„Ich gehe nicht, bevor ich fertig bin.“

Christoph Boschan, neuer Chef der Wiener Börse, ist erst 38. Bereits im Eingangsbereich des altehrwürdigen Palais Caprara-Geymüller entschuldigt er sich,..

Christoph Boschan, neuer Chef der Wiener Börse, ist erst 38. Bereits im Eingangsbereich des altehrwürdigen Palais Caprara-Geymüller entschuldigt er sich, dass hier Aktienkurse über altmodische Lauftexttafeln tickern. „Und erst die Bibliothek!“ Der Mann wird in diesem Haus noch einiges umkrempeln, denkt man. Mit Forbes sprach er über seine Pläne für die Börse Wien.

Herr Boschan, Sie waren Co-CEO der Börse Stuttgart. Warum Wien?

Ganz einfach: Wegen des Geschäfts und des privaten Lebensumfeldes. Es hat mich an Wien sehr gereizt, eine wirkliche Nationalbörse zu leiten. Die Börse Wien hat eine konkrete Funktion bei der Refinanzierung der nationalen Wirtschaft: durch das Listing und den Handel von Aktien und Anleihen. Im deutschen Börsewesen – bei allem Erfolg – mussten sich außerhalb Frankfurts alle Häuser eine Spezialisierung suchen. Und diese hat immer mit Geschäftsgegenständen zu tun, bei denen es, na ja, jedenfalls nicht mehr um die originäre Unternehmensrefinanzierung geht. Stuttgart beispielsweise konzentriert sich auf den Zertifikatehandel. Und nicht zuletzt haben Österreich und Wien eine große Anziehung auf mich gehabt. Bei meiner Frau brach helle Begeisterung aus.

Unter dem Dach der Börsen-Holding CEESEG, die die Töchter Wien und Prag verwaltet, hat sich seit 2014 viel geändert: Die geplante Fusion mit Warschau scheiterte, Ungarn und Slowenien wurden verkauft. Sind weitere Änderungen zu erwarten? Und wie sicher ist der Platz der Börse Prag in der CEESEG?

Absolut fix! Prag ist Kernelement der Gruppe. Punkt. Die Börse Prag hat übrigens eine außerordentlich interessante erweiterte Struktur, weil sie gleichzeitig die Zentralverwahrung innehat (Verbuchung der Wertpapiertransaktionen auf den Finanzmärkten; in Österreich ist die Kontrollbank OeKB zuständig, Anm.). Als CEESEG sind wir mit vielen Partnerbörsen zwar nicht mehr gesellschaftsrechtlich verbunden, aber dafür technisch aufs Engste. Wir berechnen die wichtigsten osteuropäischen Indizes und sind der zentrale Datenhub in der Region. Wien stellt Prag, Budapest und Ljubljana das Handelssystem zur Verfügung (Wien hat eine Lizenz für die Plattform Xetra der Deutschen Börse, Anm.). In Kürze wird Zagreb dem System beitreten. Wir werden das IT-Geschäft ausbauen.

Als die CEO-Wahl im Mai auf Sie fiel, wollte der Aufsichtsrat einen „europäischen Marktplatz“ und „zukunftsweisende Services“ sehen. Die Osteuropa-Strategie fiel im Wording unter den Tisch. Mit welchen Maßnahmen wollen Sie diese europäische Dimension erreichen?

Das Osteuropa-Geschäft war und ist eine fundamentale Säule dieses Hauses. Gleichzeitig kommen 80 Prozent unseres Orderstroms aus dem Ausland, hauptsächlich aus Großbritannien und den USA. Mit denen müssen Sie sprechen, wenn Sie das Geschäft entwickeln wollen. Es ist ganz einfach: Der Investor darf nirgends in Europa einen günstigeren Ausführungspreis für seine Order österreichischer Aktien bekommen als in Wien. Es gibt einen heftigen Wettbewerb in Europa zwischen 150 aktiven Plattformen. Zu unserem Bedauern sind die meisten davon außerbörsliche Systeme, die ohne das regulatorische Gepäck von Börsen arbeiten.

Foto: David Visnjic
Foto: David Visnjic

Heißt das, Sie wollen die Preisgestaltung ändern? Die Wiener Börse hat nicht immer den Ruf als günstigste Anbieterin.

Es ist dringendst aufzuräumen mit dem Gerücht, die Börse Wien sei teuer. Die Analyse zeigt das Gegenteil. Wien hat im Handel mit österreichischen Aktien mit Abstand die besten Ausführungspreise, die geringsten Spreads (Differenz zwischen An- und Verkaufspreis, Anm.), die höchste Liquidität und die beste Informationsversorgung. Im Börsenhandel muss man sich zwei Kostenaspekte ansehen. Zum einen die impliziten Kosten: Es macht einen Unterschied, ob Sie eine heimische Aktie an einem anderen Platz um 50 Cent teurer erwerben oder um 50 Cent günstiger an diesem Platz. Das sind die Hauptkosten, und die sehen die meisten gar nicht! Bei ATX-Werten hat Wien implizite Kosten von ungefähr 5 bis 15 Basispunkten (0,05 bis 0,15 Prozentpunkte, Anm.). Unser Hauptwettbewerber, eine Plattform in London, folgt mit durchschnittlich 25 Basispunkten. Das bedeutet, bei einer 10.000-€-Order bestehen in Wien Spread-Kosten zwischen 5 und 15 €, in London 25 €, und beim nächsten Wettbewerber wird es mit über 30 bis 40 € dramatisch teurer. Die zusätzliche explizite Gebühr, die wir in Wien für unsere Dienstleistungen als Börse verrechnen, liegt um die fünf oder sechs Euro für eine 10.000-€ Order. Alle unsere Modelle zeigen zudem, dass ein österreichisches Unternehmen in London nur die Hälfte der Liquidität zu erwarten hat.

Da fällt einem die RHI ein, die nach dem Magnesita-Kauf von Wien an das Londoner Parkett wechseln will. Man hört, Sie haben mit dem Unternehmen gesprochen. Was sagt man dort?

Solche Entscheidungen liegen in der Diskretion des Unternehmens. Aber selbstverständlich bedauere ich das außerordentlich. Die österreichischen Anleger müssen zudem eine Auslandsorder zu erhöhten Kosten aufgeben und sie haben ein Währungsrisiko durch die Pfundnotiz. Gleichzeitig werden sie außerhalb der Europäischen Union handeln, wo das regulatorische Umfeld jedenfalls nicht dem entspricht, was sie zu Hause gewohnt sind. Es ist auch meine Aufgabe, den Emittenten Konzepte vorzulegen, wie sie sich die österreichische Investorenbasis weiter erhalten können. Das machen wir grade.

Haben Sie schon mit Entscheidungsträgern bei Telekom Austria oder Conwert gesprochen, die auch bald vom Kurszettel verschwinden könnten? Dem Telekom-Chef ist das Listing zu aufwendig, Conwert soll übernommen werden …

Wir werden definitiv die Emittentenbetreuung verstärken. Meine Aufgabe ist es auch, mit den Funktionsträgern zu sprechen. Aber natürlich fange ich bei den Eigentümern, Aufsichtsräten, Mitarbeitern an. Wir sind mitten in dem Prozess.

Also haben Sie noch nicht bei der Telekom oder Conwert angerufen?

Also … es gibt eine konkrete Befassung in beiden Fällen. Wenn man sich umhört, scheint Ihnen das Thema Start-up-Finanzierung überaus wichtig zu sein. Es soll einen Schwerpunkt geben. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich hier schon einen Schwerpunkt gesetzt habe. Ich habe einen internen Strategieprozess aufgesetzt, um die Börse auszurichten. Hier bitte ich noch um etwas Geduld. Grundsätzlich kümmern wir uns als Börse in erster Linie um die notierten Unternehmen. Aber wir werden selbstverständlich für jede Stufe des gesamten Funding Escalators eine Beteiligung der Börse formulieren müssen. Das beginnt mit Pre-Seed-Finanzierung, Seed-Finanzierung, Venture Capital, Private Equity, Private Placement, und dann erreicht man irgendwann die ersten Börsengänge. Die Politik hat große Sympathie für kleinere Unternehmen. Man kümmert sich sehr um die ersten Schritte. Ich stelle aber an die Politik die Frage: Hat sie eine Börsennotiz als Zielbild für diese Unternehmen überhaupt im Auge? Aus jedem Euro, der in ein Börseunternehmen investiert wird, resultieren 2,5 neue Euro für die Volkswirtschaft. Darauf müssen wir einfach politische Antworten finden.

Würden Sie Ihre Pläne für die Start-ups dann doch konkretisieren? In Frankfurt gibt es etwa das vorbörsliche Venture Network: Seit der Gründung 2015 haben Start-ups dort fast eine Milliarde € erhalten, das erste schaffte kürzlich den Sprung an die Börse. Könnte man so etwas bald in Wien sehen?

Vorbörsliche Segmente haben meine allergrößte Sympathie. Sie sind eine Basis für spätere Börsegänge. Wir schauen uns das intensiv an.

Heißt das, Sie schauen mal, oder Sie arbeiten schon dran?

Wir haben ja bereits Initiativen, etwa unsere IPO-Workshops. Erst kürzlich hatten wir neun interessierte Emittenten und einige Beteiligungsgesellschaften da.

ICH STELLE AN DIE POLITIK EINE FRAGE: HAT SIE EINE BÖRSENNOTIZ ALS ZIELBILD FÜR DIESE UNTERNEHMEN ÜBERHAUPT IM AUGE?

Ein IPO-Workshop ist doch was anderes, als wenn ich öffentlich eine eigene Plattform ausrufe, Teilnahmebedingungen ausgebe, eine eigene Venture-Homepage zur Verfügung stelle und so weiter.Wollen Sie so etwas machen?

Die Botschaft ist: Wir machen das schon. Das kann ich alles unterschreiben, was Sie da aufzählen.

Wie hoch ist das IPO-Potenzial in Wien Ihrer Meinung nach?

Also das wird ja auch oft übertrieben negativ dargestellt: Die Börsen-Zu- und -Abgänge in Österreich folgen genau der europäischen Entwicklung. Allerdings muss ich schon sagen: In Österreich hinkt die Kapitalisierung der Unternehmen über die Börsen gemessen am BIP deutlich hinterher (2013 lag dieser Wert bei 38 Prozent des BIP, Anm.). Das zeigt gleichzeitig das Potenzial.

Die heimische Börsenkapitalisierung gemessen am BIP liegt nur wenige Stellen vor Griechenland …

Nun ja, sie ist nur halb so groß wie in vergleichbaren Ländern. Man muss aber differenzieren: Wenn der Eigenkapitalmarkt überbordend dominiert, wie etwa im angloamerikanischen Raum mit Börsenkapitalisierungen von weit über 100 Prozent des BIP, ist das oft Ausdruck einer schlechten Bankenfinanzierung. Von meiner Seite daher ein Kompliment an die österreichischen Banken. Die Unternehmen müssen Kapital natürlich auch brauchen. Die Börse ist keine Zwangsbeglückungseinrichtung. Wir müssen aber sichtbar machen, wann Eigenkapital wirklich nötig ist: Insbesondere braucht man es für Innovationen. Unternehmen mit einer klassischen, stetigen Geschäftsentwicklung werden mit Fremdkapital gut versorgt. Insofern ist eine unterentwickelte Eigenkapitalkultur immer auch Ausdruck einer geringen Innovationsfreudigkeit – das ist meine große Warnung an die Politik. Meine eigene Erfahrung ist aber, dass ich in der österreichischen Politik überall offene Türen vorfinde.

Sie haben mehrfach die Kapitalertragsteuer (KESt) kritisiert, die 2016 von 25 auf 27,5 Prozent gestiegen ist, aber nicht für Sparzinsen …

Das muss man sich mal vorstellen, was das für ein fatales politisches Signal ist, dass die KESt für verzinste Bankguthaben niedriger ist als für alle anderen Instrumente – etwa Aktien! Auch eine Finanztransaktionssteuer wäre ein falsches Signal für einen vergleichsweise kleinen Kapitalmarkt, der Anschluss an die internationalen Kapitalmärkte braucht. Jeder zehnte Arbeitsplatz in Österreich hängt an börsennotierten Unternehmen. Es wurden heuer zwei Milliarden € an Dividenden ausgeschüttet – leider nur an die, die Aktien haben. Und das sind in aller Regel die besser Gebildeten, die Vermögenderen. Hier muss man auch als Börse was machen.

Werden Sie den Anlegern neue Tools zur Verfügung stellen?

Hier müssen wir dringend was machen, hier werden wir was tun.

Was genau?

Handelsfunktionen für den Anleger, auf der Internetseite, im Handelssystem. Für die Privatanleger muss sich alles an Information und höherer Transparenz orientieren. Bei der institutionellen Seite wird es um die Liquidität gehen.

Mit welchen Maßnahmen wollen Sie diese konkret verbessern?

Für jedes Bedürfnis muss man ein Marktdesign finden. Einfach nur bestehende Handelsmodelle, und seien sie noch so international, zu übertragen, insbesondere in kleinere Märkte, das halte ich für fatal.

Also wie soll die Änderung aussehen? Wien hat das System der „Specialists und Market Maker“ (halten durch laufende verbindliche An- oder Verkaufsangebote den Markt in Schwung, Anm.), anderswo gibt es sogenannte „Quality Liquidity Provider“ (QLP), die den elektronischen Handel mit Liquidität ergänzen. Liegt da Ihr Angriffspunkt?

Sie sprechen das Richtige an. Sie brauchen immer hoch entwickelte, vollautomatische Systeme. Dann brauchen Sie aber noch jemanden, der Liquidität stellt, wenn nötig. Dafür gibt es hier, wie überall, Konzepte. Wir werden uns ansehen, wie wir diese verbessern können.

Laut Ihrem Eingangsstatement scheint ein Fokus auf Derivate oder Zertifikate, wie Sie ihn in Stuttgart hatten, in Wien nicht geplant.

Absolut richtig.

Wie sieht es mit Kooperationen mit Social-Trading-Plattformen wie Wikifolio oder eToro aus? Wikifolio arbeitet mit Stuttgart zusammen.

Alle reden von Bank 3.0, Bank 4.0, wie interessierst du die Leute für die Kapitalanlage? Und der Andreas Kern (Wikifolio-Gründer, Anm.) geht her, lässt die Leute handeln und bastelt die notwendige Zertifikate-Infrastruktur. Solche Antworten braucht man.

Wollen Sie Partner für ein Finanz-Start-up werden?

Wir öffnen uns als Partner für all diese Initiativen! Aber damit nicht der falsche Eindruck entsteht: Stuttgart ist der exklusive Partner von Wikifolio.

Die US-Börse Nasdaq hat die erste Handelsplattform auf Blockchain-Basis gestartet (ein dezentrales System, in dem Geldgeber und -nehmer ohne zwischengeschaltete Services auskommen,Anm.). 2015 haben Risikokapitalgeber mehr als 450 Millionen US-$ investiert. Beschäftigen Sie sich damit?

Man muss es sich ansehen, weil es superinteressant ist. Aber ich sehe in der Blockchain nicht, was mehrheitlich durch die Medien geblasen wird: ein egalitäres, sozialistisches, disruptives System, das alle „trusted institutions“ vom Markt fegen wird. Im Gegenteil. Blockchain ist nichts weiter als eine dezentralisierte, hochverfügbare Datenbank. Wer organisiert die Zugänge, wer die Services, wer passt die umgebenden Systeme an? Das werden die alten Player sein. Trust me on that! Und ich kann mit Sicherheit sagen, die Blockchain wird auf absehbare Zeit keine Rolle für den Börsenhandel spielen. Das können Sie großschreiben! Für die Abwicklung und Verwahrung sieht es wieder anders aus. Da wird Blockchain mächtig.

Was vermissen Sie in Wien am meisten?

Überhaupt nix. Viel Schönes und Neues ist hinzugekommen. Nicht den Trollinger!

Wer ist der Trollinger?

Ha, den kennt man hier nicht? Ein Wein.

Da sind Sie hier bestens versorgt! Ihr Vertrag in Wien läuft fünf Jahre lang.Wählen Sie bitte eine der Antworten: A) Ich geh da nicht weg, bis ich alles umgekrempelt habe. B) Ich bin jung und brauche die Erfahrung. Auch andere Länder haben schöne Börsen.

Um Gottes willen! Ich bin hier angetreten, um den Börsenplatz nachhaltig zu revitalisieren. Bis ich hier nicht fertig bin, gehe ich nicht weg. Ich bin langfristig hier.

Welches Investment aus der Vergangenheit würden Sie nie wieder machen?

Sachen, die ich nicht verstanden habe. Es ist so einfach: Leute, kauft das, was ihr versteht, und springt nicht irgendwem auf, der Rendite verspricht! Da bin ich am ehesten auf die Nase gefallen, wenn ich Ideen hinterher gehechelt bin, wo alle dachten, das muss man jetzt machen wegen des großen Renditeversprechens.

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Foto: David Visnjic

CHRISTOPH BOSCHAN von dem Bussche, Jahrgang 1978, ist gebürtiger Berliner. Ab 2010 war er Chef verschiedener Körperschaften der Börse Stuttgart, zuletzt Geschäftsführer der Börse Stuttgart Holding. Stuttgart gilt als europäischer Marktführer beim Handel verbriefter Derivate und als Nummer eins beim Handel von Unternehmensanleihen in Deutschland.

Dieses Interview ist in unserer November Ausgabe erschienen.

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