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Wie die Ärztin ihre Heilfastenklinik, einen Familienbetrieb in vierter Generation, zukunftsfit machen will.
1919, also vor genau 99 Jahren, unterzog sich der an einer Rheumaerkrankung leidende deutsche Mediziner Otto Buchinger probeweise einer dreiwöchigen Fastenkur. Buchinger hoffte auf eine Linderung seiner Krankheit – die schließlich auch eintrat. Von da an war der Arzt nicht nur überzeugt von der Methode des Heilfastens, sondern erforschte und entwickelte sie auch weiter, bis er 1920 eine eigene Heilklinik im hessischen Witzenhausen gründete. 15 Jahre später siedelte die Klinik ins zwei Fahrstunden entfernte Bad Pyrmont – zwischen Hannover und Bielefeld in Niedersachsen gelegen – um.
Dort steht sie noch heute. Und während sich die Grundidee der Klinik in den vergangenen 99 Jahren nicht umfassend verändert hat, hat sich in der Zwischenzeit doch viel getan. Mittlerweile leitet nämlich die Urenkelin, Verena Buchinger-Kähler, die Familienklinik in vierter Generation, die Klientel ist internationaler und jünger geworden und die neue Leiterin will das Haus nun fit für die Zukunft machen. Buchinger-Kähler steht seit 2017 offiziell an der Spitze der Buchinger Klinik in Bad Pyrmont und begrüßt in dieser Rolle laut eigenen Angaben jährlich rund 1.600 Gäste. Sie alle kommen aus einem Grund nach Niedersachsen: dem Buchinger-Heilfasten. Am Rande des 14. Trendtags des Zürcher Thinktanks Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) erklärt Buchinger-Kähler das Konzept: „Heilfasten ist, wie der Name schon sagt, heilendes Fasten. Patienten nehmen also rund 200 bis 300 Kilokalorien pro Tag zu sich – in Form von Brühe, Tees und sehr viel Wasser.“
Auf festes Essen wird verzichtet, Energie und Vitamine nehmen die Besucher der Heilklinik eben über die Flüssigkeiten auf. Obwohl alle den gleichen Heilansatz verfolgen, sind die Ziele der Klinikbesucher jedoch unterschiedlich. Während einige nach Bad Pyrmont kommen, um Krankheiten zu lindern oder gänzlich zu heilen, kommen viele Gäste auch, um ein simpleres Ziel zu verfolgen: Abnehmen. Was letztendlich aber bei so ziemlich allen Besuchern herauskommt, so Buchinger-Kähler, seien ein bewussterer Umgang mit dem eigenen Körper und dem Essen.„Die Nachhaltigkeit beim Fasten ist uns ganz wichtig. Daher kommen die Leute schon vorab zu uns, verbringen einige Entlastungstage und zelebrieren nach dem Ende auch das Fastenbrechen noch in der Klinik. Das ist wichtig, um auch dabei die nötige Aufmerksamkeit zu haben.“
Beim Heilfasten nehmen Patienten 200 bis 300 Kilokalorien pro Tag zu sich – in Form von Brühe, Tees und sehr viel Wasser.
So euphorisch die Urenkelin des Begründers der Klinik auch heute von dem Thema sprechen mag – ursprünglich zog es die junge Ärztin gar nicht in den Familienbetrieb. Während ihr Vater Andreas das Haus leitete, studierte die Tochter zwar ganz in der Familientradition Medizin („anderes stand nie zur Debatte“), wollte dann aber einen anderen Weg einschlagen als den väterlichen: „Ich habe eine starke künstlerische Ader, wollte immer etwas Haptisches machen. Daher ging ich nach dem Studium an die Universitätsklinik, um in der plastischen Chirurgie zu arbeiten.“
Ganz entfernen konnte sich Buchinger-Kähler aber nie vom Familienbetrieb, half sie doch bereits als kleines Kind in der Klinik aus – was sich auch während ihres Studiums nicht ändern sollte. Nach sechs Jahren beendete sie daher ihr „Auswärtsspiel“ in der plastischen Chirurgie, um in die Klinik ein- und auf mittlere Sicht die Nachfolge ihres Vaters anzutreten.
Auch, wenn es angesichts der medialen Aufmerksamkeit für das Thema manchmal so wirken mag: Das Fasten als innovatives, neumodisches Konzept zu bezeichnen wäre schlichtweg falsch. Denn obwohl das hier praktizierte Heilfasten dezidiert nicht religiös motiviert ist, liegen die beiden Methoden doch nicht weit auseinander. Und religiöses Fasten existiert in allen Farben und Formen: Im Christentum findet der Essensverzicht in Form der 40-tägigen Fastenzeit zur Vorbereitung auf das wichtigste Fest des Glaubens, Ostern, statt. Im Islam wird wiederum in der Zeit des Ramadan auf Essen strikt verzichtet – zumindest untertags. Im Judentum wird am Hochfest Yom Kippur nichts gegessen.
Doch der Boom, der sich rund um das Fasten im Allgemeinen in den letzten Jahren entwickelt hat, lässt diese Traditionen fast verblassen. Besonders das Intervallfasten, wo zu bestimmten Tageszeiten oder Wochentagen auf Essen verzichtet wird, ist beliebt. Dabei erhoffen sich jene, die nicht auf die Heilung von Krankheiten abzielen, nicht nur einen gesünderen Umgang mit Nahrung und ein Umdenken in unserer Überflussgesellschaft. Viel eher soll das (zwischenzeitliche) Fasten die Stimmung der Praktizierenden verbessern, das Energielevel erhöhen und die Konzentration schärfen. Dass dabei angeblich auch noch das eine oder andere Kilo purzeln könnte, ist natürlich zusätzlicher Antrieb.
Und – wie so oft, wenn Trends aufkommen – ist auch das Silicon Valley vorne mit dabei, wenn es um den Essensverzicht geht. So hörte der Gründer und ehemalige CEO der Notizen-App Evernote, Phil Libin (er verließ das Unternehmen 2016, Anm.), von einem auf den anderen Tag temporär auf, zu essen. Und Libin ist nicht der einzige Gründer, der fastet: In San Francisco gibt es „Fastenklubs“ von Tech-Unternehmern, die gesamte Belegschaft des Start-ups Nootrobox verzichtet jeden Dienstag auf Essen und der Gründer des News-Aggregators Digg, Kevin Rose, hat eine App namens „Zero“ entwickelt, die Menschen beim Intervallfasten helfen soll.
Doch während die meisten im Silicon Valley auf Intervallfasten setzen, ist Libin radikaler. Denn er isst viele Tage nichts und dann an wenigen Tagen normal. „Menschen, die 16/8 betreiben“, sagte Libin gegenüber dem Magazin „Wired“ – er beschreibt damit die Methode, bei der man 16 Stunden gar nichts isst und dann acht Stunden normal –, „betreiben für mich kein Fasten. Sie essen.“ Libin schwärmt von den Effekten, die das Fasten für ihn hatte: Er verlor 40 Kilogramm, berichtete von mehr Energie, besserer Laune und erhöhtem Fokus. Doch während Libin und Co vorwiegend die Selbstoptimierung im Auge haben, ist die Buchinger-Methode dafür gedacht, medizinische Leiden zu lindern oder zu heilen.
Doch wie funktioniert das Ganze? Normalerweise bekommen unsere Zellen ihre Energie von dem Zucker, der in unserer Leber gespeichert und mit jeder Mahlzeit neu aufgefüllt wird. Wenn nun aber gefastet wird – dieser Effekt tritt ab etwa zwölf Stunden ohne Nahrungsaufnahme ein –, sind unsere Zuckerspeicher leer und der Körper fängt an, sich die benötigte Energie anderswo zu holen. Dabei werden erst die Eiweißvorräte, bald aber schon die Fettreserven im Körper angezapft. So sollen die Selbstreinigungskräfte des Körpers aktiviert werden. Wie Begründer Otto Buchinger etwa sein Rheumaleiden therapierte, sollen auch andere Leiden durch das Fasten bekämpft werden.
Wichtiger als das Abnehmen ist somit die Befreiung des Körpers von Schadstoffen. Während die Fortschritte in der Heilung von Krankheiten messbar sind, ist der Anteil des Fastens an subjektiven Empfindungen, etwa besserer Laune oder erhöhtem Energielevel, nur schwer abschätzbar. Wie viel auf den Placebo-Effekt entfällt, ist unklar.
Während Verena Buchinger-Kähler die ärztliche Aufsicht beim Fasten immer und immer wieder hervorstreicht, nehmen es damit nicht alle Unternehmen so genau. Auch, weil der Boom natürlich auch schwarze Schafe hervorbringt, hat das Fasten bei manchen Beobachtern einen schlechten Ruf. Doch auch Buchinger-Kähler sieht den Boom kritisch: „Alles, wo Menschen mit solchen Methoden schnell viel Geld verdienen wollen, ist problematisch. Beispielsweise halte ich das Wasserfasten (alleinige Aufnahme von Wasser für einen begrenzten Zeitraum, Anm.) ohne ärztliche Aufsicht für extrem bedenklich. Das hat mit unserem Ansatz alles überhaupt nichts zu tun.“
Außer Wasser- und Saftfasten gibt es neben der Buchinger-Methode aber auch zahlreiche andere Konzepte, deren Wirkung unterschiedlich bewertet wird. Die bekannteren sind etwa „Milch-Semmel-Diäten“ („Fasten nach Mayr“), Saftfasten („Breuß-Kur“) oder auch die „Schrothkur“, wo sich Trink- und „Trockentage“ abwechseln. Doch trotz des Booms sieht Buchinger-Kähler Besserung im öffentlichen Verständnis, was Heilfasten eigentlich ist: „Es ist in den letzten Jahren viel Aufklärung passiert, etwa durch die Deutsche Gesellschaft für Fasten oder Valter Longo (italienisch-amerikanischer Mediziner, Anm.). Das Heilfasten hat sich über die Jahre aus der Erfahrungsmedizin zu einer wissenschaftlich bewiesenen Methode entwickelt.“
Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider. Denn während Buchinger-Kähler und ihr Mann Christian Kähler, die die Klinik aus medizinischer beziehungsweise betriebswirtschaftlicher Sicht leiten, keine konkreten Umsatzzahlen angeben, lag das Wachstum laut den beiden in den letzten zwei Jahren bei rund 25 bis 30 Prozent. Insbesondere im jüngeren Alterssegment wurde ein deutliches Plus verzeichnet. Doch auch die Buchinger-Methode hat Kritiker. So ist das von Otto Buchinger proklamierte Entschlacken (neudeutsch auch „Detox“) – also eine im Rahmen des Fastens erzielte Reinigung des Körpers von Schadstoffen – wissenschaftlich umstritten. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) zeigt sich differenziert: „Viele positive Wirkungen des Heilfastens sind wissenschaftlich kaum oder nur ungenügend belegt. Der in Zusammenhang zum Heilfasten immer wieder genannte Begriff ‚Entschlacken‘ ist wissenschaftlich nicht begründbar.“ 2018 schrieb die DGE jedoch auch, dass das Fasten ein Ansatz sein kann, sich mit dem eigenen Körper, Gesundheit und Ernährung auseinanderzusetzen: „Deshalb kann es (das Fasten, Anm.) den Einstieg in eine gesundheitsfördernde Ernährung bereiten. Fasten eignet sich nicht als Diät und führt zeitlich befristet nicht zu einer langfristigen Gewichtsabnahme. Es sei denn, der Fastende ändert gleichzeitig seinen Lebensstil. Je nach Fastenart kann sogar eine ausgewogene Nährstoffzufuhr gefährdet sein.“
Und ebenda hakt auch Buchinger-Kähler ein. Denn man beobachte bei Gästen häufig einen Wandel während des Aufenthalts: „Wir sehen oft eine Veränderung im Lebensstil, einen Wandel vom oberflächlichen Wunsch des Abnehmens hin zu einem nachhaltig gesünderen Lebensstil.“ Zudem habe das Fasten laut Buchinger-Kähler positive Aspekte im Bezug auf zahlreiche Krankheitsbilder. Demnach können mit dem Essensverzicht Stoffwechselerkrankungen (etwa Diabetes Typ 2), Autoimmunerkrankungen (z. B. rheumatoide Arthritis) oder auch psychosomatische Beschwerden (Burn-out, Depressionen) geheilt werden. Auch das Herz-Kreislauf-System würde vom Heilfasten profitieren. Zudem entwickeln sich auch ehemals ausgeschlossene Einsatzgebiete – sogenannte „Kontraindikationen“ – in eine neue Richtung. So könnten nun auch Diabetes-Typ-1-Patienten unter gewissen Voraussetzungen heilfasten. Weiterhin ausgeschlossen ist die Methode jedoch in der Schwangerschaft, bei schwerer Demenz oder bei einer bekannten Historie von Essstörungen.
Mit dem Essensverzicht alleine ist es übrigens nicht getan. Die Gäste der Buchinger-Klinik sollen sich auch einem „Digital Detox“ unterziehen, um dem Fasten die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. „Beim Fasten hast du keine Aufgabe, die Aufgabe bist du selbst“ – bereits Otto Buchinger war ein Vertreter davon, während des Fastens den Kopf zu nutzen. Die damalige Empfehlung, Bibelpsalme oder Werke von Goethe und Rilke zu lesen, ist heute vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäß. Dennoch wird das Zitat des Begründers „Beim Fasten darf die Seele nicht hungern“ weiterhin genutzt.
Und während Buchinger-Kähler und ihr Mann bereits an der Zukunft arbeiten – sowohl privat in Form von Nachwuchs als auch beruflich in Form eines Neubaus der Klinik –, schläft die Konkurrenz nicht. Denn obwohl sich der Markt für das Heilfasten global kaum beziffern lässt, werden etwa in Österreich Schätzungen zufolge rund 100.000 Nächtigungen mit dem Fasten erzielt. Das zeigt auch, welches Potenzial in dem Trend steckt. Und das wirkt sich auch auf die Buchinger-Klinik in Bad Pyrmont aus – denn eine Herausforderung, so Buchinger-Kähler, sei, dass die Hotellerie zunehmend medizinische Services für sich entdecke.
Alleine der globale Wellnessmarkt setzt fast vier Billionen US-$ um – und ist im Wachsen begriffen. Um davon einen möglichst großen Anteil abzuschöpfen, gilt es, kreativ zu sein. Doch von den Hightech-Lösungen, die Mitbewerber anbieten, hält man im Hause Buchinger-Kähler wenig: „Wir setzen keine technischen Hilfsmittel ein, um die Leute zum Schlafen zu bringen. Ein solches Übertünchen der Realität ist für uns völlig abwegig.“ Viel eher sollten die Leute über das Fasten wieder zu sich finden. Dennoch steigt auch für die Klinik der Druck, den Gästen etwas zu bieten. Christian Kähler: „Bei uns kommen die Gäste nicht nur zum Urlaub, sie müssen sich für den Aufenthalt aber dennoch freinehmen. Die Ansprüche sind hoch, die Besucher wollen umsorgt werden.“
Um das Publikum auch in Zukunft jung und international zu halten, tüftelt das Ehepaar an digitalen Stellschrauben, etwa einer Facebook-Seite. Buchinger-Kähler ist die familiäre Atmosphäre der Klinik wichtig; sie ist einzige Gesellschafterin des Unternehmens und im Gegensatz zu den Konkurrenten stehen hinter der Buchinger-Klinik keine Investoren oder externen Manager. Auf die Frage, ob diese Familientradition auch in Zukunft fortgesetzt wird – sprich, ob der anstehende Nachwuchs die Klinik irgendwann übernehmen soll –, winkt Buchinger-Kähler ab: „Man findet nur Ablehnung, wenn man etwas erzwingen will. Meine Eltern haben mir alle Freiheiten gelassen. So etwas muss sich ergeben.“ Währenddessen will man mit dem Neubau die alte Methode ins 21. Jahrhundert bringen. Denn während das Haus neu gestaltet wird, soll die Technik moderat eingesetzt werden; das Fastenkonzept selbst soll im Gegensatz zum Bau aber das gleiche bleiben wie seit 100 Jahren: „Unser Fastenkonzept wird das gleiche bleiben. Wir passen es zwar immer an moderne Erkenntnisse an, aber der Grundgedanke bleibt derselbe.“ Ob die Buchingers den Menschen also auch in 100 Jahren noch das Essen „verbieten“ – und damit Geld verdienen? Unklar. Fest steht nur, dass auch in Zukunft noch zahlreiche Menschen in Bad Pyrmont genussvoll in einen Apfel beißen werden – denn so wird traditionell das Fastenbrechen begonnen.
Dieser Artikel ist in unserer März-Ausgabe 2018 „Food“ erschienen.