedingungen. Je besser man diese Bedingungen kennt, desto besser wird das Verständnis, das man für die gesellschaftlichen Strukturen entwickelt“, sagt Christina Lutter.

Lutter, seit Anfang Oktober Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, ist eine der renommiertesten Historikerinnen Österreichs. Ihr geschichtswissenschaftliches Fachgebiet sind das Mittel­alter sowie die Frühe Neuzeit, wobei Lutter sich vor allem auf das soziale Zusammenleben in Gemeinschaften fokussiert – und zwar egal, ob dieses in Städten, Klöstern, am Hof oder in den Übergängen dazwischen stattfindet.

Dabei muss Lutter teilweise gegen eine veraltete Sicht des Mittelalters ankämpfen, wie sie heute auch noch in manchen Schul­büchern gelehrt wird: ein dunkles Zeitalter, in dem Frauen unterdrückt wurden, Unterschichten, die kaum vorkommen, grausame Könige – und sonst nicht viel. „Das lässt sich in der For­schung nicht be­stätigen“, sagt Lutter. Das europäische Mittel­alter sei vielmehr eine sehr heterogene Periode, die sich über 1.000 Jahre (von ca. 500 bis ca. 1500) erstreckt und in den verschiedenen Regionen des Kontinents sehr unterschiedlich geprägt war. Was jedoch stimmt, ist, dass diese Zeit in einigen Regionen nur sehr schlecht belegt ist: Während der Mittelmeer­raum eine relativ durchgängige Dokumentation genießt, ist die Überlieferung für das frühmittelalterliche Nord- und Osteuropa vergleichsweise fragmentiert.

Phänomene wie die TV-Serie „Game of Thrones“ würden durchaus helfen, das Bild etwas zu korrigieren. Zwar sei das natürlich auch in klassische Narrative verpackt, doch die Serie (die laut Lutter durchaus gut recherchiert ist) gebe ein gutes Bild über Lebensgefühl und All­tagsleben: „Da werden spannende Bilder transportiert, die man mit Studierenden auch aus der Forschungsperspektive bearbeiten kann.“

Doch Lutter muss sich in ihrer Arbeit so­wieso verschiedene Puzzlestücke zusammen­suchen, mit deren Hilfe sie dann ein komplexeres Bild bekommt. Ein Anhaltspunkt sind geistliche Aufzeichnungen: „Das Christentum ist in Europa ein wesentlicher Träger der Überlieferung von der Antike in die Neuzeit“, so Lutter. Sie wird auch in Bereichen fündig, die aus heutiger Sicht vielleicht etwas sperrig erscheinen, etwa in der Wirtschaftsverwaltung von Klöstern: „Das ist deshalb interessant, weil dort erstmals aufgeschrieben wurde, was zum Leben gebraucht wurde: Wie viel Wein, Getreide, Hafer, Gerste wurden gebraucht und abgegeben? Wie viele Eier, Hühner, Schweine? Es ist unglaublich span­nend, mithilfe dieser Angaben herauszufinden, wie das damalige Leben Tag für Tag ausgesehen hat.“

Individuen handeln nie nur aus eigenem Interesse, sondern sind immer eingebettet in die sozialen Rahmenbedingungen.

Christina Lutter

Doch wenn das Bild, dass Frauen damals vorrangig unterdrückt und unbedeutend waren, undifferenziert ist, was ist dann richtig? Lutter leugnet nicht, dass Frauen im Mittelalter in der Regel in weniger dominanten Positionen waren. Doch es komme vor allem auch darauf an, aus welcher Familie, aus welcher Region, aus welcher Bildungsschicht Menschen stammten. Und auch scheinbar unbedeutende Faktoren spielten eine Rolle, zum Beispiel der Platz in der Geschwisterfolge – denn das hat in einigen Regionen starke Auswirkungen auf die Erbfolge. Lutter: „Man muss immer genau schauen, wer unter welchen Bedingungen welche Chancen hat.“

So zeigt sich etwa, dass Frauen nicht nur in Klöstern stark vertreten waren (Nonnen spiel­ten dort eine eben­solche Rolle wie Mönche), sondern auch in Handwerksberufen. In manchen Städten gab es sogar reine Frauenzünfte, während andere Männer und Frauen aufnahmen. Und: Viele Dokumente belegen, dass die meisten europäischen Betriebe Familienunternehmen ­waren, in denen Frau und Mann Seite an Seite gewirkt und gewerkt haben und oft auch die Kinder tatkräftig mithelfen konnten. Solche gelebte Quellenkritik muss auch hinsichtlich gewisser Einzelschicksale gelten: In einem neuen Buch, das Lutter gemeinsam mit der deutschen Historikerin Julia Burkhardt von der Ludwig-Maximilians-Universität München verfasste, widmet sie sich einem solchen, und zwar jenem von Helene Kottannerin. Sie war die Kammerfrau der luxemburgischen Erbtochter Elisabeth, die mit dem Habsburger Albrecht II. verheiratet und somit Herzogin von Österreich und später auch Königin von Ungarn, Böhmen und des römisch-deutschen Reichs war.

Die Geschichte trägt sich 1439/40 zu, als das osmanische Heer den Balkan aufwärts nach Mitteleuropa drängt. Albrecht II. und seine Frau, die mit dem dritten Kind schwanger ist und auf einen Sohn hofft, bereiten sich auf eine Konfrontation vor. Doch dann stirbt Albrecht II. an der Ruhr und Elisabeth wird von mehreren Seiten gedrängt, sich neu zu vermählen, um in dieser prekären Situation die innenpolitische Stabilität zu sichern. Doch sie will den erhofften Sohn zum König krönen lassen. Also schickt sie ihre Kammerfrau in die Burg von Visegrad, wo die Krönungsinsignien, inklusive der bedeutenden Stephanskrone, liegen. Das Abenteuer gelingt, Helene holt die Krone aus der Burg, und der kurz darauf geborene Sohn wird wenige Monate später damit gekrönt. Die Kammerfrau verfasst anschließend einen Bericht über die spektakulären Ge­schehnisse. Lutter: „Das ist eine einfache Frau, die aber imstande ist, zu lesen und zu schreiben und so eine Geschichte zu erzählen. Und das tut sie auf spannende Weise und in allen Details. Solche Dokumente sind ganz außergewöhnlich und eine Fundgrube für lebensweltliche Informationen, die man dann mithilfe anderer, oft bruchstück­hafter Überlieferung ergänzen kann.“ Dass eine Histo­rikerin, die sich auf das Mittelalter fokussiert, angesichts einer solchen Quelle euphorisch wird, ist verständlich – und doch nimmt sich Lutter an der Nase, um den Bericht nicht zu prominent werden zu lassen: „Man muss wahnsinnig vorsichtig sein. Quellenkritik ist das A und O unserer Arbeit. Wir müssen immer versuchen, Repräsen­tativität herzustellen: Ist etwas außergewöhnlich, regulär, exemplarisch?“ Doch mithilfe zusätz­licher Dokumente (etwa Urkunden, Verwaltungsquellen oder kunsthistorischen Analysen) lasse sich ein relativ verlässliches Bild dieser Zeit zeichnen.

Man muss wahnsinnig vorsichtig sein. Quellenkritik ist das A und O unserer Arbeit.

Christina Lutter

Christina Lutter ist eher zufällig „im Mittelalter“. Die Geschichte-Studentin interessierte sich nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt in Südfrankreich eigentlich für Zeitgeschichte. Doch nachdem die einschlägigen Vorlesungen und Übungen so überlaufen waren, ging sie in jene zu Mittelalter und Früher Neuzeit. Dort fand sie schnell eine gute Gruppe mit ebenso guten Vortragenden. „Das fand ich spannend, und so bin ich dabei geblieben“, so Lutter.

Lutter schrieb ihre Dissertation zur politischen Kommunikation zwischen Maximilian I. und der Republik Venedig um 1500: Auf der einen Seite Maximilian, der damals sein Reich enorm vergrößerte und sich dabei neben militärischen auch multimedialer Mittel bediente, dabei aber eine recht chaotische Verwaltung hatte; auf der anderen Seite Venedig, das bereits sehr früh über eine sehr gut organisierte, „moderne“ Herrschaftsorganisation verfügte. Die Arbeit, für die Lutter mit einem Forschungsstipendium monatelang in venezianischen Archiven recherchierte, wurde unter dem Titel „Politische Kommuni­kation in der Frühen Neuzeit am Beispiel der diplomatischen Beziehungen zwischen der Republik Venedig und Maximilian I.“ publiziert.

Parallel war Lutter ab 1994 im Wissenschaftsministerium tätig; zuerst als Koordinatorin von Forschungsprogrammen in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, später auch als stell­vertretende und dann interimistische Leiterin der Abteilung Gesellschaftswissenschaften. „Ich habe dort Mitte der 90er-Jahre angefangen, Österreich ist damals gerade der EU beigetreten. Es herrschte in der Internationalisierung der Wissenschaftsorganisation eine unglaubliche Aufbruchsstimmung, die mich sehr geprägt hat.“

Lange Zeit sei für sie offen gewesen, ob sie in der Verwaltung bleiben oder eine wissenschaftliche Karriere einschlagen würde; 2004 habilitierte sie sich mit einer preisgekrönten Arbeit zu monastischen Reformgemeinschaften im 12. Jahrhundert, in der geschlechtergeschichtliche Fragen bereits eine große Rolle spielten. Nicht zuletzt aufgrund der veränderten Arbeitsbedingungen nach der Angelobung einer Mitte-rechts-Regierung in Österreich („Schwarz-Blau“) entschied sich Lutter schließlich für die Wissenschaft. Nach mehreren Forschungsaufenthalten und Gastprofessuren wurde sie 2008 Universitätsprofessorin für Ge­schichte an der Universität Wien, 2020 bis 2022 nach einigen Forschungsprojekten Leiterin des Instituts für Geschichte; seit Oktober 2022 ist sie Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. „Und jetzt ist es einmal gut. Die Entwicklung der letzten Jahre ist relativ flott gegangen, nun will ich sehen, wie ich dieses Amt, diese Funktion entwickeln kann.“

Christina Lutter studierte Geschichte an der Universität Wien. Sie promovierte 1997, habilitierte sich 2004 und arbeitete parallel von 1994 bis 2007 im österreichischen Wissenschaftsministerium. Seit 2008 ist sie Universitätsprofessorin für Geschichte an der Universität Wien, von 2020 bis 2022 leitete sie das Institut für Geschichte, seit Oktober 2022 ist sie Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät.

Die aktuellen Debatten um Geschlecht, Feminismus und Emanzipation sieht Lutter „ambivalent“. „Geschichte ist nie eine einfache Fortschrittsgeschichte. Gerade dieser Tage führen uns die Ereignisse im Iran vor Augen, wie wenig selbstverständlich ein selbstbestimmtes Leben für viele Frauen auf dieser Welt ist.“ Ein anderes, näheres Beispiel seien die vielen Frauenmorde, die Österreich in den vergangenen Monaten erlebte und die auch medial intensiv diskutiert werden.

Gleichzeitig gab es in den vergangenen Jahr­zehnten große Errungenschaften der Frauen- und Geschlechterpolitik, etwa bei der rechtlichen Gleich­stellung oder am Arbeitsmarkt. Doch heute wie damals (in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen) gebe es nicht „die Frau“ oder „den Mann“. Lutter: „Vielmehr sehen wir immer ein plurales Bild, Männer- und Frauenrollen existieren immer im Plural. Geschlecht ist eine relationale Kategorie.“ Das bedeutet: „Macht­verhältnisse entstehen immer in einem Zusammenwirken von Relationen, die Beschränkungen ge­nau­so wie Handlungsspielräume und Empower­ment zur Folge haben. Wenn man diese Mechanismen versteht, ist auch Veränderung möglich. Darum habe ich ein Interesse, auf Geschlechterverhältnisse zu schauen.“

Fotos: Mirza Dzudzic

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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