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„Ein Aufsichtsrat gibt Rat und hält Aufsicht über ein Unternehmen“, vereinfacht Viktoria Kickinger – als Aufsichtsrätin hat sie genau das jahrelang in großen Unternehmen gemacht, quer durch sämtliche Branchen. Sie hat hauptberuflich Probleme und Krisen gelöst, denn es waren keine „Sonnenschein-Mandate“, sagt sie. Anstatt sich danach zur Ruhe zu setzen, gründete sie 2016 die Directors Academy, das Aufsichtsratsportal für die Aus- und Weiterbildung von Aufsichtsräten in Deutschland.
Viktoria Kickinger löscht Feuer – im übertragenen Sinne. Sie erinnert sich an einen besonders schweren Brand: Es war noch vor acht Uhr morgens an einem Montag in den Wehen der Finanzkrise, sie bekam einen Anruf des CFOs des Unternehmens, in dem sie den Aufsichtsratsvorsitz innehatte. „Es ist so weit, die Frist zur Anmeldung der Insolvenz läuft ab heute.“ Die Insolvenz muss in Österreich „ohne schuldhaftes Zögern“ spätestens binnen 60 Tagen nach Eintritt der Voraussetzungen beantragt werden. Dieser Anruf hatte sich abgezeichnet; Kickinger erinnert sich bis heute an diesen Montagmorgen: „Als der Anruf dann kam, war es dennoch ein schwerer Schlag.“ Das Unternehmen war – ausgelöst durch die Lehman-Krise – in eine bedrohliche Schieflage geraten.
„Es war der Moment, in dem mir klar war, dass der Aufsichtsrat wirklich alles geben muss, um das Ruder herumzureißen“, so Kickinger. Es war der Start des Überlebenskampfs für das Unternehmen, sagt sie heute, „ein Kampf, den wir tatsächlich gewonnen haben“.
Wenn andere im Feuer ins Schwitzen geraten, bleibt Viktoria Kickinger ruhig. Sie gibt selbst zu: Wenn sie ein Problem sieht – sei es
im Privaten oder in einem ihrer Aufsichtsratsposten –, dann ist sie „angefixt“. Dann weiß sie, dass sie hier richtig ist. „Meine Spezialität sind brachliegende Strukturen, ich baue sie wieder auf, bis sie funktionieren.“ Und wenn dann das Feuer gelöscht ist, gibt sie wieder ab. Es scheint so, als würde die ausgeglichen wirkende 70-Jährige das Chaos und die Probleme brauchen. „Aus jedem Chaos – und das ist das, was mich so interessiert – entsteht eine neue Ordnung.“ Sie habe immer gerne Dinge übernommen, die nicht in Ordnung waren, oder auch neue Dinge erfunden, wenn alte nicht mehr funktionierten. „Ich habe sie aufgebaut und abgegeben, wenn sie fertig waren; wenn es darum ging, es dann nicht mehr zu gestalten, sondern zu verwalten.“ Denn sie sei eine Gestalterin, eine Kreative, sagt Kickinger selbst über sich.
Und sie wurde getestet. „Das waren nie Sonnenschein-Mandate, wo man viermal im Jahr hingeht und sagt: „Ja, alles in Ordnung.“
Das Schicksal habe ihr immer sehr schwierige Mandate beschert, aber sie habe es gern gemacht und es sei auch immer alles gut ausgegangen. Und weil die Mandate sehr zeitintensiv waren, sei sie dann „eigentlich durch Zufall“ in eine hauptberufliche Aufsichtsratstätigkeit geraten.
Ab 2005 übernahm Kickinger Aufsichtsratsmandate mit einem breiten Branchenspektrum – von Automotive und IT bis Wissenschaft und Kultur. Sie saß im Aufsichtsrat der Volksoper Wien, des Burgtheaters und der Wiener Staatsoper und ist bis heute Aufsichtsrätin des österreichischen Automobilzulieferers und Kunststoffverarbeiters Polytech.
Ihre Erfahrung gibt sie weiter: 2013 startete sie den Director’s Channel, einen Online-Fernsehsender für Aufsichtsräte, dessen Geschäftsführung sie bis heute innehat. 2016 gründete sie Directors Academy, das Aufsichtsratsportal für die Aus- und Fortbildung von Aufsichtsräten in Deutschland. Auch dort ist sie Geschäftsführerin.
Aber wie wird man eigentlich Aufsichtsrat? Kickinger: „Im Prinzip wird jemand Aufsichtsrat, der bereits eine berufliche Karriere hinter sich hat, in der er viele Erfahrungen mit Geld und Personal gesammelt hat, beides womöglich in großer Menge. Auch hat derjenige schon gelernt, Entscheidungen zu treffen und zu seinen Entscheidungen zu stehen.“ Aktiengesellschaften müssen neben dem Vorstand einen Aufsichtsrat bestellen; dieser Aufsichtsrat handelt auf Wunsch der Eigentümer. Auf der einen Seite beaufsichtigt der Aufsichtsrat die Geschäftsgebarung, auf der anderen Seite bringt er sich in diffizilen Situationen mit Rat und Tat ein. Der Aufsichtsrat hat selbst auch einige Pflichten: Er bestellt etwa die Geschäftsführung. „Hier ist er natürlich besonders gefordert“, sagt Kickinger – „ist die Geschäftsführung gut gewählt, dann geht es dem Unternehmen gut.“ Der Aufsichtsrat beschließt auch den Jahresabschluss, das heißt, er prüft das Zahlenwerk des Vorstands. Und dann geht es an die Hauptversammlung. Das kann hitzig werden, weil Investoren hier das Recht haben, Fragen zu stellen und Kritik zu üben. Wichtig ist hier auch, dass die Aufsichtsräte ihr Netzwerk nutzen, wenn es ums Lobbyieren geht, oder darum, ein Problem mit einem anderen Unternehmen zu lösen, so Kickinger. „Es entsteht eine Beziehung zwischen den Aufsichtsräten untereinander und dem Unternehmen.“
„Einen guten Aufsichtsrat macht aus, dass er sich wirklich ausschließlich am Wohl des Unternehmens orientiert, das Wort Aufsichtsrat steht nicht auf seiner Visitenkarte. Er macht es, weil er etwas weiterzugeben hat aus seinem Erfahrungsschatz. Und er hat ausreichend Zeit, sich um diese Unternehmen tatsächlich ernsthaft zu kümmern“, so Kickinger. Wichtig sei, dass man ganz klar eine Meinung habe und zu dieser Meinung stehe. Der Aufsichtsrat nimmt an jeder Aufsichtsratssitzung teil, und immer auch an der Hauptversammlung. „Der gute Aufsichtsrat kümmert sich aber auch zwischendurch um das Unternehmen“, so Kickinger. Das heißt, er überprüft monatlich die Berichte, also die Zahlen, und stimmt sich regelmäßig ab, sodass er ständig am Laufenden ist. Und der gute Aufsichtsrat bringt auch Input ein, stellt Fragen.
Der eine wartet, bis die Welt sich wandelt, der andere packt sie kräftig an und handelt.
Viktoria Kickinger
Zum Beispiel jene, ob es nicht an der Zeit wäre, eine Frau in den Rat einzubestellen, denn Aufsichtsräte im DACH-Raum sind größtenteils männlich. Von den derzeit 529 Aufsichtsratsmitgliedern der im Wiener Börse Index notierten österreichischen Unternehmen waren im März 2022 nur 157 weiblich – und damit ist die Zahl seit August 2021 bereits gewachsen, von 28,7 % auf 29,7 %. Kickinger war vor allem in Deutschland tätig. Dort sitzen 180 Frauen in Aufsichtsräten; damit ging der Frauenanteil im Ranking der mächtigsten Aufsichtsräte 2021 von 20 % auf 10 % zurück. Unter den Top 30 waren 2021 somit insgesamt nur fünf Frauen.
Das Problem sei die mangelnde Unterstützung am Anfang der Karriere. Kickinger: „Ich finde, dass die Diskussion um Frauen in Aufsichtsräten am falschen Ende beginnt. Denn wenn eine Frau im Aufsichtsrat ist, dann hat sie ihre Karriere eigentlich schon hinter sich.“ Sie habe sich ja alles bereits erboxt und erarbeitet; die jüngeren Frauen aber, die könnten noch Neues beitragen.
Und dann schwenkt sie hin zu einer privaten Anekdote: „Die Familie meines Sohns lebt in Schweden und ich bin sehr oft dort. Deshalb sehe ich sehr intensiv, wie es eine Volkswirtschaft und die Gesellschaft beeinflusst, wenn man überhaupt nicht zwischen Mann und Frau unterscheidet.“ Heißt konkret: Beide gehen in Karenz, beide kümmern sich um den Haushalt, beide gehen die Kinder aus der Schule und dem Kindergarten abholen, beide haben alle Möglichkeiten. Es gebe aber im deutschsprachigen Raum weiterhin das Problem in der Gesellschaft, die immer noch eine Frau schief anschaue, wenn sie sich für die Karriere entscheide. „Eine Frau sagt sich dann: ‚Vielleicht schaue ich mal, wie weit ich komme im Berufsleben.‘“ Man könne ja nicht planen, Generaldirektorin zu werden, aber wichtig sei, dass eine Frau entscheiden kann, dass sie diesen Weg gehen und den Mann so weit einbinden will, dass beide gleich stark für die Kindererziehung verantwortlich sind. Aber die Rahmenbedingungen in Deutschland seien nicht so glücklich, dass man sich auch wirklich auf Kindergärten und Sonstiges verlassen könne. Genau deshalb spiele der richtige Partner eine Rolle. „Die Männer, die wir heiraten, sind ja nicht mit dem Zufallsgenerator auf uns gestoßen, sondern wir haben sie uns aktiv ausgesucht. Und wir haben uns, wenn wir Karriere im Hinterkopf haben, sicher einen ausgesucht, bei dem wir wissen: Der hilft im Haushalt, der hat Verständnis, der ist stolz auf seine Frau. Also die Wahl des Mannes spielt schon eine große Rolle. Und das Mindset“, fügt Kickinger hinzu.
„Mich rufen immer wieder Frauen an und sagen, sie hätten Aufsichtsratsmandate angeboten bekommen und sind sich nicht sicher, ob sie diese annehmen sollen, ob sie das können. Und dann sage ich: ‚In der Sekunde, in der Sie sich entschlossen haben, zu zögern, haben Sie schon alles verspielt. Denn Männer sind nicht so zögerlich!‘“, schildert Kickinger.
Verlässt sie selbst mal der Mut? „Nein, nein, der Mut verlässt mich tatsächlich nie. Auch in den schwierigsten Situationen habe ich immer noch Mut und Zuversicht“, sagt die promovierte Philosophin. Sie ist unerschütterlich im Angesicht von Schwierigkeiten.
Das Unerschütterliche ist Teil einer bekannten philosophischen Schule: Die Stoiker glauben an das Schicksal; Weisheit besteht ihrer Ansicht nach darin, den Platz zu akzeptieren, der einem im Universum zugewiesen wurde. Noch in der heutigen Sprache gibt es mit „Ertrage und enthalte dich“ (lat.: Sustine et abstine) und „Gerate durch nichts aus der Fassung“ (Nihil mirari) Formulierungen, die diese Weisheit zusammenfassen und den Geist der Stoiker erhalten. Kickinger scheint eine Stoikerin mit Anpack-Charakter zu sein. „Der eine wartet, bis die Welt sich wandelt, der andere packt sie kräftig an und handelt“, sagt sie. In diesem Anpacken steckt einerseits der Wille, zu gestalten, andererseits aber auch eine große Ruhe.
Regelmäßiges Durchatmen ist jedenfalls eines der Geheimnisse für Viktoria Kickingers Erfolg. „Ich brauche Sauerstoff im Blut. Angst ist oft ein großes Hindernis auf dem Weg zur Lösung, aber nicht bei mir. Ich bin da weitestgehend angstfrei, weil ich so eine Freude auf dem Weg dorthin habe“, so die 70-Jährige.
Viktoria Kickinger ist Gründerin und Geschäftsführerin der Directors Academy. Sie ist eine erfahrene Aufsichtsrätin und Expertin für digitale Aus- und Weiterbildung von Aufsichtsräten in Deutschland. Die promovierte Philosophin war während ihrer Managementkarriere für große Staatskonzerne tätig. Zuletzt leitete sie das Generalsekretariat der Österreichischen Post, wo sie für die Konzernentwicklung und -strategie zuständig und wesentlich am Börsengang beteiligt war. Seit 2005 übernimmt Kickinger Aufsichtsratsmandate mit einem breiten Branchenspektrum – von Automotive und IT bis zu Wissenschaft und Kultur.
Fotos: Gianmaria Gava