Humanitärer Disruptor

Mehr als 25 Jahre arbeitete Kilian Kleinschmidt für das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen – seit genau zwei Jahren nicht mehr…

Mehr als 25 Jahre arbeitete Kilian Kleinschmidt für das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen – seit genau zwei Jahren nicht mehr. Mit seiner Innovation and Planning Agency möchte er die humanitäre Hilfe ins 21. Jahrhundert katapultieren.

In Jordanien kennt man ihn als den „Löwen von Zaatari“. Als wir Kilian Kleinschmidt im November im Impact Hub Vienna zum Gespräch treffen, ist er ein hinkender Löwe. Das rechte Knie steckt in einer Bandage. Möglicherweise der Meniskus, sagt er, er sei nicht sicher. Ende der Woche aber, grinst Kleinschmidt, wenn er in Barcelona seinen Vortrag zum Konzept der „Flüchtlingsstädte“ halten wird, springt er sicher wieder auf der Bühne rum.

Seit mehr als 25 Jahren ist der 1962 in Essen Geborene überall auf der Welt unterwegs – oft in den schlimmsten Krisenregionen – Pakistan, Sri Lanka, Uganda, Kongo, Somalia oder Ruanda. Die humanitäre Flüchtlingshilfe als Kleinschmidts Brotjob zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Zuletzt leitete er für das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR das Flüchtlingslager Zaatari an der syrisch-jordanischen Grenze. Es ist mit rund 150.000 Bewohnern das zweitgrößte der Welt.

2014 kündigte er seinen Job und ist seither mit der IPA – Innovation and Planning Agency Start-up-Unternehmer. Seither lebt er auch in Wien – mit seiner Frau und seinem Stiefsohn. Ganz ohne Bitterkeit dürfte der Weggang von der UNHCR für Kleinschmidt nicht gewesen sein: Ein weiterer Aufstieg bei den Vereinten Nationen blieb ihm, der keinen Uniabschluss vorweisen konnte, verwehrt. Noch wichtiger aber: „Ich habe gemerkt, dass die Institutionen, für die ich mein Leben eingesetzt habe, sich dem Modernen nicht anpassen können“, sagt er. Spürbar wird der Frust letztlich dann, wenn Kleinschmidt über seine Erfahrungen an der Front spricht: Im Zuge eines Raubüberfalls in Uganda wurde er psychisch gefoltert, ging in Somalia vor AC-130 Spectre Gunship-Kampfflugzeugen in Deckung, versteckte sich hinter Leichenbergen. Dass das, was er für viele Hilfsorganisationen auf die Beine stellen wollte, nicht immer auf fruchtbaren Boden fallen durfte, macht wohl, gelinde gesagt, ungeduldig.

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Foto: Jiri Turek und Jana Jakurbova

KILIAN KLEINSCHMIDT wurde 1962 in Essen (Deutschland) geboren. 1988 lernte er bei ei- ner Motorradtour durch Mali Entwicklungshelfer kennen und schloss sich ihnen an. Über 25 Jahre lang war er für die Vereinten Nationen und ihre Hilfswerke weltweit tätig: 1991 für das UN-Welternährungsprogramm im Südsudan, wo er das Massaker von Bor erlebte, danach war Kleinschmidt für die UNHCR in Somalia, wo er nach der Schlacht von Mogadischu 1993 abgezogen wurde. Im Zweiten Kongokrieg war Kleinschmidt an der Einrichtung einer Luftbrücke nach Kinshasa beteiligt. 2013 bis 2014 leitete er das Flüchtlingscamp Zaatari. 2014 verließ er die UNHCR und machte sich mit der Innovation Planning Agency selbstständig. Kilian Kleinschmidt hat sechs Kinder. Aktuell lebt er mit seiner Frau und seinem Stiefsohn in Wien.

1992, holt Kleinschmidt zur Erklärung aus, flüchtete er mit den ersten 20.000 Menschen vor dem Bürgerkrieg im Südsudan nach Kenia, um das UNHCR-Lager Kakuma im Nordwesten des Landes aufzubauen. „Heute leben dort 200.000 Flüchtlinge“, sagt er. „20 Jahre später macht mein Sohn, der interessanterweise dort gezeugt worden ist, als Wasseringenieur in Kakuma ein Praktikum. Die Wassersysteme waren genauso schlecht wie vor 20 Jahren und es war genau dieselbe NGO, die dieses System gemanagt hat.“ Es hatte sich dort einfach nichts weiterentwickelt, niemand hatte sich ernsthaft darüber Gedanken gemacht, was eine funktionierende, moderne Siedlung eigentlich braucht.

Geradezu zermürbend sei der unbewegliche Zustand des Hilfssystems – samt seiner Organisationen. „Ein Nachkriegsprodukt“, sagt Kleinschmidt. Die Organisationsform bedinge, dass sowohl humanitäre Krisen als auch Hilfsorganisationen untereinander in einer permanenten Wettbewerbssituation stehen. „Da steht der Haiti-Sturm im Wettbewerb mit Flüchtlingen in der Zentralafrikanischen Republik. Und alle Hilfsorganisationen rittern um denselben, immer gleich großen Topf. Im letzten Jahr waren im ‚Welttopf für humanitäre Hilfe‘ geschätzte 25 Milliarden US-$. Nicht mehr. Das ist doch ein Witz!“ So können auf der einen Seite nur Almosengeber und auf der anderen Seite Almosenempfänger übrig bleiben: Die Flüchtlinge werden statistisch auf ihren Kilokalorien- und Wasserverbrauch reduziert. Ihre Würde und Identität verpufft dabei ebenso wie etliche Millionen für die Erhaltung erstarrter Strukturen. Arroganz des Helfens nennt Kleinschmidt das. Und weiter: „Beim Humanitären Gipfel in Istanbul haben lokale Organisationen nachgewiesen, dass nur 0,3 Prozent der gesamten Hilfsgelder bei denen ankommen, die es brauchen. Alles andere bleibt bei den Hilfsorganisationen.“

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Foto: Jiri Turek und Jana Jaburkova

Innovation Planning Agency (IPA): Die IPA hat es sich zur Aufgabe gemacht, weltweite Ressourcen und Kompetenzen mit den Bedürfnissen von Menschen und Regionen zu verbinden – auf der Switxboard-Plattform finden alle zueinander. Auf der Plattform werden aus dem weltweiten Netzwerk Technologien, Ressourcen und lokale Bedürfnisse gematcht. Die IPA schmiedet auch sogenannte Partnerschaftshubs: Ein erstes Projekt ist die Partnerschaft zwischen dem Nordirak und dem Land Baden-Württemberg. Nicht zuletzt setzt sich die IPA ein, das private Engagement zu stei- gern, neue Finanzmechanismen einzuführen und Sonderwirtschafts- zonen zu errichten, um Flüchtlingen zu Jobs zu verhelfen – gekoppelt mit modernen Bildungsprogrammen. Es wird nicht nur nach den innovativsten Lösungen weltweit gesucht, man kann diese auch direkt ins Netzwerk einbringen.

Womit Kleinschmidt bei seiner Mission angekommen ist, die humanitäre Hilfe ins 21. Jahrhundert zu katapultieren. „Wir von der IPA wagen zu behaupten, dass es erstens im Augenblick auf der Welt genügend Kapital gibt, das nach Anwendungsmöglichkeiten sucht. Zweitens gibt es für alles eine technische Lösung und drittens gibt es genügend getestete Prozesse, best und worst Practice.“ Kleinschmidt baut aktuell an einem globalen Inkubator und einer Plattform – Switxboard –, auf der „eine direkte, konkrete Vernetzung dieser Ressourcen mit bestimmten Regionen der Welt stattfinden kann“.

Und die Möglichkeiten scheinen angesichts jener Philanthropen, mit denen Kleinschmidt in regem Austausch steht, unbegrenzt. Businessmagnat George Soros steht da ebenso auf der Liste der potenziellen Impact-Investoren wie Richard Branson, Gründer der Virgin Group. „Unter den berühmten Philanthropen suchen viele nach einem neuen System, dessen Logik nicht auf dem Bestehenden aufbaut. Sie fordern einen Paradigmenwechsel – und das durchaus mit einem Return on Investment“, sagt Kleinschmidt. Ein weiterer eng mit ihm in Kontakt stehender Superreicher, der nach Wegen sucht, Wirtschaftlichkeit mit Sozialem zu verbinden, ist Hamdi Ulukaya.

Der ehemalige kurdische Schafhirte wanderte in die USA aus, kaufte 2008 die Joghurtfabrik Chobain und bedient aktuell rund die Hälfte des US-Marktes mit griechischem Joghurt. „Eigentlich ist er der Geilste aus dieser Szene“, flutscht das G-Wort aus Kleinschmidt heraus. „30 Prozent seiner gesamten Workforce sind neu in den USA angekommene Flüchtlinge. Und gerade erst hat er Unternehmensanteile an all seine Mitarbeiter verschenkt – etwa im Wert von 100.000 US-$ pro Mann und Nase.“ Die Frage nach der Nachhaltigkeit gesetzter Maßnahmen ist relevant, erklärt Kleinschmidt seine Begeisterung für Ulukaya, der gewiss nicht zu den „Gutmenschen“ zu zählen sei. Viele in der „Szene“ sind der Ansicht, dass die Wirtschaft humanitäre Hilfsprojekte durchaus unterstützen könne – auch gerne mit viel Geld, sagt Kleinschmidt, aber die Kontrolle dürfe sie nicht übernehmen.

„Was aber spricht denn gegen die ‘brutale kapitalistische Logik‘. Ich muss Geld verdienen, damit ein System auch eigenständig weiterlaufen kann – und ich muss raus aus dem Alten‚ die Armen sind Opfer und den Opfern muss ich etwas schenken.“

Wirtschaftskreisläufe zu fördern – idealerweise sozial und ökologisch nachhaltig –, ist dafür ein Schlüssel. Alle sollten gleichsam daran interessiert sein, dass ein System – sozial, nachhaltig, wirtschaftlich – funktioniert: „Wenn ich das Thema aus der Perspektive der Wirtschaftlichkeit betrachte, ist es doch eigentlich der helle Wahnsinn, dass drei Milliarden Menschen nicht Teil dieser Wirtschaftlichkeit sind.“ Viele tun sich mit dieser Haltung schwer, die Chinesen sind bekanntlich in vielem pragmatischer. Kleinschmidt erzählt eine Geschichte aus seiner Zeit in Pakistan: „Eine chinesische Mobile-Phone-Company hat dort eine Million Handys an die Armen verschenkt – und sich so einen Riesenmarkt eröffnet. Wir müssen den Kapitalismus auf eine Weise begreiflich machen, dass es eine Win-win-Situation ist, wenn alle zu Arbeit und in ein vernünftiges Leben kommen.“

Den Vorwurf, Menschen in den „Rachen des Kapitalismus“ werfen zu wollen, lässt Kleinschmidt dabei nicht gelten – und holt zu einem Programm im Nordirak und in Jordanien aus, das er unterstützt hat: das Re-BootKamp. Eine Methode, die auch an Topunis wie Harvard oder Yale praktiziert wird und bei dem es sich – kurz gefasst – um eine Coding-Ausbildung innerhalb von 16 Wochen handelt. Allerdings mit Spin. Für das konkrete Programm wurden Syrer mit Jordaniern, junge Männer und Frauen zusammengespannt – „dadurch werden Sozialkompetenzen und auch die Kompetenzen, mit aversen Dingen umzugehen, gefördert“, so Kleinschmidt. 20 von den 40 ursprünglichen Teilnehmern haben das Programm absolviert.

„Und einer hat nach nur vier Monaten intensiver Ausbildung sofort einen Job mit einem Monatsgehalt von 3.000 € bekommen“, freut sich Kleinschmidt. Das Potenzial für solche Ausbildungen liegt im Bedarf an weltweit gesuchten drei Millionen Programmierern. „Wenn ich diesem jungen Mann sagen würde, dass er damit in den Rachen der kapitalistischen Industrie geworfen wurde, dann würde der mich fragen, ob ich spinne!“ Es geht darum, zu begreifen, ist Kleinschmidt überzeugt, dass wir als Gesellschaft in diesem 21. Jahrhundert – „ob wir es wollen oder nicht“ – uns gemeinsam für das 21. Jahrhundert wappnen müssen.

Zum Schluss kommt Kleinschmidt wieder zurück auf seinen globalen Inkubator – und ein Projekt, bei dem er den kanadischen Milliardär Frank Giustra unterstützt hat. „Gemeinsam mit Ahmed Khan, einem ehemaligen Clinton-Berater, gründete Giustra 1997 die Radcliffe Foundation“, beschreibt Kleinschmidt das Netzwerk der, wie er es ausdrückt, „nicht ganz unarmen“ Menschen. Beide haben sich der Situation in Griechenland angenommen und in Thessaloniki aus privaten Mitteln ein Flüchtlingslager in einer alten Textilfabrik eingerichtet. Danach ging es daran – Stichwort Inkubator –, sich an ein System heranzuwagen, das nachhaltig in die Region, im konkreten Fall Nordgriechenland, einzahlt. Jetzt, da es in der Zwischenzeit immer mehr Spannungen zwischen der lokalen Bevölkerung und den Neuankömmlingen gibt, so Kleinschmidt, muss man in die dortige wirtschaftliche Entwicklung investieren, um einen positiven Buzz zu erzeugen. Woher aber nehmen?

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Foto: Jiri Turek und Jana Jaburkova

Das Liquiditätsproblem ist offensichtlich, immer mehr Immobilien stehen leer, werden aber nicht an Flüchtlinge vermietet. Kleinschmidt: „Nach den ersten humanitären Lösungen in den Flüchtlingslagern planen wir nun, einen Entwicklungsfonds auf Basis von Immobilienkapital auf dem internationalen Markt aufzulegen. Dafür werden Immobilien und Grundstücke von den Eigentümern in einen Fonds eingebracht, die Eigentümer werden Shareholder. Und mit diesem Fonds gehen wir auf den Kapitalmarkt und holen uns Geld, das in die Region eingebracht wird – mit zusätzlichen Programmen wie moderner Bildung wie das ReBootKamp.“ Um nachhaltig wirken zu können und eine für alle gleichermaßen lebenswerte Situation zu schaffen, braucht es, so Kleinschmidt bestimmt, ein regional angepasstes Modell der Finanzierung und Refinanzierung. Und das eingangs erwähnte Konzept der „Refugee Cities“: „75 Prozent der Weltbevölkerung werden 2050, wahrscheinlich früher, in Städten leben. Warum? Weil sie vor fehlenden Perspektiven weglaufen. Mir ist das klar geworden, als ich in Jordanien war – und so entstand auch diese Idee. Es ist menschenverachtend, wenn wir diese Menschen 20 Jahre ‚ablagern‘ und denken, dass sie danach fröhlich in ihr Heimatland zurückkehren werden.“

Die Flüchtlingsstädte bauen auf dem Prinzip der Sonderwirtschaftszonen auf. Über Entwicklungsgesellschaften kann Kapital aufgenommen und so von der Siedlungsentwicklung bis zu Bildungsprogrammen alles aufgebaut und nachhaltig bewirtschaftet werden. „Der Fokus auf die Lager ist falsch, weil die meisten Menschen nicht in Lagern, sondern unter der lokalen Bevölkerung leben. Und das macht Druck auf die Infrastrukturen, auf Dienstleistungen und nicht zuletzt auf die Menschen selbst.“

Diese Geshichte ist in unserer Dezember-Ausgabe erschienen.

Heidi Aichinger,
Herausgeberin

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