„Ich wollte NUR DIE neuesten Jeans“

Der Videogaming-Unternehmer Shurick Agapitov wuchs in armen Verhältnissen in Russland auf und konnte sich nicht mal einen Computer leisten. Heute ist er Tech-Milliardär und lebt den amerikanischen Traum – nicht zuletzt dank Europa.

Neulich ging Aleksandr „Shurick“ Agapitov mit seiner Familie ins Kino. Sie schauten sich „Barbie“ an, den Blockbuster des Sommers, und vielleicht gefiel der Streifen Agapitov noch mehr als seiner Frau und der zwölf Jahre alten Tochter. Ihn faszinierten die knallbunte Spaßwelt und der überzeichnete California-Lifestyle zwischen Supermansion und Malibu Beach – und natürlich die Meta­erzählung, wonach kein Traum zu absurd, zu surreal ist.

„Filme wie diese haben stets mein Bild von Amerika geprägt“, sagt Agapitov. Auch seine Biografie wäre ein guter Stoff für die Traumfabrik: Der 39-Jährige stammt aus Russland und baute das Unternehmen Xsolla auf, ein von Goldman Sachs und Bank of America auf drei Mrd. US-$ be­wertetes Zahlungsunternehmen für die Video­spielindustrie. Die Software und die digitalen Tools der Firma erleichtern den Zahlungsverkehr zwischen Spielern und Gaming­plattformen. Agapitov ist alleiniger Eigentümer, und als Gründer von Xsolla Funding Club unterstützte er auch in Europa Gamingstudios und Entwickler mit Risikokapital, damit diese in der hart umkämpften Branche konkurrenz­fähig und erfolgreich sein können. ­Nebenbei rief er die Content-Pub­lishing-Plattform 80 Levels und das Datatech-Start-up Slemma ins Leben. Agapitovs neues Lieblingsprojekt ist „X.LA“, das die Monetarisierung von Produkten im Metaverse vorantreibt.

Das Kerngeschäft hat sich in den vergangenen 15 Jahren allerdings kaum verändert: „Wir helfen Spieleentwicklern, Geld zu verdienen“, so fasst Agapitov seine Mission zusammen. Xsolla bietet 500 Zahlungs­methoden in Nord- und Südamerika, Europa und Asien an, etwa mit Kredit- und Debitkarten, Online­banking oder mobilen Zahlungen. Giganten wie Epic Games oder Ubisoft wickeln Zahlungen ihrer Ingame-Stores mit Xsollas Dienst­leistungen ab und die Plattform Twitch nutzt den Service für ihre Abo-Modelle.

Xsollas Firmensitz liegt in Sherman Oaks, nördlich von Los Angeles, doch zu den wichtigsten Niederlassungen zählt das Büro in Berlin, das vor einem Jahr eröffnet wurde. Xsollas Umsatz liegt bei rund 67 Mio. US-$; das Unternehmen bietet Entwicklern inzwischen einen Komplettservice an, auch hinsichtlich Steuern, Compliance und Betrugsvermeidung, in mehr als 200 Ländern, in 20 Sprachen, 130 Währungen und mit 700 Zahlungsmethoden. Xsolla behält dabei pauschal 5 % an Kommission ein. Rund 1.500 Firmen zählen zum Kundenstamm.

Agapitov hat der deutschen und europäischen Gamingbranche viel zu verdanken. Natürlich wird er auch diesen August zur weltgrößten Spielemesse Gamescom nach Köln reisen. In der Vergangenheit hat er bei diesem Event schon wichtige Deals abgeschlossen. „Die EU ist weiterhin führend in der Spieleentwicklung, wir alle können von Europa lernen“, sagt Agapitov. Wie andere Regierungen weltweit hat Brüssel die ökonomische und technologische Bedeutung von Videogames für das Web 3.0 und das Meta­verse verstanden und fördert Start-ups und unabhängige Firmen mit Millionen von Euros.

Die Videospielindustrie ist weiterhin ein gigantischer Wachstumsmarkt. Die Coronapandemie hat der Branche nochmals einen Schub verpasst. Aktuell ist sie rund 400 Mrd. US-$ wert und verdient damit rund dreimal so viel wie die Film- und die Musikindustrie zusammen. Ein Treiber ist die Entwicklung des Metaverse-Markts, der laut Prog­nosen bis 2026 auf umgerechnet fast 669 Mrd. € wachsen wird, wie die Markt­forscher von Global Industry Analysts errechnet haben.

Nur wenige Tech-Milliardäre verkörpern den amerikanischen Traum und dessen Aufstiegsversprechen wie Shurick Agapitov.

Agapitov ist für die Zukunft bestens aufgestellt. Dass er optimistisch nach vorne blickt, hat auch mit seiner Vergangenheit zu tun: Geboren wurde der Computerfreak in Perm, dem Tor zu Sibirien. Sein Vater war Alkoholiker, die Mutter verdiente das Brot in der örtlichen Munitionsfabrik, doch das Gehalt kam unregelmäßig. „Wir waren sehr arm. Wir lebten von umgerechnet zwei Dollar am Tag“, erzählt Agapitov.

Erst als er 18 Jahre alt wurde, hatte er das Geld beisammen, um sich einen Computer leisten zu können, einen Laptop von HP mit Windows Vista. Er studierte Mathematik und programmierte die erste Software für Onlinezahlungen. „Ich wurde nicht Unternehmer, um die Welt zu ver­ändern“, sagt Agapitov, „ich wollte mir einfach nur die neuesten Jeans leisten können.“ Oder schicke Adidas-­Schuhe – mit seinen ersten Ein­künften gönnte er sich weiße ­Sneakers, er hat sie heute noch.

Den Hunger auf die Symbole des Westens verstärkten Filme wie die Komödie „American Pie“. Natürlich schaute er den Film nicht im Kino in Perm, sondern online. „Für mich bedeutete das Internet Freiheit; es war eine Welt, die mir die Möglich­keiten gab, die ich in der analogen Welt nicht hatte“, sagt Agapitov.

Unter dem Namen „2Pay“ grün­dete er 2005 einen Anbieter für Zah­lungstransaktionen im Internet, der sich zunächst nur auf den russischen Markt konzentrierte. Agapitov entwickelte Tools, die vor allem die heute weitgehend überholten Zahlungen per SMS oder Prepaid-SIM-Karte vereinfachten. Er baute das Geschäft aus, mit dem Ziel, auch jenseits von Russland zu expandieren. Er gewann Kunden in Deutschland und Europa und versuchte 2009, das Kapital für ein Investment-Visum für die USA aufzutreiben – was zunächst misslang. Doch er blieb beharrlich und gab den Traum nicht auf. „Ich wollte ein Leben wie in Hollywood-Filmen“, sagt Agapitov – auch, um dort mit seiner ebenfalls aus Perm stammenden Frau ein neues und besseres Leben aufzubauen.

Im Jahr 2010 gelang der Sprung. Osteuropas führender Gaming-Zahlungsdienstleister siedelte in die USA um, gab sich den Namen Xsolla und wurde zu einem amerikanischen Unternehmen. Ohne Fremdkapital gelang die Expansion, doch auch Rückschläge gehören zu der Story: Vor zwei Jahren sorgte Agapitov in der Gamingszene für einen Skandal und Negativschlagzeilen. Damals setzte er 150 Mitarbeiter vor die Tür. Die Kündigungen begründete er durch Big-Data-Analysen, die Dutzende Menschen als „unengagiert und unproduktiv“ einstuften. Die interne Einschätzung sickerte in die Öffentlichkeit durch. Später gab Agapitov den CEO-Posten ab, blieb aber alleiniger Eigentümer.

Seine Wurzeln liegen in Russland, der Wachstumsmotor seines Unternehmens ist eng mit Europa verbunden, seine persönliche Zukunft sieht er in den USA. „Ich bin heute ein stolzer Amerikaner“, sagt er. Im kommenden Jahr wird er zum ersten Mal bei der US-Präsidentschaftswahl seine Stimme abgeben. Dass die USA Zuwanderung nicht erleichtern und er selbst an den hohen Hürden für Visa zunächst scheiterte, sieht er nicht negativ. „Du musst jemand sein oder etwas mitbringen, damit du in diesen Klub aufgenommen wirst. Je exklusiver ein Klub ist, desto mehr Menschen wollen dabei sein.“

Agapitov will seinem Weg treu bleiben, keinen Investor ins Unternehmen holen. „Wir wachsen gemeinsam mit unseren Kunden“, sagt er. Es ist genau das Leben, das sich der junge Agapitov damals in Russland erträumt hatte.

Text: Helene Hohenwarter
Fotos: Dirk Bruniecki

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Reinhard Keck

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