„Gegen armut und plastik“

Die Social Company „Buy Food with Plastic“ will mit einem innovativen Konzept zwei globale Probleme gleichzeitig lösen: Plastikverschmutzung und Nahrungsmangel. Die Mitgründerin und Schweizer „Forbes 30 Under 30“-Listmakerin Anna Gracia Herbst erklärt das Konzept.

Als im Urwald ein Feuer ausbricht, machen sich die Tiere aus dem Staub – Löwe, Elefant, Giraffe und die übrigen Dschungelbewohner flüchten in Sicherheit und schauen aus der Ferne zu, wie ihre Heimat verbrennt. Nur der Kolibri gibt nicht auf: Immer wieder füllt er im Fluss seinen Schnabel mit Wasser und wirft ein paar Tropfen in die Flammen. Dann sagt er zu der Gemeinschaft: „Ich alleine kann nichts ausrichten. Aber stellt euch vor, auch die großen Tiere helfen mit. Dann könnten wir unsere Heimat retten!“

Diese Fabel erzählt Anna Gracia Herbst, 28, immer wieder. Sie ist Mitgründerin des Social Start-ups Buy Food with Plastic, das in Nicaragua, Ghana und Indien gegen Plastikverschmutzung und Nahrungsmangel vorgeht – zwei mächtige globale Probleme unserer Zeit. Oft fühlt sich Herbst wie der Kolibri; ihr Beitrag ist winzig, und für sich gesehen macht er keinen Unterschied. Doch darum geht es nicht: Herbst und ihre Mitstreiter sind aktiv, sie packen an, statt zu resignieren – und inspirieren damit die Großen und Einflussreichen, also jene, die tatsächlich die Macht haben, die Welt zu verändern.

„Ich wünsche mir, dass kein Mensch mehr in extremer Armut leben muss und kein Plastik in der Umwelt landet“, sagt Herbst, eine gebürtige Berlinerin, die in Zürich aufgewachsen ist. Um diese Mis­sion zu erfüllen, gründete sie mit 23 Jahren gemeinsam mit ihrem ehemaligen Schulkameraden Khalil Radi das Start-up Buy Food with Plastic. Dieser gemeinnützige Verein organisiert in Nicaragua, Ghana und Indien regelmäßig Community-Events: Einheimische bekommen dabei für gesammelten Plastikmüll eine Mahlzeit. Weniger Abfall, mehr Nahrungssicherheit – so das Konzept.

Plastikverschmutzung ist ein gewaltiges Problem: 73 % des weltweiten Mülls an Stränden be­stehen aus Plastik, darunter Ziga­rettenfilter, Flaschen, Flaschen­verschlüsse, Verpackungen, Tüten und Styropor. Herbsts ehemaliger Mitschüler und Mitgründer Khalil Radi erlebte die Umweltschäden während einer Auszeit in Nicaragua; auch dort sind die Küstenregionen massiv mit Plastik verschmutzt.

Zeitgleich kam es 2018 in Nicaragua zu Unruhen und Pro­testen gegen eine Gesetzesreform. Touristen blieben aus, die Haupt­einnahmequelle für Millionen Men­schen brach weg, viele hatten es schwer, ihre Familien zu ernähren. In der Krise sah Radi eine Chance: In Popoyo, einem Surferdomizil am Pazifik, organisierte er erstmals eine Tauschbörse, sammelte Spenden für Nahrung und kochte gemeinsam mit den Einheimischen. Statt das Essen zu verschenken, konnte es mit ge­sammeltem Plastikabfall „bezahlt“ werden.

Anna Gracia Herbst sah Videos der Aktion online und war von der Idee sofort begeistert. Sie spendete Geld, wollte sich aber auch aktiv einbringen. Sie kündigte nach zweieinhalb Jahren ehrenamtlicher Arbeit für Buy Food with Plastic ihren Job im Marketing, um Radis Konzept auszubauen und in andere Teile der Welt zu exportieren.

Seit der Gründung 2018 wurden mehr als 138.000 Plastik­flaschen eingesammelt und mehr als eine Million CHF an Spenden generiert. Unterstützer sind Stiftungen, Unternehmen und vermögende Privatpersonen. Herbst und Radi widmen sich seit zwei Jahren in Vollzeit ihrem Projekt: „Du kannst die Welt nicht im Nebenjob retten“, sagt die Kommunikationswirtin. Zum Team gehören 16 weitere Aktivisten und lokale Helfer, die weitgehend autonom einmal im Monat die Events organisieren, die längst ein wertvolles Erlebnis für die Gemeinschaft geworden sind, mit Workshops, Musik und Spielen.

Nach Nicaragua wird inzwischen auch an der Küste Ghanas und in einem Slum in Mumbai Plastikabfall für Essen eingetauscht. Doch das Sammeln ist nur ein As­pekt der Aktion: In den Ländern mangelt es an Recyclingstellen, daher müssen Herbst und ihre Mitstreiter auch eine lokale Kreislaufwirtschaft aufbauen. Das war vor allem in Nicaragua ein Problem.

Dort nutzte eine deutsche Auswanderin die gesammelten Flaschen zwar als Baumaterial für ein Haus; Plastik als Baustoff, das klang nach einer schlüssigen Wiederverwertung. Das Problem: Sind Zement und Plastik vermischt, können die Elemente später nicht mehr getrennt werden. Insofern wurde durch falsche Wieder­verwertung das Abfallproblem sogar noch vergrößert.

„Der Recyclingzyklus sollte nicht bei einer einmaligen Wiederverwertung enden“, sagt Herbst. Mit Spendengeldern baute das Team daher eine Manufaktur auf – und kaufte 2022 für Nicaragua eine Maschine, die Plastikdeckel (diese bestehen aus den einfacher und günstiger recycelbaren PP- und HDPE-Kunststoffen) einschmelzen kann. Aus dem Material entwickelten die Macher ein neues Produkt: einen Kamm, der Wachs auf Surfbrettern entfernen kann. Diese Surfkämme sind auch ein ideales Erinnerungsstück für Urlauber.

Der Aufbau der Manufaktur erwies sich als Mammutaufgabe: Drei Monate lang lebte Herbst in Mittelamerika. Inzwischen schafft die Fabrik auch Jobs: Zwei Frauen und ein Mann recyceln den Plastikabfall. Sechs lokale Mitarbeiter organisieren die Buy-Food-with-Plastic-Events und bauen die Veranstaltungen weiter aus. Sie kochen aus Reis und Gemüse die populären Mahlzeiten, die in­zwischen auch die Gemeinschaft stärken und Menschen an einen Tisch bringen. „Wir wollen auf­zeigen, wie man mit Abfall umgehen und Verschmutzung vermeiden kann“, erklärt Herbst. Denn indem die gesammelten Plastikflaschen einen Wert bekommen, werden sie nicht mehr als wertloser Müll betrachtet – im Endeffekt ist es das Prinzip der Pfandflasche.

Auch in Ghana hat das Team von Buy Food with Plastic eine innovative Idee für die Wieder­verwertung: Dort sind die Strände vor allem mit Sachets verunreinigt, kleinen Plastiktüten, die als Trinkwasserbehälter dienen. Da in Ghana nahezu alle Frauen nähen können, verarbeiten Einheimische die gesammelten Aluminiumfetzen zu Isolierungen für Picknickdecken.

Plastikflaschensammlung in Tola, Nicaragua

Die Wirtschaftlichkeit des Projekts ist Herbst wichtig. Durch Herstellung und Verkauf von Re­cyclingprodukten sollen sich die Tauschevents zu 70 % selbst finanzieren. Der Spendenanteil soll dann in Zukunft nur noch bei 30 % liegen, um in weitere Länder expandieren zu können.

Im Winter reist die Aktivistin auch erstmals mit Menschen, die den Verein finanziell unterstützen, nach Nicaragua – um über die Fortschritte des Projekts aufzuklären. Anfragen für ähnliche Tauschprojekte kommen aus aller Welt: Die Ini­tiative in Mumbai kam durch das Engagement eines lokalen Akti­visten zustande, der unbedingt
mit Herbsts Charity-Organisation kooperieren wollte.

Derzeit verhandelt das Team auch mit einem Schweizer Schuhhersteller. Die Idee ist, aus dem gesammelten Plastik Schuhlöffel herzustellen. Das wäre ein wichtiger Beitrag für eine Kreislaufwirtschaft und ein nachhaltiges Recycling­konzept. „Das ist der Idealfall: wenn große Firmen Partner werden und mit uns kooperieren“, sagt Herbst. Denn dann hat es der Kolibri ge­schafft – er hat den Elefanten und die anderen Tiere überzeugt und bewiesen: Gemeinsam kann man Großes bewirken.

Foto: Marko Vucic

Reinhard Keck

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