Im Kampf gegen die Mülltonne

Too Good To Go verbindet Lebensmittelgeschäfte mit nachhaltigkeitsbewussten Konsumenten, die außerdem ihre Geldbörse schonen wollen: Mittels App können die Shops am Ende eines Geschäftstags Lebensmittel vergünstigt verkaufen und müssen diese nicht wegwerfen – es scheint wie eine Win-win-win-Situation. 2023 hat Too Good To Go erstmals ein positives Ergebnis erzielt. Aber kann CEO Mette Lykke auch nachhaltig Profite generieren?

Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit vier Freunden auf ein Abendessen. Die Stimmung ist gut; ­serviert werden Schnitzel, Gulasch, Zwiebelrost­braten und andere Speisen, die sorgfältig zubereitet wurden, an denen wohl Dutzende Arbeitsstunden hängen und deren Zutaten oft Tausende Kilometer zurückgelegt haben, um in einem Restaurant in Wien oder Zürich zu landen. Dann stellen Sie sich vor, einer Ihrer Freunde wirft – bevor er einen Bissen nimmt – sein Essen weg und geht.

Statistisch gesehen ist das ein völlig normaler Umgang mit Lebensmitteln: Laut dem Food Waste Index Report 2024 des Umwelt­programms der Vereinten Nationen (UNEP) wurden im Jahr 2022 etwa 1,05 Milliarden Tonnen an Essen verschwendet. Es ist schwer, diese Menge zu begreifen: Das Gewicht dieser Lebensmittel entspricht rund dem von sechs Millionen Antarktischen Blauwalen, dem größten Tier der Welt, oder mehr als 100.000 Eiffeltürmen; oder rund 2.876 Empire State Buildings. Jedenfalls ist diese Menge laut dem UNEP-Report 19 % des Essens, das Konsumenten zur Verfügung steht. Das ist nicht nur verschwenderisch – Lebensmittel­verluste und -abfälle sind für 8 bis 10 % der glo­balen Treibhausgasemissionen verantwortlich und tragen somit erheblich zur Klimakrise bei.

Viele Unternehmen arbeiten daran, dass ­weniger Essen verschwendet wird (laut Crunchbase haben Privatunternehmen dieser Art 2022 216 Mio. britische Pfund aufgenommen), aber das bekannteste ist wahrscheinlich Too Good To Go. Auf der App des dänischen Unternehmens können Nutzer am Ende eines Geschäftstags „Überraschungspackerl“ von Restaurants, Bäckereien und Lebensmittelhändlern kaufen. In den Paketen sind Lebensmittel, die die Unternehmen auf der anderen Seite der Plattform sonst ­wegwerfen müssten. Die Konsumenten kaufen das Essen vergünstigt, oft zu einem Bruchteil des üblichen Preises; die Unternehmen können einen (sehr) kleinen Teil der Kosten, die durch die Produktion der Lebensmittel aufkommen, wieder einholen. Dafür bezahlen sie an Too Good To Go eine fixe Gebühr für jedes Paket, das sie über die App verkaufen.

2015 von fünf Dänen gegründet (die App launchte 2016) hat Too Good To Go vergangenes Jahr 146,5 Mio. € Umsatz eingespielt und ­einen Betriebsgewinn (EBITDA) von 7,5 Mio. € geschrieben. Laut eigenen Angaben rettet das Unternehmen täglich 350.000 Mahl­zeiten in 19 Ländern „über alle Zeitzonen“, so Mette Lykke, die CEO von Too Good To Go.

Doch in den letzten Jahren hat Lykke gemerkt, dass ein Start-up, auch eines mit einer noblen Vision, nicht einfach nur expandieren kann. Der Betriebsgewinn 2023 war der erste in der Unternehmensgeschichte, und er kam erst, nachdem das Unternehmen die Einstellungsquote und das Marketing zurückgeschraubt hatte. Nach Abschreibungen, Finanzausgaben und Steuern war das Ergebnis 3,7 Mio. € im Minus. „Wie viele andere Tech-Unternehmen haben wir beschlossen, Wachstum und Profitabilität ein wenig neu zu ­kalibrieren“, so Lykke. Die Reihenfolge sei jetzt umgekehrt: zuerst Profitabilität, dann Wachstum.

Im Jahr 2016, erinnert sich Lykke, war sie mit dem Bus auf dem Weg zu einem Event außerhalb von Kopenhagen, Dänemarks Hauptstadt, als sie von einer Frau angesprochen wurde. „Sie hat begonnen, mir über Too Good To Go zu erzählen, und zeigte mir die App auf ihrem Smartphone“, so die dänische Geschäftsfrau. Lykke arbeitete zu dem Zeitpunkt noch bei Under Armour. Anfang 2015 hatte sie ihr 2007 gegründetes Start-up Endomondo, das die gleichnamige Running-App entwickelte, an den US-amerikanischen Sportartikelhersteller verkauft und war dafür VP International der Connected-Fitness-Abteilung geworden. Die Frau im Bus, das stellte sich später heraus, war bereits mit dem Gründerteam von Too Good To Go in Kontakt – sie wollte in das junge Start-up investieren. „Sie hat mir geholfen, ein Meeting (mit den Gründern; Anm.) zu organisieren, und dann habe ich gemeinsam mit ihr investiert“, erzählt Lykke die Geschichte weiter. Die Frau ist noch investiert – und Lykke wurde nach ein paar Monaten gefragt, ob sie nicht die Geschäftsführung übernehmen wolle.

Damals zählte das Team keine 20 Köpfe, die App war aber schon in zehn Ländern verfügbar – zu viele für die Dänin. Das Start-up „ist einfach zu schnell gewachsen“, sagt sie. „Ich habe eine Strategie entwickelt, um das Unternehmen auf das nächste Level zu bringen. Wir mussten vier Märkte schließen und uns auf sechs konzentrieren. Funding hatten wir eigentlich nur für drei davon. Das ist natürlich bei den Gründern nicht gut angekommen, aber sie haben es eingesehen.“

Langfristig hat die Strategie funktioniert. Die Pandemie hat Too Good To Gos Wachstum gebremst, weil viele der Partnerunternehmen zugesperrt haben. Aber 2021 schloss das Start-up eine 31,1 Mio. US-$ schwere Finanzierungsrunde ab; laut Crunchbase zu jenem Zeitpunkt die mit Abstand größte.

Wenn Start-ups wachsen und neue Inves­toren an Bord holen, ist die Mission immer in ­Gefahr – mehr Shareholder bedeuten mehr verschiedene Interessen. Lykke und ihr Team führen deshalb eine „Reverse Due Diligence“ durch: „Wir haben auch sie gefragt: ‚Was ist euer Purpose? Wie denkt ihr über Nachhaltigkeit? Wie denkt ihr über langfristige Profite versus Wachstum?‘ Und wir haben früh beschlossen, uns auf private Investoren zu fokussieren.“

Möchte Too Good To Go einen neuen Markt erschließen, steht das Unternehmen vor ­einem Henne-Ei-Problem: Um profitabel zu sein, muss die Plattform eine gewisse Größe erreichen, und dafür müssen große Unternehmen mit­spielen; Supermärkte wie Spar und Hofer in ­Österreich oder Migros und Coop in der Schweiz. (Billa war in Österreich bis Ende Oktober auch auf der Plattform, bietet aber seit November seine eige­nen „Rettersackerl“ an.) Kunden wollen die Plattform nur nutzen, wenn sie mit ihr in ­vielen ­Geschäften einkaufen können. Um die großen „Key Accounts“ zu bekommen, muss Too Good To Go aber einen gewissen Kundenstamm vorweisen – sonst zahlt es sich für die großen Player nicht aus. „Wir fangen meistens damit an, viele unabhängige Partner an Bord zu holen. Das sind die lokalen Restaurants, die lokalen Bäckereien, die kleinen Supermärkte“, so Lykke. Die großen Key Accounts kämen dann mit der Zeit.

Dieser Prozess läuft laut der CEO immer schneller ab. Nach unserem Gespräch wurde Too Good To Go in Sydney, Australien, gelauncht – die zweite Stadt in Down Under, in der die App jetzt verfügbar ist. Schon beim Launch waren zwei große Ketten, Harris Farm Markets und Bakers Delight, auf der Plattform. Die ganz großen Händler – Woolworths, Coles, Aldi und Metcash, die in Australien rund 80 % des Lebensmittel­einzelhandel-Markts kontrollieren – sind aber noch nicht auf der Plattform.

„Die traurige Realität ist, dass in allen Ländern genug Lebensmittel verschwendet werden, dass wir eine Rolle spielen können.“

 

 

Mette Lykke

In Österreich habe Too Good To Go rund 6.600 Partnergeschäfte, in der Schweiz rund 7.000, sagt Lykke. 2,2 Millionen Menschen nutzen die App laut ihr in Österreich; im kleineren Nachbarland sind es 2,5 Millionen. 51 Mitarbeiter arbeiten im „Team Alps“, das für die beiden Länder verantwortlich ist. Ein Unterschied zu anderen Ländern sei in dieser Region das Bewusstsein der Bevölkerung, das Lebensmittelverschwendung ein Thema und verwerflich ist: „Wenn wir Alps etwa mit den USA vergleichen, ist das ­Bewusstsein rund um Nachhaltigkeit hier klar ­höher als in den Vereinigten Staaten“, so Lykke.

Dieses Mindset ist einer der Faktoren, die Lykke und ihr Team berücksichtigen, bevor sie in neue Märkte expandieren: Wie denken Menschen über Lebensmittelverschwendung? Andere Faktoren sind die Anzahl und Größe der Lebensmittelgeschäfte in einem Land, der Digitalisierungsgrad oder die Preise von Lebens­mitteln. Aber Lykke sagt auch: „Die traurige Realität ist, dass in allen Ländern genug Lebensmittel verschwendet werden, dass wir eine Rolle spielen können.“

Es gibt neben Too Good To Go noch einige andere Plattformen, die alle mehr oder ­weniger das Gleiche tun; etwa Flashfood in den USA oder Resq Club in Finnland und einigen Städten in Schweden, Estland und Berlin. Was Too Good To Go unterscheidet, ist die Größe. „Ich denke, es ist ein echter Vorteil, der Größere zu sein – denn Konsumenten wollen (auf einer Plattform; Anm.) eine große Auswahl haben, und die Geschäfte wollen sicherstellen, dass das Essen, das sie auf die Plattform stellen, auch gerettet wird.“ Ähnlich wie bei sozialen Netzwerken oder Ride-Hailing-Apps wie Uber setzt Too Good To Go auf Netzwerkeffekte. Der wahre Konkurrent sei aber, so Lykke, ohnehin die Mülltonne, denn dort ­landen 98 % der überschüssigen Lebensmittel. Lykke: „Wir sind mehr darauf fokussiert als auf alles andere.“

Ob Too Good To Go groß genug ist, um auch langfristig Gewinne schreiben zu können? Lykke umschifft die Frage nach den Zahlen für 2024: „Wir haben das Glück, dass wir Shareholder haben, die fest an unsere Mission glauben und ­wollen, dass wir einen möglichst großen Impact haben. Sie wollen, dass wir ein globales Unternehmen werden, also sind sie bereit, zu investieren.“ Was den Umsatz angeht, erwartet Lykke im Vergleich zu 2023 ein „solides zweistelliges Wachstum“.

Vor allem aber betont Lykke, dass ihr Unternehmen sich nicht zwischen Profitabilität und Purpose entscheiden muss. „Das Schöne an unserem Geschäftsmodell ist“, so die Dänin, „dass es ein Social-Impact-Modell ist. Die beiden Dinge gehen also Hand in Hand. Wir müssen uns nicht für eines der beiden entscheiden, sondern können laufend in unsere Mission investieren.“

Die letzten Jahre haben aber gezeigt, dass Too Good To Go sich fürs Erste noch zwischen zwei anderen Faktoren entscheiden muss: Rentabilität und Wachstum. Trotzdem möchte Lykke expandieren: „Wir haben auf jeden Fall noch Ehrgeiz für mehr“, sagt sie. Nicht nur in neue geografische Märkte möchte die Geschäftsfrau das Unternehmen führen – sie möchte das Problem der Lebensmittelverschwendung entlang der gesamten Wertschöpfungskette bekämpfen.

So bietet das Start-up etwa bereits Too Good To Go Parcels an. Das Prinzip ist das gleiche wie das des Kerngeschäfts, richtet sich aber an Hersteller statt an Restaurants und Supermärkte: Im Zuge dieses Programms kauft Too Good To Go überschüssige Lebensmittel von Herstellern und verpackt sie in Parcels, also Pakete, die dann über die App an Konsumenten verkauft werden. Eine weitere Schiene ist Too Good To Go Platform: Damit hat das Unternehmen auch ein System, mit dem Einzelhändler Mindesthaltbarkeitsdaten managen können, im Angebot. Sind diese erst einmal digitalisiert, schlägt das System mittels KI Rabatte für Produkte vor, die nicht mehr lange halten. Was nicht rechtzeitig wegkommt, kann über die App verkauft werden.

Lykke weiß, dass die Mahlzeiten, die Too Good To Go vor der Mülltonne rettet, nur ein kleiner Tropfen im riesigen Ozean der Lebensmittel­verschwendung sind: „Natürlich gibt es noch viel zu tun“, sagt sie. Aber ihr Ziel steht fest: „Das ultimative Ziel ist, ein Unternehmen zu bauen, das jeden Tag seinen Impact steigert.“

Mette Lykke investierte 2016, ein Jahr nach der Gründung, in Too Good To Go. Wenige ­Monate später wurde die Dänin CEO. Davor war sie Co-Gründerin der Running-App Endomondo und verkaufte diese 2015 mit ihren Mitgründern für 85 Mio. US-$ an Under Armour, wo sie bis 2017 VP International von Under Armour Connected Fitness war. Von 2016 bis 2021 war Lykke Board Member von Gyldendal, Dänemarks größtem Verlagshaus.

Fotos: Gianmaria Gava

Erik Fleischmann,
Redakteur

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