Hegen und Pflegen

Mit We Nurse will Alessia Schrepfer nachhaltige Verbesserungen im Schweizer Pflegesystem ermöglichen. Dabei setzt sie auf Qualität vor Quantität, und auf unternehmerisches Denken – denn auch die 30 Mitarbeiter sind alle Mitaktionäre. Das ist nicht immer einfach; doch wer große Veränderungen bewirken will, muss den harten Weg gehen.

Wie groß der Bedarf an neuen und klugen Lösungen in der Pflegebranche ist, zeigte eine etwas aus den Dimensionen geratene PR-Aktion Mitte Mai: We-Nurse-Gründerin Alessia Schrepfer hatte sich mit dem Team von Kybun Joya zusammengeschlossen, um anlässlich des Tags der Pflege ein paar Hundert Pflegekräften bequeme Schuhe zu schenken. Statt der erwarteten rund 1.000 Bestellungen meldeten sich in kürzester Zeit aber 10.000 Pflegefachfrauen. Die Schuh-­Unternehmer Karl Müller und Claudio Minder sahen sich plötzlich mit Lieferengpässen und ­hohen Kosten konfrontiert: Rund zwei Mio. CHF betrug alleine der Warenwert der Schuhe, Versand und weitere Kosten kamen noch dazu. Ihr Versprechen wollten die Initiatoren aber dennoch halten.

Das Beispiel zeigt eindrücklich, wie groß die Herausforderungen in der Pflegebranche geworden sind. In einer Gesellschaft, die nicht nur immer älter wird, sondern in der die Menschen auch immer länger leben, gilt die Bereitstellung von Pflegedienstleistungen eigentlich seit Jahrzehnten als Herausforderung. Alleine in der Schweiz wird der Mangel an Pflegekräften bis 2030 zwischen 20.000 und 30.000 Personen betragen.

Alessia Schrepfer kennt die Probleme, war sie doch selbst viele Jahre in der ­Pflegebranche aktiv. Doch statt nur zuzusehen, will die Unternehmerin nachhaltige Veränderungen ­bewirken. Um das zu schaffen, gründete sie Ende 2022 gemeinsam mit Simon Hodel die We Nurse AG. Veränderung will das Start-up mit seinen rund 30 Mitarbeitern auf zwei Arten erreichen: einerseits im sogenannten „Body-Leasing“, also beim Verleihen von Personal in Pflegeberufe, um Gesundheitseinrichtungen hoch qualifiziertes Personal zur Verfügung stellen; und anderseits als Beratungsunternehmen, das seine Expertise anbietet, um Gesundheitsbetrieben langfristig zu helfen, bessere Bedingungen und Ergebnisse in der eigenen Pflegearbeit zu erzielen.

Schrepfers Motto dabei: „Qualität vor Quantität.“ Egal ob im eigenen Recruitingprozess oder bei der Auswahl der Aufträge – die Unternehmerin will darauf achten, dass We Nurse qualitativ die beste Arbeit abliefert. Explosives Wachstum ist nicht ihr Ansatz, obwohl es durchaus Möglichkeiten gäbe, das zu erreichen.

Damit wählt Schrepfer einerseits den langsameren und wohl auch steinigeren Weg, sie ist aber überzeugt, dass dieser Ansatz gewährleistet, langfristige Veränderungen zu erwirken, statt nur kurzfristige Profite zu erreichen. Und obwohl We Nurse erst ganz am Anfang steht, sind die Ambitionen des Unternehmens groß: 400 Mitarbeiter will We Nurse bis Ende 2026 in der Schweiz erreichen. Das würde ein jährliches Wachstum von über 200 % bedeuten. „Wir haben das Ziel ganz bewusst kommuniziert, wissen aber, dass das extrem ambitioniert ist. Vielleicht brauchen wir auch länger. Die 400 Mitarbeiter wollen wir jedenfalls erreichen“, so Schrepfer.

Um in die Nähe dieser Zahl zu kommen, müsste das Unternehmen sich jährlich verdoppeln. 2023, im ersten vollen Geschäftsjahr, betrug der Umsatz eine Mio. CHF. Dieses Wachstum annehmend, würden die Erlöse 2026 bei rund 13 Mio. CHF liegen, Skaleneffekte nicht mit eingerechnet. Doch nicht nur bezüglich des Zugangs, auch in anderer Hinsicht ist We Nurse ein ungewöhnliches Start-up – denn Schrepfer und Hodel beteiligen ausnahmslos alle Mitarbeiter am eigenen Unternehmen, vergeben also Stammaktien. Schrepfer vergleicht den Zugang mit dem in Anwaltskanzleien typischen Partnersystem: „Unsere Mitarbeiter sind alle Miteigentümer. Wir treffen daher auch regelmäßig in sogenannten Nurse Community Boards zusammen, wo der Geschäftslauf, die Finanzen etc. präsentiert, analysiert und besprochen werden.“ Dass die Pflegebranche trotz neuer Zugänge und guter Ideen ein Koloss ist, der nicht ganz einfach zu verändern sein wird, ist Schrepfer aber auch bewusst; doch davor fürchtet sie sich nicht: „Wer etwas ändern will, muss anpacken. Reden alleine genügt nicht.“

Wenn es um nachhaltige Veränderungen in der Branche geht, ist Schrepfer eindeutig: Das Problem von Engpässen in der Pflege lasse sich nicht lösen, indem nach mehr Personal gerufen wird. „Diese Personen sind schlicht nicht da“, so Schrepfer. „Wir müssen andere Lösungen finden und unsere Prozesse anpassen, wenn wir die Bedingungen verbessern wollen.“

Ihre Kunden – oder „Partner“, wie Schrepfer sie nennt – sind Spitäler, Pflegeheime, Reha-Kliniken oder Spitex (spitalexterne Hilfe und Pflege). Um hier nicht nur Symptom­bekämpfung zu betreiben, setzt Schrepfer für die Zukunft auch stark auf die Beratungskomponente des ­eigenen Unternehmens: Diese Aufträge ­gehen von der Optimierung von Prozessabläufen über Talentmanagement bis hin zu „Feuerlösch-­Aktionen“, wenn etwa Führungskräfte mit viel Wissen von einem Tag auf den anderen das ­Unternehmen verlassen. We Nurse spricht von „Beratung on the Job“, da die We-Nurse-Mit­arbeiter nicht nur Berater sind, sondern auch mit an­packen. Schrepfer: „Eine Kollegin, die ­aktuell im Einsatz ist, arbeitet 50 % Pflegeschichten, und die anderen 50 % ist sie mit Projektarbeit vor Ort beschäftigt.“ Der Vorteil: Die Änderungen ­können von den Beratern in Echtzeit überprüft werden – also von Personen, die den Pflegejob kennen und können.

Abgerechnet wird stunden- oder tageweise, wobei Schrepfer betont, dass die Einsätze bei klassischem Pflegepersonal mindestens einen Monat dauern müssen. Die Beratungsaufträge dauern unterschiedlich lang und sind demnach auch unterschiedlich umfangreich. Während die Aufträge im Body-Leasing die Kapazitäten deutlich übersteigen, ist die Beratungsschiene aktuell noch im Aufbau. Schrepfer: „Das haben wir erst kürzlich lanciert und sind gerade dabei, es bekannt zu machen.“ Die Aufmerksamkeit, die insbesondere sie selbst genießt, hilft dabei natürlich: 2024 wurde sie vom Swiss Economic Forum zur „Jungunternehmerin des Jahres“ gekürt.

Ihre Mitarbeiter kommen allesamt aus der Pflegebranche, haben einschlägige ­Ausbildungen und großteils auch Zusatzausbildungen; teils auch Führungserfahrung. „Unsere Kollegen bringen ein Grundverständnis und Kenntnisse für die tatsächliche Materie mit, denken dabei aber gleichzeitig wie Unternehmer“, sagt Schrepfer. Doch das Beratungshandwerk kann und soll dennoch nicht jeder ausüben, wie sie betont: „Wer Führungsaufgaben übernimmt oder wirklich Prozesse verändert, muss das auch gelernt haben und können. Das ist ganz klar.“ Der grundlegende Zugang unterscheide We Nurse aber doch deutlich von anderen Unternehmen in diesem Bereich. Für Schrepfer ist dieses von außen kommende und unternehmerische Denken eine ganz wichtige Eigenschaft des eigenen Tuns. „Die Schweiz ist auch so erfolgreich, weil hier viele Unternehmer aktiv sind. Das kann man auch auf die Pflege umlegen.“

Um nachhaltig zu gewährleisten, dass ihre Mitarbeiter unternehmerisch denken, setzt Schrepfer auf den für Start-ups äußerst ungewöhnlichen Zugang, aus allen Mitarbeitern bei We Nurse Mitaktionäre zu machen. „Die Menschen sind anders incentiviert. Das ist auch ihre Firma; wenn das nicht funktioniert, ist es auch ihr Ruf. Und Top-Leute wollen auch Verantwortung übernehmen – und dass sich ihre Leistung auszahlt. Das ist bei uns beides der Fall.“

Dass das Modell gerade bei starkem Perso­nalwachstum auch Herausforderungen birgt, merkt Schrepfer aktuell erstmals: „Wir haben gerade etwas Fluktuation. Wir merken da schon, dass bei unserem Modell Ab- und Zugänge mit viel bürokratischem Aufwand verbunden sind.“ Wenn Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, müssen sie ihre Aktien nämlich wieder abgeben. „Wir wollen, dass immer nur jene, die auch wirklich aktiv arbeiten, auch mitbestimmen können.“

Trotz dieser Anreize ist für Schrepfer das Finden der passenden Kollegen die größte Herausforderung für die Zukunft: „Wir suchen ja eigentlich keine Mitarbeiter, sondern Unternehmer und Unternehmerinnen. Das ist nicht immer einfach.“ Das liegt laut der 34-Jährigen auch an der generellen Leistungsbereitschaft im Land – Schrepfer wird nämlich auch im Interview nicht müde, zu betonen, dass nur mit harter Arbeit und Leistung auch Veränderung möglich ist. „Das fehlt mir heute oft, das sehe ich auch in unseren Recruiting-Prozessen.“ Damit eckt Schrepfer auch an. Dass sie das Interview mit Forbes am Ende eines Feiertags führt, den sie mit Arbeit ­verbracht hat, unterstreicht, dass auch ­Schrepfer ­ihren Teil leisten will, um Veränderung zu be­wirken. „Ich gönne mir schon auch Pausen, aber aktuell ist einfach viel zu tun“, sagt sie.

Finanziert haben Schrepfer und Hodel das Unternehmen bisher aus eigenem Geld und dem Cashflow – mit Ausnahme einer Förderung von Venture Kick in der Höhe von insgesamt 50.000 CHF. Im nächsten Schritt will We Nurse aber einen Convertible Loan lancieren, um das weitere Wachstum zu ermöglichen. „Wir können den laufenden Betrieb zwar aus dem Cashflow ­finanzieren; um wirklich die Qualität zu steigern und auch zu investieren, brauchen wir aber einfach mehr Geld“, so Schrepfer. Sie spricht aktuell von einer kleinen Runde mit Business Angels, in Zukunft könnte aber auch Risikokapital im größeren Stil genutzt werden – oder Kooperationen mit Stiftungen, um mit zweckgebundenem Geld Unterstützungen anzubieten, etwa wenn Kollegen Weiterbildungen machen wollen. Schrepfer nennt das einen „Qualitätstopf“.

Doch wenn die 400 Mitarbeiter in absehbarer Zukunft das quantitative Ziel von Schrepfer sind, was ist dann ihr qualitatives Ziel? Sie denkt – erstmals im Interview – einen Moment nach, bevor sie antwortet: „Mein großes Ziel ist es tatsächlich, dass jemand aus dem jetzigen Team in ein paar Jahren den CEO-Posten übernimmt. Denn wenn man so etwas im Kleinen schafft, ist es auch möglich, das im Großen zu ­erreichen.“ Bis das der Fall ist, fallen vermutlich noch einige Tage an Arbeit an, darunter vielleicht auch der eine oder andere Feiertag. Sorgen muss man sich um Schrepfer aber keine machen: „Ich habe immer schon sehr gerne gearbeitet.“

„Mein großes Ziel ist es tatsächlich, dass jemand aus dem jetzigen Team in ein paar Jahren den CEO-Posten übernimmt.“ Alessia Schrepfer

Alessia Schrepfer studierte Pflegewissenschaft, Management and Public Health sowie gerontologische Pflege in St. Gallen und Zürich. Sie war fast zehn Jahre als Pflegefachfrau tätig; 2019 ging sie zum Gesundheitsbetrieb Emeda AG, wo sie zuletzt auch als COO tätig war. 2020 gründete Schrepfer den Inkubator und Company Builder AS 20, aus dem 2022 die We Nurse AG ausgegründet wurde.

Fotos: Mara Truog

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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