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Sie implantierte als erste Frau in Europa ein Kunstherz, heute ist Dilek Gürsoy eine der bekanntesten Herzchirurginnen in Deutschland. Nun wagt die Ärztin den Sprung ins Unternehmertum: Mit ihrer eigenen Herzklinik will Gürsoy zeigen, dass exzellente Medizin mit Innovation und Menschlichkeit vereinbar ist. Dafür geht Gürsoy finanziell ins Risiko – doch sie sagt: „Ich würde das nicht machen, wenn ich keinen Plan hätte.“
Im Sommer dieses Jahres war Dilek Gürsoy mit einem potenziellen Investor in der Düsseldorfer Innenstadt verabredet. Gürsoy, die bekannteste Herzchirurgin Deutschlands und eine der führenden Spezialistinnen für Kunstherzsysteme in Europa, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren den klassischen Klinikbetrieb verlassen. Ein Posten als Chefärztin in einer großen Klinik war ihr trotz intensiver Suche verwehrt geblieben. Also entschloss sie sich, ihr Glück auf eigene Faust zu suchen. Sie arbeitete erst selbstständig, wechselte dann in eine Privatklinik in Düsseldorf, doch ihr großer Traum war die Gründung einer eigenen Herzklinik. Also suchte Gürsoy nach Geldgebern.
Der mögliche Investor erschien mit seiner Ehefrau zum Essen. Doch bevor es ums Geschäftliche ging, wollte er – wie so viele Menschen, die sich mit Gürsoy treffen – ihre medizinische Meinung hören. Die Chirurgin warf einen kurzen Blick auf den Befund des Unternehmers, der selbst an Herzproblemen litt – und riet ihm, bald einen Arzt aufzusuchen und sich einen Herzkatheter legen zu lassen.
Der Mann war offenbar von seinem eigentlichen Kardiologen falsch beraten worden, denn schon am Tag nach dem Treffen rief dessen Ehefrau bei Gürsoy an: Ihr Mann habe einen Herzinfarkt. Wo sei die beste Klinik? Gürsoy sagte: Ihr Mann müsse nicht in die beste, sondern in eine nahe gelegene Klinik – und das schnell.
Es stellte sich heraus, dass der Patient eine Bypass-Operation brauchte. Doch der Eingriff verzögerte sich – unter anderem, weil die Klinik 19 Tage lang nicht bemerkte, dass der privat versicherte Patient aus dem Ausland eine Chefarztbehandlung hätte bekommen sollen. „Er hat am eigenen Leib erfahren, was ich mit meiner Klinik bezwecke: Ich will meinen Patienten menschlich und medizinisch das beste Umfeld bieten“, sagt Gürsoy.
2012 wurde Dilek Gürsoy zu einem Star der Herzchirurgie: Als erste Frau in Europa implantierte sie ein komplettes Kunstherz. Das sorgte weltweit für Schlagzeilen, und die Tochter türkischer Gastarbeiter wurde 2019 bei den German Medical Awards zur Medizinerin des Jahres gewählt. Gürsoy ist Vollblutärztin, doch sie blickt auch kritisch auf ihre Branche – etwa auf die Kunstherzforschung und den Klinikalltag.
So klagt sie etwa über zu wenige Fortschritte bei der Entwicklung von Kunstherzen. Die Systeme seien zu groß, die Entwicklungszeit zu lang und die Vermarktung in Europa zu zurückhaltend. Auch mangle es an Innovation in großen Kliniken, die Hierarchien seien starr und der Leistungs- und Arbeitsdruck zu hoch. „Herzchirurgie muss ja kein Job sein, neben dem kein Familien- und Privatleben möglich ist“, sagt Gürsoy. Und: Das Feld sei eine absolute Männerdomäne, Frauen seien meist außen vor – besonders auf höchster Ebene.
Gürsoy will es besser machen, und zwar mit einer eigenen Privatklinik. Das Investitionsvolumen beträgt 3,5 bis vier Mio. €; Gürsoy selbst finanziert dies per Bankkredit. Sie
hält weiter Kontakt mit Investoren, den Start stemmt sie jedoch aus der eigenen Tasche. Trotz des auch finanziellen Risikos ist sie aber zuversichtlich: „Ich weiß: Wenn der Laden erst mal steht, kommen die Leute – und potenzielle Investoren – schon.“
Ich weiß: Wenn der Laden erst mal steht, kommen die Leute – und potenzielle Investoren – schon.
Dilek Gürsoy
Die Ursprünge von Kunstherzen reichen weit in die Vergangenheit. Künstliche Herzen, die auch Herz- oder Kreislaufunterstützungssysteme genannt werden (im Englischen Ventricular Assist Device, VAD), werden Patienten eingesetzt, die an einer ausgeprägten Herzschwäche leiden. Es gibt zwei Systeme von Kunstherzen: eines, das nur die linke Herzhälfte unterstützt, und ein weiteres, das linke und rechte Herzhälfte entlastet.
Erste Ideen zu einem „Kreislaufunterstützungssystem“ wurden vom Franzosen César Julien Jean LeGallois bereits 1812 formuliert, doch erst 1969 wurde ein Total Artificial Heart (TAH) bei einem Menschen implantiert. Die Systeme wurden über die Jahrzehnte stetig weiterentwickelt; heute dienen sie vorrangig zur Überbrückung der Wartezeit bei Menschen, die auf eine Herztransplantation warten. Erst seit Kurzem wird eine neue Generation von Kunstherzen auch als dauerhafter Ersatz für menschliche Herzen erprobt.
Doch für viele Probleme der Kunstherzen hat die Forschung noch keine Lösung gefunden. „Komplette Systeme“ müssen über ein Kabel, das aus dem Körper führt, mit einer Batterie verbunden werden. Die Akkus sind nach etwa 17 Stunden leer. Das Gerät ist rund sieben Kilogramm schwer und im Betrieb rund 70 Dezibel laut – wie ein Wäschetrockner im Hochbetrieb. Die Systeme werden zwar kleiner und effizienter, doch das Leben mit den Geräten bleibt für die Patienten beschwerlich. Und: Die meisten Systeme sind zu groß. Das menschliche Herz ist ein Wunderwerk der Natur – und alle mechanischen Nachbauten sind größer als das Original. Das ist vor allem für Menschen mit kleinerem Brustkorb problematisch – etwa für Frauen. Gürsoy sagt: „Kunstherzen wurden von Männern für Männer entwickelt. Man dachte damals, dass mehr Männer betroffen sind.“ Tatsächlich sind Frauen genauso häufig von Herzinfarkten betroffen wie Männer.
Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Entwicklung und Zulassung. In Europa gibt es nur ein einziges Linksherzunterstützungssystem. Über mehrere Monate war in diesem Jahr kein System für beide Hälften zugelassen; erst Ende Oktober gaben die Regulatoren grünes Licht für die Wiedereinführung. Beim führenden US-amerikanischen System ist die CE-Zulassung ausgelaufen, das französische System war aufgrund von Schwierigkeiten für mehrere Monate nicht verfügbar.
Geplant sind weitere Systeme, Informationen über den Entwicklungsstand sind jedoch rar. Zu den Unternehmen, die im Rennen um vollständige Herzunterstützungssysteme mitmischen, zählen der französische Hersteller Carmat, das US-Unternehmen Syn Cardia sowie das schwedische Unternehmen Realheart TAH.
Am deutschen Projekt Rein Heart TAH, das mit der RWTH Aachen kooperiert, wirkte auch Gürsoy mehrere Jahre mit. Weil Mittel fehlten, wurde es aber eingestellt. Das zeigt auch, warum die Forschung nur langsam vorankommt: Es mangelt an Geld.
Rund 465.000 Menschen kommen pro Jahr mit einer Herzschwäche in deutsche Krankenhäuser. Die große Mehrheit kann behandelt werden, nur bei einer kleinen Gruppe ist das Herz zu schwach, um eigenständig zu funktionieren. Laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) warten in Deutschland etwa 1.100 Menschen auf ein neues Herz, jedoch stehen nur für rund ein Drittel Spenderherzen zur Verfügung – die übrigen Patienten müssen auf ein Kunstherz zur Überbrückung hoffen.
2021 fanden 329 Herztransplantationen statt.
Die Preise von Kunstherzen liegen im Schnitt bei rund 150.000 €, manchmal sogar über 200.000 €. Von der Idee bis zur Implantierung kann die Entwicklung eines Systems die Hersteller bis zu 200 Mio. € kosten, sagt Gürsoy. Die Entwicklungskosten sind hoch, die Zielgruppe ist klein – das macht den Markt nicht allzu interessant für Investoren. Hinzu kommt, dass einige Systeme nach den klinischen Tests – etwa jenes des US-Konzerns Abiomed – eingestellt werden müssen. Und: Während die Kosten für Kunstherzen in Deutschland von der Krankenkasse übernommen werden, ist die Situation in anderen Staaten Europas und der Welt unklar.
„Da sagen sich viele: Wenn ich so viel Geld investiere, dann lieber in ein Unternehmen, das Covid-Impfungen produziert – da habe ich das Geld in einem Jahr wieder verdient“, erklärt Gürsoy. Auch das vielversprechende System von Realheart war daher auf staatliche Zuschüsse angewiesen.
Gürsoy glaubt, dass ein Investor im Bereich Kunstherzforschung nicht nur rein finanzielle Motive verfolgen darf: „Man muss jemanden finden, der auch aus altruistischen Motiven handelt; jemanden, der womöglich einen nahen Angehörigen wegen einer Herzkrankheit verloren hat und daher weiß, wie wichtig das Thema Kunstherzforschung und Kunstherztherapie ist.“
Dilek Gürsoy wurde als Tochter von türkischen Gastarbeitern in Neuss in Nordrhein-Westfalen geboren. Mit Krankenhäusern und Medizin musste sie sich bereits als junge Frau auseinandersetzen: Sie wurde als jüngstes von fünf Kindern geboren, ihre zwei ältesten Brüder starben im Kindesalter. Sie verlor auch ihren Vater, als sie zehn Jahre alt war – er starb wegen eines Herzklappenfehlers.
Gürsoys Mutter, eine Analphabetin, zog Gürsoy und zwei weitere Brüder alleine auf; auch sie verbrachte natürlich viel Zeit im Krankenhaus. Gürsoy war, wie ihre Mutter, stets von den Ärzten beeindruckt – Gürsoy fasste früh den Entschluss, selbst Medizinerin zu werden.
Doch ihre Noten reichten nicht, weshalb ihre Mutter in der Fabrik Extraschichten arbeitete,
um ihrer Tochter den Vorbereitungskurs für den „Mediziner-Test“ zu finanzieren. Gürsoy schnitt gut ab und wurde die Erste in ihrer Familie, die studierte. Während ihres Studiums riet ihr eine OP-Schwester, dass sie nach Bad Oeynhausen gehen solle, wenn sie sich für Herzchirurgie interessiere – zum damals größten Herzzentrum Europas. „Ich wusste, dass das eine große Klinik ist und mein Weg hart werden würde“, so Gürsoy.
Doch Gürsoy fand in Reiner Körfer, einer der Koryphäen der Herzchirurgie, einen Mentor und Förderer. Sie war bei ihm in verschiedenen Kliniken als Assistenz-, Fach- und letztlich Oberärztin tätig, zwischen 2016 und 2019 in verschiedenen Positionen. 2019 wurde sie Medizinerin des Jahres, 2020 publizierte sie ein Buch mit dem Titel „Ich stehe hier, weil ich gut bin“. In der Heimatstadt ihrer Eltern, in Aybasti in der Provinz Ordu am Schwarzen Meer, wurde sogar eine Straße nach ihr benannt. Dabei sieht Gürsoy ihre Tätigkeit gar nicht als außergewöhnlich an: „Ich sehe mich nicht als etwas Besonderes, ich mache nur meinen Job. Wenn ich das, was ich mache, jeden Tag so geil finden würde, würde ich auch gar nicht vorankommen und nicht ernst genommen werden“, so die Medizinerin.
Als türkischstämmige Frau, deren Eltern Gastarbeiter waren und die noch dazu in einer Männerdomäne reüssiert, bekam Gürsoy in den letzten Jahren viel mediale Aufmerksamkeit. Sie nutzte diese für „die Sache“, wie sie sagt, und meint die Kunstherzforschung. Dennoch (oder gerade deshalb) blieb ihr der gewünschte Chefarztposten in einer großen öffentlichen Klinik mit Tausenden Mitarbeitern verwehrt. Am Migrationshintergrund lag das jedoch nicht, so Gürsoy. „Die Medizin ist voll von Menschen mit Migrationshintergrund. Das war nie ein Problem für meine Karriere.“ Die Tatsache, dass sie eine Frau war, war da schon eher hinderlich, meint sie.
Also verließ sie die Klinik und verdiente ihr Geld unter anderem damit, dass sie in Entwicklung befindliche Kunstherzsysteme implantierte und den Herstellern Feedback gab. Dabei nahm sich Gürsoy kein Blatt vor den Mund: „Ich habe ein System in die Hand bekommen und sofort mitgeteilt, dass es zu groß ist. Bei der Operation habe ich dann alles gesagt, was schlecht ist; nicht, was man verbessern kann, sondern was schlecht ist. Das muss man knallhart sagen, da darf man auch nicht rumeiern.“ Seit Februar 2021 ist sie nun Chefärztin an der Clinic Bel Etage Medical Center Pradus in Düsseldorf, wo sie auch gemeinsam mit Wilhelm Sandmann, einem führenden deutschen Gefäßchirurgen, operiert, um mehr über dessen Spezialgebiet zu lernen.
Gürsoys Plan ist es nun, eine eigene Klinik zu eröffnen. Geplant ist eine Praxis auf einer Fläche von 1.500 Quadratmetern mit einem OP- und einem Herzkatheterraum, vier Intensiv- und rund zehn Normalbetten. Neben Herzchirurgie sollen auch die Bereiche Kardiologie sowie Gefäß- und Thoraxchirurgie angeboten werden. „Von der Prävention bis zur Herz-OP bieten wir alles an“, so Gürsoy – sie plant, mit 20 bis 25 festen Mitarbeitern zu starten.
Dilek Gürsoy wuchs in Neuss in Nordrhein-Westfalen als Tochter türkischer Gastarbeiter auf. Sie studierte Medizin und arbeitete später in verschiedenen Positionen und Kliniken im Team von Professor Reiner Körfer. 2021 startete sie als Chefärztin in der Privatklinik Bel Etage in Düsseldorf.
Ihre Idee: Im Gegensatz zu anderen Privatkliniken will sie sich nicht auf deutsche Patienten fokussieren, sondern auf ausländische „Selbstzahler“. Gürsoy: „Man muss das letztendlich auch unternehmerisch sehen – ich habe schon Kliniken scheitern gesehen.“ Besagte Patienten sind für Herzchirurgen lukrativ: Für eine Herzklappen-OP können Summen im mittleren fünfstelligen Bereich berechnet werden.
Dennoch ist das Risiko kein geringes, denn Gürsoy muss erst mal Patienten finden, die die Möglichkeit haben, überhaupt so viel Geld zu bezahlen. Doch sie setzt nicht nur auf ihre Fähigkeiten, sondern auch auf ihre Bekanntheit. Dass sie keine Kassenpatienten willkommen heißen darf, ärgert Gürsoy: Herzchirurgische Kliniken, die Kassenpatienten aufnehmen, müssen in größere Krankenhäuser integriert sein – so will es das deutsche Recht.
Doch für die Zukunft will sie eine solche Erweiterung nicht gänzlich ausschließen. Als Standort der Klinik war Düsseldorf angedacht, doch nun hat Gürsoy eine Immobilie in Mönchengladbach entdeckt, die zu ihren Vorstellungen passt. Im Frühjahr 2023 will sie die Klinik eröffnen. „Ich will in diesem Haus nicht nur gut operieren, sondern auch zeigen, wie das Heranziehen einer neuen Generation (von Herzchirurgen, Anm.) funktionieren kann“, so die Medizinerin.
Einen angenehmen Nebeneffekt hätte der Standort auch: Gürsoy wäre ihrem Herzens-Fußballklub Borussia Mönchengladbach, bei dem sie bis heute Mitglied ist, nahe. Ihr Mentor Reiner Körfer war bis Sommer 2022 zehn Jahre lang Aufsichtsratsvorsitzender des Vereins. Vielleicht ist dieses Gremium ja die nächste Männerdomäne, die Gürsoy ins Auge fasst.
Text: Klaus Fiala
Fotos: Peter Rigaud