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Digitalunternehmen übernehmen eine immer aktivere Rolle in der Stadtentwicklung. Sie erweitern ihre innerstädtischen Standorte und investieren in große Immobilienprojekte. Doch sind Tech-Firmen auch gute Städtebauer?
Jeff Bezos, Gründer von Amazon, hundertfacher Milliardär und reichster Mensch der Welt, rief im September 2017 den größten Städtewettbewerb aus, den die Welt bis dato gesehen hat. Zu „gewinnen“ gab es den Standort für Amazons zweiten Firmensitz HQ2, fünf Milliarden US-$ an Investitionen und 50.000 neue Jobs. Die Resonanz war überwältigend.
Mehr als 200 Städte folgten dem Aufruf und reichten umfangreiche Bewerbungsunterlagen ein. Darin gaben sie nicht nur bereitwillig Auskunft über Standortfakten zu Demografie, Infrastruktur und Wirtschaft, denen an sich schon ein erheblicher ökonomischer Wert beigemessen wird, sondern überboten sich auch mit Steuervergünstigungen, finanziellem Beistand und weiteren Anreizen. Der Wettbewerb nahm mitunter bizarre Formen an: Eine Stadt überbrachte als Gastgeschenk einen 12 Meter hohen Kaktus, ein Bürgermeister kaufte und bewertete 1.000 Amazon-Produkte, eine Kommune bot sogar an, sich in Amazon umzubenennen.
An seinem Stammsitz in Seattle ist Amazon in den vergangenen Jahren zum dominierenden Wirtschaftsakteur herangewachsen. Mit 45.000 Mitarbeitern belegt der Internethändler 20 Prozent der Büroflächen, vier Milliarden US-$ wurden in einen neuen Downtown-Campus investiert. Der Erfolg brachte gut bezahlte Jobs und ökonomischen Aufschwung, aber auch ausufernde Immobilienpreise und rasant steigende Lebenshaltungskosten. Für viele Normalverdiener ist Seattle längst unbezahlbar geworden.
Der Versandhändler wider das städtische Gemeinwohl
Während Amazons Suche nach einem zweiten Hauptsitz in Seattle durchaus als Entlastung wahrgenommen wurde, entspann sich eine öffentliche Debatte um die politischen und moralischen Implikationen des Wettbewerbsformates. Mit welcher Berechtigung wirbt eines der größten Unternehmen der Welt um eine Förderung mit öffentlichen Geldern und nutzt dabei die prekäre Lage vieler Kommunen, um diese gegeneinander auszuspielen? Der Stadtforscher Richard Florida rief alle Städte dazu auf, sich nicht an Amazons Subventionswettlauf zu beteiligen. Andere Kommentatoren forderten, die Praxis der bezuschussten Ansiedlungspolitik gleich gänzlich zu verbieten.
Die Kritik verhallte weitestgehend konsequenzlos. Zu groß war bei Kommunalvertretern offenbar die Aussicht auf politischen Gewinn, sollten die Bemühungen um Amazon von Erfolg gekrönt sein. Doch das dicke Ende kommt bekanntlich zuletzt: Im November 2018 gab Amazon bekannt, nicht einen, sondern gleich zwei neue Firmensitze zu errichten: in Long Island City im New Yorker Stadtteil Queens und in Crystal City, Virginia, einem Vorort von Washington DC. An beiden Orten sollen jeweils 25.000 Arbeitsplätze geschaffen werden, also die Hälfte der ursprünglich versprochenen.
In den Gewinnerstädten fiel Amazons Zuschlag auf ein geteiltes Echo. Kritiker bezeichneten die Subventionssumme von zwei Milliarden US-$ – sowie die 48.000 US-$ pro Job in New York und 22.000 US-$ in Virginia – als überzogen – zumal der Nutzen für den Großteil der Stadtbevölkerung äußerst gering ausfallen dürfte. Bei genauer Betrachtung wird vielmehr deutlich, dass die Ansiedlung von Amazon auch zahlreiche Verlierer hervorbringt, zumeist auf Seiten sozial schwacher Bevölkerungsgruppen.
Das Areal am Anable Basin in Long Island City, das nun an Amazon geht, war eigentlich für den Bau von 1.500 bezahlbaren Wohnungen vorgesehen. Die zusätzlichen Pendlerströme stellen die Stadt vor weitere Herausforderungen, gilt die New Yorker U-Bahn doch bereits jetzt als chronisch überfüllt, marode und unterfinanziert. Jeff Bezos erhält unterdessen Sondergenehmigungen für den Bau eines privaten Helikopterlandeplatzes.
Von Standorten zu Stadtentwicklungsprojekten
Historisch betrachtet hat sich ökonomische Macht stets auch in gebauter Form manifestiert. So verwundert es nicht, dass die Digitalbranche als prägender Wirtschaftszweig des 21. Jahrhunderts ebenfalls danach strebt, einen städtischen Fußabdruck zu hinterlassen. Dennoch mutet es ironisch an, wenn sich die digitalen Vordenker ausgerechnet in gebauter Symbolik analoge Denkmäler schaffen. Der kreisrunde Apple Park in Cupertino steht in seiner Perfektion als architektonische Ikone für diese Entwicklung.
Grundsätzlich lassen sich bei den städtischen Ambitionen der Digitalunternehmen zwei Tendenzen unterscheiden. Zum einen wirken immer mehr Unternehmen über die Größe und Bedeutung ihrer Standorte auf das urbane Gefüge ein. Zum anderen verfolgen die Tech-Konzerne in wachsendem Maße eigene Stadtentwicklungs- und Immobilienprojekte.
Wie in den USA konzentrieren sich auch in Deutschland die Digitalfirmen fast ausschließlich in den Metropolen. Berlin ist nicht nur die Hauptstadt der Digitalindustrie, sondern auch der Mietsteigerungen – eine brisante Mischung. Als Google in einem alten Kreuzberger Umspannwerk einen Start-up Campus eröffnen wollte, protestierten lokale Initiativen unter dem Slogan „Google ist kein guter Nachbar“ gegen die Ansiedlung. Das Gebäude wurde zwischenzeitlich besetzt und Google nahm schließlich Abstand von dem Vorhaben.
Das Bestreben mancher Konzerne reicht unterdessen über reine Standortfragen hinaus – Digitalunternehmen werden indes zu Stadtentwicklern. Googles Muttergesellschaft Alphabet hat zu diesem Zweck extra eine eigene Firma gegründet: Sidewalk Labs wird in Toronto einen ganzen Stadtteil errichten. Des Weiteren hat Google in San José, der Großstadt am südlichen Ende des Silicon Valley, große Mengen an Land gekauft und plant dort ein Quartier zum Arbeiten und Wohnen – gänzlich ohne Subventionen oder Steuererleichterung.
Facebook lässt geht es etwas kleiner an und baut neben seiner Firmenzentrale in Menlo Park (Kalifornien) den Willow Campus, ein dorfähnliches Ensemble mit 1.500 Wohnungen, Geschäften und Büros. Der Start-up-Inkubator Y Combinator, der unter anderem Airbnb, Dropbox und Reddit hervorgebracht hat, möchte herausfinden, wie man bessere Städte baut, und setzte dazu extra ein eigenes Forschungsprogramm auf.
Im deutschen Kontext sorgte Siemens kürzlich mit der Bekanntgabe von Plänen für einen Innovationscampus für 600 Millionen € in Berlin-Siemensstadt für Aufsehen. Dieses Vorhaben kann als Mischform zwischen neuem Standort und Stadtentwicklungsprojekt gesehen werden. Soweit bisher bekannt, sollen auf dem Areal neben Räumen für Siemens Forschungsabteilung auch Gebäude für Gewerbe, Wissenschaft und Wohnen entstehen.
Felix Hartenstein
... ist Stadtökonom und Urbanist in Berlin. 2017 hat er inwista – Institut für Wirtschaft und Stadt mitgegründet. Er berät Unternehmen und Kommunen zu Ansätzen der trisektoralen Stadtentwicklung und unterstützt Firmen, die sich für städtische oder regionale Ziele engagieren möchten (Corporate Urban Responsibility). Ein besonderer Fokus seiner Arbeit liegt auf den räumlichen Auswirkungen der Digitalbranche. Zuvor war er unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin, wo er im Wechsel zwischen Ägypten und Deutschland arbeitete.
Die Gründe für das wachsende Interesse der Digitalbranche an Städten sind vielschichtig. Zum einen sind die Unternehmen auf spezialisierte Fachkräfte angewiesen, sogenannte „High Potentials“, die sich bevorzugt in städtischen Ballungsräumen niederlassen. Darüber hinaus erhoffen sie sich, vom Ideen- und Innovationsreichtum der urbanen Zentren zu profitieren. Die Stadt liefert gewissermaßen den kreativen Nährboden für die digitalen Geschäftsmodelle und bildet somit eine unabdingbare Ressource für die Tech-Industrie.
Auch als Testfeld für neue Produkte gewinnen Städte zunehmend an Bedeutung. Autonome Fahrzeuge, Smart Meter oder Sensortechnik sind in erster Linie für den städtischen Absatzmarkt konzipiert. Darüber hinaus verfügen Städte über einen Schatz, der im Zusammenhang mit Smart Cities relevant wird: Daten.
Digitalunternehmen machen Stadt
Die langfristigen Auswirkungen der digital-urbanen Transformation sind bislang unklar und ambivalent. Die propagierten Versprechungen – Effizienz, Komfort, Sicherheit – mögen punktuell berechtigt sein, die aktuelle Wirklichkeit sieht jedoch häufig anders aus. Auf der konkreten, räumlichen Ebene lässt sich bereits jetzt beobachten, dass die wachsende Präsenz von Digitalfirmen in den Städten zu weitreichenden Verwerfungen führt: Aufwertung von Stadtteilen und daraus resultierende Verdrängung, Bevorzugung wirtschaftlicher Interessen gegenüber gesellschaftlicher Belange und sozioökonomische Segregation der Bevölkerung.
Es ist davon auszugehen, dass diese Tendenzen mit den kommenden Technologiegenerationen noch weiter zunehmen. Künstliche Intelligenz, Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Gesichtserkennung werden das Zusammenleben in den Städten substanziell verändern. Ob die voranschreitende Technifizierung in eine Utopie oder in eine Dystopie nach George Orwell führt – oder inwiefern auch ein Mittelweg möglich ist – ist noch völlig offen. Ein Blick nach China gibt jedenfalls Anlass zur Sorge. Dort werden private und öffentliche Daten schon heute hemmungslos zusammengetragen und mithilfe eines Social Credit-Systems ausgewertet. Die totale Überwachung ist nicht nur technisch möglich, sie wird bereits praktiziert. In Kombination mit Belohnungs- und Bestrafungsanreizen lässt sich somit individuelles und kollektives Verhalten zielgerichtet steuern. Ob die hiesigen Sicherheitsapparate einer solchen Machtfülle wohl werden widerstehen können?
Digital-urbane Koexistenz
Städte sind essentiell für das gesellschaftliche Zusammenleben. Sie sind die Orte, an denen wir uns begegnen und als Gemeinschaft manifestieren. Städtische Visionen sind somit immer auch gesellschaftliche Visionen. Da diese Visionen in zunehmendem Maße von Digitalunternehmen formuliert und umgesetzt werden, müssen wir uns dringend damit auseinandersetzen, in welcher Art von Stadt wir zukünftig leben wollen. Sollen Städte auf den Prinzipien von Menschlichkeit und Demokratie beruhen, oder auf der Basis von Unternehmenszielen und Technozentrismus?
Auf Seiten der Digitalunternehmen ist im städtischen Kontekt eine weitreichende Raumblindheit zu beobachten. Sie schmücken sich zwar gerne mit Urbanität und nutzen städtische Absatzmärkte, jedoch fehlt ihnen das Verständnis für sozialräumliche Zusammenhänge und die lokalen Auswirkungen ihrer physischen Präsenz im Stadtraum. Gleichermaßen leiden jedoch viele Kommunen an einer Digitaltaubheit. Ihnen mangelt es an der notwendigen Expertise, um auf den wachsenden Einfluss der Tech-Industrie reagieren und diesen aktiv steuern zu können.
Es stellt sich somit die Frage, wie Städte auch in Zukunft ihre angestammte Rolle als gemeinwohlorientierte Instanz wahrnehmen können?
Zunächst gilt es, mit Vehemenz auf die städtischen Implikationen der Digitalisierung aufmerksam zu machen, und ein gegenseitiges Verständnis zwischen unternehmerischen und städtischen Akteuren zu ermöglichen. Nur wenn die Digitalunternehmen ihre Raumverantwortung erkennen und ihr Handeln entsprechend anpassen, werden sie zu verantwortungsvollen und zukunftsfähigen Akteuren der Stadtentwicklung. Andernfalls droht ihr Geschäftsgebaren das sozialen Gefüge der Städte zu beschädigen.
Städte befinden sich heute im globalen Wettbewerb um Kapital und Talente, wodurch vielerorts Verunsicherung herrscht, wie mit den neuen, kapitalstarken Akteuren aus dem Digitalbereich umzugehen ist. Dennoch sollten sich Kommunen nicht überstürzt von den Verheißungen der Branche blenden lassen, sondern ihre Position als nachgefragte Standorte und Absatzmärkte nutzen, um ihre Interessen und Ansprüche selbstbewusst zu vertreten. Dazu brauchen sie sich nicht einmal grundlegend neu zu erfinden, sondern können weiterhin auf bewährte Leitlinien der Stadtplanung zurückgreifen, etwa die „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“, die „Neue Urbane Agenda“ oder die Anforderungen der Bauleitplanung im Baugesetzbuch. Ergänzend müssen sie jedoch zügig eigene Technologiekompetenzen aufbauen, um sich aus der Abhängigkeit der Firmen lösen und ihre Rolle in der digitalen Transformation aktiv ausgestalten zu können.
Gastkommentar: Felix Hartenstein
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