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Europa steht am Beginn einer historischen Rezession. Die Europäische Zentralbank kauft Staatsanleihen in Milliardenhöhe, während der Nationalstaat eine Renaissance erlebt. Die EU wirkt nicht erst seit Covid-19 geschwächt. Zerbricht sie an der drohenden Weltwirtschaftskrise – oder erfindet sie sich neu?
„Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen, und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen“, erklärte der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 in Paris. Europas Vordenker rund um den französischen Unternehmer Jean Monnet hatten die Schuman-Erklärung ausgearbeitet, die den Grundstein für die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) legte – und damit den Prozess der europäischen Integration startete.
70 Jahre später haben die Mitglieder der Nachfolgerin der EGKS – die Staaten der Europäischen Union – eine Richtungsentscheidung zu fällen. Denn während die Krisen der Vergangenheit (sei es die Schuldenkrise 2012 oder die Flüchtlingskrise 2015) nie nachhaltig gelöst wurden und auf fundamentale Strukturschwächen in der Union verwiesen, trifft die Coronakrise ihre Mitgliedsstaaten mit voller Wucht. Zu den Ländern der Erde mit den meisten Todesfällen aufgrund des Coronavirus zählen vier europäische Staaten, davon drei aktive EU-Mitglieder: Großbritannien, Italien, Frankreich und Spanien.
Während Politiker immer wieder ein starkes Europa fordern und die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von einem „pochenden Herzen der europäischen Solidarität“ spricht, zeigen sich die Widersprüche deutlicher denn je. Staaten wie Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark sperren sich gegen die Vergemeinschaftung von Schulden, Italien und Spanien pochen darauf – auch, um schlimmere wirtschaftliche Auswirkungen zu verhindern.
Frankreich versucht gemeinsam mit Deutschland, einen Mittelweg zu finden, während manche Staaten im Osten – etwa Ungarn oder Polen, die überhaupt die Idee der liberalen Demokratie infrage stellen – primär die Brüsseler Hilfsgelder im Auge haben. Die EU mitsamt ihrer Gemeinschaftswährung steht vor einer Zerreißprobe. Wie lang kann die Europäische Zentralbank (EZB) die Schwächen der Eurozone ausgleichen?
Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen, und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung.
Anders gefragt: Sollen es Zuschüsse sein oder günstige Kredite, die die Volkswirtschaften stärken und ihnen zu einer Erholung verhelfen? Eine Kombination daraus gilt als wahrscheinlich, nachdem der Streit um „Corona-Bonds“ am solidarischen Bekenntnis zur gemeinschaftlichen Haftung gescheitert war. Gleichzeitig fehlt aber eine wichtige Diskussionsgrundlage: die Einigung auf den Siebenjahresetat der EU und auf die Höhe künftiger EU-Beitragszahlungen. Durch den Brexit klafft ein Loch von 60 bis 75 Mrd. € im Budget. Das ist jedoch nur eine winzige Sorge im Vergleich zu den Coronahilfen der Mitgliedsstaaten. Es zeigt sich: Der Wiederaufbau ist teuer. Die versprochenen Hilfs-, Not-, Rettungs- und Konjunkturprogramme haben bereits die Grenze einer Billion € gesprengt. Der geplante Wiederaufbauplan im Wert von 750 Mrd. €, auf den sich die EU-Staaten zunächst einmal einigen müssen, wurde bereits als Generationenpakt präsentiert. Er soll auf Kredit finanziert und bis 2058 abbezahlt werden. Doch wer bekommt wie viel?
Europa steht am Beginn einer historischen Rezession. Laut der EU-Frühjahrsprognose könnte die Wirtschaft im Euroraum heuer um 7,7 % schrumpfen. Der Rückgang der Wirtschaftsleistung ist dabei unterschiedlich verteilt: Er reicht von 4,25 % in Polen über 9,75 % in Griechenland bis hin zu 12 oder 13 % in Italien und Spanien. Für Österreich wird ein Minus von 5,5 % vorausgesagt, für Deutschland ein BIP-Rückgang um 6,3 %. „Europa erlebt einen ökonomischen Schock, wie es ihn seit der Großen Depression nicht mehr gegeben hat“, sagt etwa auch EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. Doch seriöse Prognosen für das kommende Jahr sind kaum möglich. Vieles hängt von einer möglichen zweiten Covid-19-Welle ab, während das Schreckgespenst der Eurokrise immer noch im Hintergrund lauert.
Denn die Eurokrise war eigentlich eine vielschichtige Krise der EU-Währungsunion, die sich auf eine Wirtschafts-, Schulden- und Eurokrise aufteilte. Sie wurde durch den Anleihenkauf der EZB zwar primär überlagert, keinesfalls aber gemeistert. Es gab und gibt immer wieder kurzfristige Risikoaufschläge – im Zuge von Covid-19 traf es zuletzt italienische Staatsanleihen.
Rückblickend erklärte Volker Wieland, einer der Wirtschaftsweisen der deutschen Bundesregierung, Anfang Mai in einer Stellungnahme, dass die Anleihenkäufe 2015 „nicht zwingend notwendig“ gewesen wären. Nach seinem Dafürhalten habe die EZB zu lange daran festgehalten. Gleichwohl attestiert er den Anleihenkäufen, grundsätzlich eine „geeignete geldpolitische Maßnahme“ zu sein, wenn der Spielraum für Zinssenkungen ausgereizt ist. Die Entscheidung sei zudem, bei allen inhaltlichen Differenzen, durchaus „innerhalb des Ermessensspielraums“ der EZB, gewesen. Im selben Atemzug fordert Wieland jedoch, wie schon vor fünf Jahren, „dass die EZB eine Exitstrategie formuliert“. Denn die Bilanz der Notenbank wächst rasant – und damit die Risiken.
Im April belief sich die Summe der Anleihenkäufe im Zuge des Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) laut EZB-Angaben auf ein Volumen von 103,4 Milliarden €, im Mai sind Anleihen im Wert von 118 Milliarden € erworben worden. Über das PEPP der EZB sollen nun im Zuge der Coronakrise Staats- und Unternehmensanleihen im Gesamtvolumen von zumindest 750 Milliarden € angekauft werden.
Kritik kommt unter anderem vom Ökonomen Frederik Ducrozet von der Bank Pictet: Auf Twitter schreibt er, dass „die EZB im April abermals massiv von ihren Kapitalschlüsseln abgewichen“ ist. Mit dem Kauf italienischer Anleihen für 11 Milliarden € sei sie 6,4 Milliarden € oberhalb des Kapitalschlüssels gelegen, mit einem Kauf deutscher Anleihen für 0,6 Milliarden € hingegen sei sie 6,4 Milliarden € unterhalb des Kapitalschlüssels geblieben.
Zweifelsfrei spannend bleibt zudem die Frage, wie das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Grenzen für die Anleihenkäufe und die Bedeutung des Kapitalschlüssels beurteilt – und ob die Kriterien so formuliert werden, dass sie auch auf das aktuelle Krisenprogramm PEPP angewendet werden können. Anfang Mai hatte das Gericht erstmals ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs nicht akzeptiert – und Bedingungen für die weitere Beteiligung der Deutschen Bundesbank am EZB-Anleiheprogramm gestellt. Alle Streitpunkte, die die beiden Höchstgerichte trennen, bündeln sich in einer einzigen Frage: Ist der Ankauf von Staatsanleihen erlaubte Geldpolitik oder verbotene Wirtschaftspolitik der EZB?
Lars Feld, ebenfalls Mitglied des wirtschaftspolitischen Sachverständigenrats der deutschen Bundesregierung, kommt in seinen Überlegungen zu folgendem Ergebnis: Ob die EZB ihr Mandat verletze, weil sie in die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eingreife, lasse sich aus ökonomischer Sicht zwar nicht abschließend entscheiden – allein von der Existenz des Ankaufs von Staatsanleihen gehe jedenfalls „keine hinreichende Begründung für eine Mandatsverletzung“ aus. „Dies gehört zum traditionellen Instrumentarium für Notenbanken“, so Feld.
Geldregen in der EU (in €)
(Quelle: Eurostat, Europäische Kommission)
Doch wie lange lassen sich Risikoaufschläge auf südeuropäische – primär italienische – Staatsanleihen tatsächlich drücken? Sollte die EZB bis zu einem Drittel der Staatsanleihen eines Landes aufkaufen, würde sie eine Sperrminorität für den Fall einer Restrukturierung der Staatsschulden besitzen. An dieser von ihr selbst definierten Grenze bewegt sich die EZB vermutlich bereits: Anfang Mai hielt das Eurosystem Staatsanleihen im Wert von insgesamt 2,189 Billionen €.
Die Krisenwerkzeuge Europas drohen an ihre Belastungsgrenzen zu stoßen. Lassen sich Rettungsschirme immer und immer wieder aufspannen, wenn die Staatsverschuldung wächst? Der aggregierte Wert für das Staatsdefizit aller Mitgliedstaaten steigt von 0,6 % des BIP (2019) auf 8,5 % (2020). Ganz auszuschließen ist weiterhin nicht, dass sich irgendwann eine Hardcore-Euro-Union herauskristallisiert. Ob einer solchen Euro-Kernunion auch Frankreich angehören kann, ist fragwürdig – der Wirtschaftskoloss wankt nicht erst seit Covid-19 und könnte sich schnell als Klotz am Bein herausstellen.
Die Alternativlosigkeit zur Europäischen Union ist unbestritten – ihre Handlungsfähigkeit ist es nicht. Sie spießt sich primär am Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat. Die permanente Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner lässt die EU behäbig und orientierungslos erscheinen. Bewährt hat sich die Europäische Union als historisches Friedensprojekt – ob sie gleiche Errungenschaften auch als Wirtschafts- und Währungsunion schaffen wird (und sich vor allem in welthistorischen Krisenzeiten bewährt), wird sich vermutlich bald herausstellen.
Text: Raoul Sylvester Kirschbichler
Illustration: Valentin Berger
Der Artikel ist in unserer Mai-Ausgabe 2020 „Geld“ erschienen.