EIN FORESIGHT-ANALYST GESTEHT

Prognosen erstellen ist eine Sache. Ob diese auch eintreten, eine andere. Für Foresight-Analysten gehört es zum Job, sich zu irren. Zum Beispiel beim Thema „Sharing Economy“. Ein Gastkommentar von Bernhard Seyringer.

Ja, ich gebe es zu. Ich gebe zu, ich bin beim Thema „Sharing Economy“ etwas lustlos. Das „Sharing“-Versprechen will nicht so recht erblühen. Vielleicht ist es der Mangel an Besitz, der die angebliche Belastung durch selbigen nicht so deutlich spürbar macht, weshalb sich keine zwingende „Sharing“-Begeisterung einstellen will.

Vielleicht liegt die Begründung für die Minderbegeisterung auch darin, dass mir die „Sharing Economy“ beruflich eine Niederlage bereitet hat: Ich habe ihre Entwicklung unterschätzt und ging nicht davon aus, dass man mit noch einem Begriff aus der Vergangenheit „Zukunft“ machen kann. Schließlich kommt bereits die „Wissensökonomie“ aus den 1960ern und die „Digitalisierung“ aus den 1970ern: Also jetzt noch „Sharing“?

Das Schlimme ist, ich bin mit diesbezüglicher Fehleinschätzung in guter Gesellschaft großer Geister der Zukunftsforschung der 1960er-
Jahre: Herman Kahn, Daniel Bell, Erich Jantsch, sie alle hatten für das Jahr 2000 viel auf dem Radarschirm – die Renaissance der Genossenschaftsidee als plattform-kapitalistische Farce war nicht dabei. Nicht einmal der Karlsruher Kybernetiker Karl Steinbuch, dessen prognostische Weitsicht 1967 nur bis zum Heraufdämmern des „kabellosen Telefons“ reichte, war hinreichend bescheiden im Geiste.

Porträt: Bernhard Seyringer, Thinktank, MRV Research, Digitalisierung, Sharing

Bernhard Seyringer hat berufliche Vergangenheit im Bereich Strategic Foresight der EU, leitet gegenwärtig den Thinktank MRV Research und entwickelt mit der Agentur Leisure Communications Kommunikationsstrategien für Städte und Regionen.

Aber wer hätte es in der Hochblüte der ­Zukunftsforschung gewagt, solche Szenarien zu veröffentlichen? Die Diskussionen verliefen damals ähnlich wie heute: Vom Vorsitzenden der US-Atomenergiekommission gab es das Versprechen auf ein Roboter-Hausmädchen im Jahr 2000, bis hin zu der charmanten Vision der New York Times, dass die Frisuren eleganter Damen von Schmetterlingen, angezogen von einem speziellen Haarspray, umkreist werden. Dazwischen waren noch der Kontakt zu außerirdischen Lebensformen und die Heilung sämtlicher Krankheiten. Und es war erst kurze Zeit vergangen, seit der erste UNESCO-­Generalsekretär, Julian Huxley, mit Atomwaffen die Polkappen abschmelzen wollte – Klimaerwärmung als Verheißung. Wer hätte also im Kontext solcher Debatten den Mut gehabt, zu prophezeien, dass wir uns im Jahr 2010 mit einem „kabel­losen Telefon“ mit der Rechnerleistung mehrerer damaliger NASA-Großrechner voll Begeisterung einen kostenpflichtigen Aufenthalt in der Wohnung eines uns unbekannten Menschen arrangieren, Flohmarktangebote vergleichen oder einen Tretroller gegen Gebühr leihen wollen?

An diesem Unvermögen lässt sich die zentrale Erkenntnis für sämtliche Foresight-Analysen festmachen: Die tatsächliche Problemlage bei der Entwicklung von Zukunftsszenarien ist der Punkt „gesellschaftlicher Wandel“, weniger die technologische Apparatekunde. Was konnte und kann man sich nicht alles im Bereich Technik für die Zukunft vorstellen? Aber ein gesellschaftlicher Wertewandel, der zum Beispiel das alte Genossenschaftsprinzip zeitgeistig macht? No way. Das alte Prinzip: Siedeln auf dem Mars? Kein Problem – aber in einer Bauernstube aus Zirbenholz.

Illustration: Valentin Berger

Dieser Artikel ist in unserer Dezember-Ausgabe 2018 „Sharing Economy“ erschienen.

Gastkommentar

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