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Die Florida International University will die Armut in Südflorida mithilfe von Gründungen im Food-Bereich lindern.
Anna Etienne trägt die Energie der Sonne Floridas in sich. Es ist bereits Freitagnachmittag und es herrscht eine drückende Hitze im Norden Miamis, weshalb der Campus der Chaplin School of Hospitality & Tourism Management auch wie leer gefegt ist. Doch Etienne ist weiterhin gut gelaunt und unermüdlich im Einsatz. In den letzten Stunden hat sie Studenten der Marketingabteilung geholfen, einen Werbefilm zu drehen, jetzt sind aber auch die bereits ins Wochenende verschwunden. Etienne lässt sich in einen Stuhl sinken, der noch nicht auf den dunkelbraunen Holztischen im Übungsrestaurant gestapelt wurde, und lehnt sich lächelnd zurück. Ein paar Augenblicke lang massiert sie ihre Knöchel. Seit den frühen Morgenstunden hat sie auf den hohen Absätzen mit Sicherheit die eine oder andere Meile zurückgelegt. Als Direktorin der „StartUP FIU Food Initiative“ gibt sie sich dennoch keine Zeit für lange Pausen – schließlich verfolgt sie eine Mission.
Das Programm ist ein gemeinnütziges Projekt der Florida International University (FIU) sowie der zugehörigen Tourismus-Fachhochschule Chaplin School of Hospitality & Tourism Management. Erklärtes Ziel ist es, „Food Entrepreneurs“ in der Umgebung hervorzubringen und zu unterstützen. Was erst mal sperrig klingt, hat einen einfachen Hintergrund: Besonders im Norden Miamis herrscht nämlich – je nach Lesart – ein akutes Problem. Denn zieht man die Arbeitslosenstatistik des U.S. Department of Labor heran, suchen zwar nur rund fünf Prozent der Bevölkerung Arbeit, bei einem Landesdurchschnitt im ersten Quartal 2018 von unter vier Prozent. Doch laut dem United States Census Bureau sind 36 Prozent der unter 65-Jährigen in der Region nicht krankenversichert, 22 Prozent der Bewohner im Süden Floridas leben in Armut. Die Zahl ist fast doppelt so hoch wie im Rest der USA.
Und auf genau diese Zielgruppe fokussiert das Programm der Universität: Menschen mit geringem oder gar keinem Einkommen sollen möglichst schnell Werkzeuge in die Hand bekommen, um sich selbst zu erhalten. „Wir wollen denjenigen helfen, die immer hart gearbeitet haben, aber nie eine Chance hatten“, fasst Anna Etienne ihre Mission zusammen. Laut einer Studie der Citigroup, des viertgrößten Geldinstituts der USA, über die Hintergründe der Armut im Süden Floridas suchen die meisten Menschen, die sich aus der Not heraus selbstständig gemacht haben, ihr Glück im Lebensmittelbereich.
Die Entscheidung liegt nahe: Florida hat neben dem milden Klima, das fast ganzjährig alle möglichen Obst- und Gemüsesorten gedeihen lässt, eine sehr lebhafte und wachsende Gastronomieszene, jede Menge Festivals, Touristen und lokale Märkte. Nach der Auswertung der Armutsstudie schrieb die gemeinnützige Stiftung der Citigroup eine Förderung aus. Die FIU gewann als erste Universität die Ausschreibung für sich, bisher wurden stets Non-Profit-Organisationen bedacht. 500.000 US-$ stehen der Initiative nun zur Verfügung, im April 2017 wurde das Projekt offiziell gestartet.
Anna Etienne zur Seite steht Michael Cheng, Professor und Interimsvorstand an der Chaplin School. Er ist verantwortlich für alles an der Schule, was mit Essen und Trinken zu tun hat – seien es Weinseminare oder molekulare Experimente. Cheng war es auch, der Etienne 2016 von Goldman Sachs holte, wo sie das Projekt „10.000 Small Businesses“ geführt hat. Die Teilnahme an der Food Initiative ist kostenlos, bewerben könne sich jeder, vom Studenten bis zur Großmutter, heißt es auf der Webseite. Voraussetzung ist, dass vor mindestens einem Jahr ein Unternehmen gegründet wurde und mindestens zwei Personen darin Vollzeit tätig sind. Interessenten müssen ihre Steuererklärung und Bilanzen mitschicken, bevor sie zu einem Vorstellungstermin eingeladen werden. Im Erstgespräch suchen Etienne und Cheng die „Schmerzpunkte“ – blinde Flecken, deren sich die Gründer selbst nicht bewusst sind bzw. wo sie nicht gerne hinsehen. „Und wir finden sie immer“, sagt Etienne. Die meisten Probleme gebe es beim Geld. „Der größte Brocken sind die Finanzen“, meint Cheng. Viele Gründer würden ein und dasselbe Konto für private und geschäftliche Transaktionen nutzen, andere hätten falsche Lizenzen gelöst und zahlen unnötig hohe Steuern; wieder anderen fehle der Platz, um größere Mengen zu produzieren.
„Die meisten fangen damit an, in der eigenen Küche etwas einzukochen oder zu backen und ihre Waren an kleinen Ständen zu verkaufen“, erklärt Michael Cheng. „Wir machen sie ‚fit to scale‘.“ Soll heißen: Die Kochamateure lernen, ihr Angebot je nach Auftrag zu vergrößern oder zu verkleinern, ohne dass sie finanzielle Einbußen erleiden. Talent hätten alle – Erfahrung in der Gastronomie keiner. Wer zehn hervorragende Blechkuchen zaubern kann, schafft bei 50 Stück nicht unbedingt die gleiche Qualität. Auch dafür ist in der Start-up-Initiative Abhilfe vorgesehen. Nicht nur, dass die Teilnehmer zu bestimmten Zeiten die Kücheneinrichtung der Chaplin School für ihre Eigenproduktion benutzen dürfen, ihre Waren werden alle im Schullabor getestet. Dort sieht es weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick nach Essbarem aus: In Metallregalen und Kühlschränken stapeln sich wundersame Fläschchen und Behälter mit bunten Inhalten. „Natürlicher Zimtgeschmack“ steht auf einem Etikett, ein anderes Gefäß verströmt den Duft von Ananas. In Glaskästen liegen in verschiedenen Schichten Proben, um die Haltbarkeit zu kontrollieren. Daneben stehen vier Flaschen mit einer undefinierbaren Flüssigkeit, die optisch stark an alten Eierlikör erinnert. „Hier optimieren wir die Zutaten“, erklärt Cheng. Liebevoll streichelt er über die Behälter und Gläser, das Labor ist eindeutig sein Lieblingsraum. Er selbst hat seine Dissertation über „Culinology“ geschrieben, ein relativ junges Fachgebiet über die Schnittmenge aus Kulinarik und Technologie.
Die Zusammensetzung der Produkte ist auch der Bereich, den er mit den Teilnehmern intensiv durchgeht. Doch nicht immer freut das alle. „Ein Teilnehmer wollte mir partout sein ‚Geheimrezept‘ nicht verraten, das hat mich ganz wahnsinnig gemacht“, erzählt Cheng. Zwölf Firmen nehmen aktuell an dem Projekt teil, mehr als 30 waren bei ihm in der Beratung. Wer angenommen wird, muss zehn bis zwölf Stunden in der Woche aufbringen: Es gibt Unterricht zu Marketing- und Finanzstrategien, gemeinsame Workshops und individuelle Treffen mit Mentoren. 17 sind es derzeit, und sie alle arbeiten ehrenamtlich mit. Die Gruppe ist eine bunte Mischung aus Unternehmensberatern und Lebensmittelproduzenten. „Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte“, erzählt Etienne, die das Netzwerk aufgebaut hat. Der Großteil der Mentoren stammt aus Zuwandererfamilien, auch Etienne etwa hat haitianische Wurzeln. Bei aller Herzlichkeit ist ihr die eigene Disziplin deutlich anzumerken. Die Erfolge des Projekts analysiert sie in ihrer Doktorarbeit.
Talent haben alle, Erfahrung keiner. Wer zehn hervorragende Blechkuchen zaubert, schafft das nicht automatisch auch bei 50.
„Etienne kann ganz schön streng sein“, erzählen Alecia und Dean Dennis fröhlich. Die beiden haben das ganze Programm an der FIU durchlaufen und sind nun dabei, die nächsten großen Schritte mit ihrem Unternehmen The Scarlet Beverage Company zu gehen. „Ohne die Initiative wären wir niemals an diesem Punkt“, sagt Dean. Dass Etienne regelmäßig Statusupdates gefordert und nachgebohrt hat, sei essenziell gewesen. Das Ehepaar produziert und vertreibt alkoholfreie Getränke für besondere Anlässe, etwa einen Roséwein, der im Gegensatz zu herkömmlichen alkoholfreien Weinen nicht fermentiert wird. Alecia ist gelernte Krankenschwester, Dean war zuvor im TV-Marketing tätig. Die Geschäftsidee kam den beiden beim Frühstück, denn beide trinken aus Überzeugung keinen Alkohol – der Körper sei mit Liebe zu behandeln, sagen sie. Ausschlaggebend war dann ein junger Diabetespatient von Alecia Dennis, dem ein Bein amputiert werden musste. „Ich war am Boden zerstört. Mit anderer Ernährung hätte man den Krankheitsverlauf sogar rückgängig machen können“, erzählt sie. Seither engagiert sich das Paar über die Plattform Lionshield für Gesundheitsbildung in seiner Gemeinde; hochwertige alkoholfreie Getränke passen da natürlich gut ins Bild.
Obwohl Dean aus dem Marketing stammt, wollte es mit der Vermarktung nicht so richtig klappen. „Die Arbeitswelt hat sich stark verändert, viele Geschäfte sperren zu, alles geht in Richtung digital“, schildert der Unternehmer. Seine Konzepte aus der TV-Welt ließen sich nicht auf das Internet umlegen. „Dass wir bei dieser Initiative aufgenommen wurden, hat uns wahnsinnig gefreut“, erzählt das Paar.Es folgte ein halbes Jahr voll mit hartem Lernen und einem Neudenken ihrer Idee. Die Flasche mit dem unansehnlichen Eierlikör-Etwas in der Schulküche stammt übrigens von ihnen. Erst mithilfe eines Mentors haben sie das richtige Verfahren für ihre Säfte gefunden und stehen jetzt mit vier Supermarktketten in Verhandlungen. Fast noch wichtiger sei aber die Vernetzung mit den richtigen Partnern gewesen. Anna Etienne habe sie immer wieder Händlern und Vertriebspartnern vorgestellt. „Unser Konzept wurde auf Herz und Nieren geprüft“, sagt Dean. „Ohne das Programm hätten wir viel Zeit und Geld verloren.“
Der Andrang auf die „StartUP FIU Food Initiative“ ist größer als erwartet. Zu einer Infoveranstaltung im Februar erschienen mehr als 130 Interessierte, ausgelegt war das Event für 50 bis 60 Personen. „Alle waren Food-Entrepreneurs“, sagt Anna Etienne begeistert. Mittlerweile wurde die Initiative um zwei Angebote erweitert, es gibt nun auch ein Zertifikats- und ein Mitgliederprogramm für jeweils rund 3.000 US-$ Gebühr. Neben den Workshops und dem Mentoring helfen Studenten den Teilnehmern, ihre Finanzen und Marketingstrategien vorzeigbar zu machen. Die Umsätze der Teilnehmer seien im Schnitt um 30 Prozent pro Quartal gestiegen, meint Etienne, und spätestens im Herbst sollen die ersten aus dem Programm auf ausgewählte Investoren losgelassen werden. Die möglichen Financiers hat ebenfalls Etienne ins Boot geholt, einer davon ist der Handelsriese Walmart. Etienne begleitet die Jungunternehmer eben bis an diese Schwelle, mit der „Stützrädermethode“, wie sie es in Anlehnung ans Fahrradfahren nennt. „Dann müssen sie selber fahren können.“
Dieser Artikel ist in unserer März-Ausgabe 2018 „Food“ erschienen.