Die Kapitänin geht von bord

Nach fast acht Jahren an der Spitze der Vienna Insurance Group nimmt Elisabeth Stadler im Sommer 2023 Abschied. Unter ihrer Führung festigte das Unternehmen seine Stellung als größter Versicherer in Zentral- und Osteuropa. Mit Stadler geht auch die einzige Frau an der Spitze eines ATX-Unternehmens – doch wie sieht die Niederösterreicherin ihren Abschied? Und welche Fragen beschäftigen sie bis zu ihrem Ausscheiden nächstes Jahr am meisten?

Wenn Elisabeth Stadler im Sommer 2023 offiziell von ihrem Posten als CEO der Vienna Insurance Group (VIG) abtritt, darf sie auf eine stolze Vita zurückblicken: 40 Jahre im Versicherungsgeschäft, davon 20 Jahre in Vorstandsfunktionen und zwölf Jahre als CEO. „Versichern heißt, Menschen vor täglichen Gefahren zu schützen – und das ist eine schöne Aufgabe“, so ­Stadler, als wir sie im Wiener Ringturm zum vorgezogenen „Abschieds­interview“ treffen.

Als Karrierehöhepunkt ­bezeichnet Stadler „ohne ­Frage“ den CEO-Posten bei der VIG. Das ist nicht weiter überraschend, ist die VIG doch die größte Ver­sicherungsgruppe in Zentral- und ­Osteuropa. Die 25.000 Mitarbeiter des börsennotierten Unternehmens ­erwirtschafteten 2021 einen ­Umsatz (also verrechnete Versicherungsprämien) in der Höhe von elf Mrd. € sowie ein Ergebnis vor Steuern von 511,3 Mio. €. Zwar bewegte sich der Aktienkurs seit Stadlers Antritt am 1. Januar 2016 weitgehend seitwärts respektive ­sogar leicht nach unten – von 24,04 € auf zuletzt 21,5 € –, doch ihre ­Ziele habe sie stets erreicht, wie sie betont.

„Wir haben es immer geschafft, unsere Ziele zu erfüllen, außer im Jahr 2020, wo wir wegen der Covid-­Pandemie keine Steigerung zum Vorjahr erreichen konnten. Aber auch da haben wir ein deutlich positives Ergebnis erzielt“, sagt Stadler. Und tatsächlich hat sie die Ziele der „Agenda 2020“, eines von ihr bereits 2016 ins Leben gerufenen Arbeitsprogramms für die VIG, relativ punktgenau erreicht – wenn auch mit einem Jahr Verspätung.

Versichern heißt, Menschen vor täglichen Gefahren zu schützen – und das ist eine schöne Aufgabe.

Elisabeth Stadler

Doch nach dem Ziel ist vor dem Ziel, und so arbeitet Stadler bis zu ihrem Ausscheiden mit ihren Kollegen bereits am Programm „VIG 25“. Die VIG will sich damit noch stärker auf ihre Kernmärkte fokussieren – und dort die Marktführerschaft ausbauen. Damit das gelingt, will der Versicherungsriese in allen Kernmärkten unter den Top-Drei-Versicherern sein (Ausnahme: Slowenien). Zudem soll „nachhaltiger Wert“ geschaffen werden, womit eine Solvenzquote von 150 bis 200 % gemeint ist, sowie eine Combined Ratio, die bis 2025 unter 94 % geht (die Combined Ratio stellt die Kosten für Schadensfälle sowie deren Verwaltung in Relation zu den eingenommenen Prämien und ist somit eine Kennzahl der Profitabilität von Versicherungsunternehmen). Und: Die VIG will mehr Nähe zu ihren Kunden sowie einen noch stärkeren Fokus auf die ESG-Ziele (Environmental, Social, and Governance, Anm.).

Wie schwierig es aktuell ist, Ziele festzulegen, fällt auch beim Vergleich der beiden Arbeits­programme auf: Während die Agenda 2020 über ganz konkrete quantitative Ziele kommuniziert wurde, werden beim Programm VIG 25 qualitative Messgrößen in den Vordergrund gerückt. „Das stimmt“, sagt Stadler – und sei vor allem der unsicheren Gesamtlage geschuldet: „Im Moment ist es etwas schwierig, Zahlen zu kommunizieren. Wir haben so viele Faktoren zu berücksichtigen, dass wir momentan vorrangig qualitativ kommunizieren.“

Diese Zahlen wurden zuletzt vom Vorstand auch wieder einer Prüfung unterzogen – und trotz Energiekrise, enormer Inflation und Wertschöpfungsketten, die unter Druck stehen, hat die VIG entschieden, an ihren Zielen festzuhalten. Eine Ausnahme gibt es jedoch: Die Wachstumsprognose in der Ukraine wurde deutlich nach unten geschraubt. Mit 1.400 Mitarbeitern und rund 100 Mio. € Prämien­volumen ist die Ukraine zwar bei Weitem nicht der größte Markt der VIG, doch das Land hätte einer der Wachstumstreiber im Portfolio werden sollen. Der Angriffskrieg durch Russland macht das jedoch unmöglich. „Diesen Markt hatten wir mit überproportionalem Wachstum definiert. Aktuell ist es uns aber wichtiger, dass es unseren Kollegen dort gut geht“, so Stadler. Abschreiben will sie die Ukraine aber nicht: „Das wäre das falsche Signal.“

Aber nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte politische Situation in Europa bereitet Stadler Sorgen. „Ich bin durchaus beun­ruhigt. Seit ich auf der Welt bin, hatten wir noch nie so kritische Zeiten wie jetzt“, sagt sie. Denn instabile politische Verhältnisse bedeuten für das Unternehmen auch, dass sich Ansprechpartner in Regierungen regelmäßig ändern, was die Zusammenarbeit nicht gerade vereinfacht. Märkte wie die Ukraine, aber auch Polen, Italien oder der „Spezialmarkt“ Türkei erleben politisch und wirtschaftlich stürmische Zeiten.

Die Versicherungsdichte sei in vielen Märkten zwar bei Weitem nicht so hoch wie in Österreich, sagt Stadler; manche liegen nur bei einem Zehntel von Österreich. Doch eine höhere Versicherungsdichte benötigt zumeist steigenden Wohlstand, und der braucht wiederum günstige politische und wirtschaft­liche Rahmenbedingungen. Trotz der unsicheren Zeiten setzte die VIG zuletzt aber auf Wachstum: 2020 schloss der Versicherer – quasi aus dem Homeoffice – den zweitgrößten Zukauf der Unternehmensgeschichte ab. Die VIG kaufte das Zentral- und Osteuropageschäft des niederländischen Versicherers Aegon. Der Kaufpreis von 830 Mio. € umfasste das Versicherungsgeschäft von Aegon in den Märkten Ungarn, Polen, Rumänien und Türkei.

Wenn man zufrieden ist und einem nichts leidtut, muss man auch nichts anders machen.

Elisabeth Stadler

Insbesondere in Ungarn ­präsentierte sich der Deal aber als kompliziert: Nach positiven Sig­nalen aus dem Finanzministerium blockierte das ungarische Innen­ministerium den Deal vorüber­gehend, bis Ende 2021 schließlich eine Einigung erzielt wurde. Nun sind 45 % der Versicherungsgesellschaft im Besitz der ungarischen ­Regierung, die VIG übernimmt mit 55 % die Mehrheit und die operative Kon­trolle des Unternehmens.

Doch gerade Ungarn wird auf EU-Ebene aktuell heftiger diskutiert als jeder andere Mitgliedsstaat, denn dem Land könnten aufgrund von Verletzungen der Grundrechte sowie Rechtsunsicherheiten 7,5 Mrd. € an EU-Subventionen gekürzt werden. Ist Stadler dadurch beunruhigt? „Natürlich schauen wir auf Ungarn ganz besonders, da wir dort gerade ­einen großen Zukauf getan haben. Gemeinsam mit der Regierung wird es uns aber gelingen, den ungarischen Versicherungsmarkt zu beleben. Gerade Lebensversicherungen sind in Ungarn noch eher unterentwickelt, da können wir extrem viel Know-how mitbringen; ebenso im Bereich Krankenversicherung.“

Für Stadler wäre selbst ein EU-Austritt eines von der VIG besetzten Marktes – etwa Ungarns – keine rote Linie: „Wir sind auch in Märkten aktiv, die nicht in der EU sind. Wir müssen unserer Verpflichtung nachkommen, den Menschen Versicherungslösungen anzubieten. Ich denke, es wäre das falsche Signal, wenn wir damit einfach auf­hören würden.“

Aus Russland hatte sich die ­Gesellschaft bereits 2014, nach der Annexion der Krim, ­zurückgezogen. Hier findet Stadler klarere ­Worte, auch wenn sie wiederum auf die Spezialrolle von Versicherungen hinweist: „Ich halte die Sanktionen (gegen Russland, Anm.) für richtig – aber man darf nicht auf die Bevölkerung vor Ort vergessen.“

Gerade angesichts dieser Herausforderungen fühlt sich ­Stadler aber mit der Strategie der VIG wohl. Denn statt mit nur einer Marke in allen Ländern aktiv zu sein, setzt die VIG auf eine Mehrmarkenstrategie. Der „Vorname“, wie Stadler es beschreibt, ist jener der lokalen Versicherungsgesellschaft; der „Nachname“ ist Vienna Insurance Group. „Das zeigt, dass die Unternehmen eine finanzkräftige Mutter haben, die im Fall der Fälle einspringen kann. Gleichzeitig firmieren sie aber als lokale Gesellschaften“, so Stadler. Die Unternehmen und lokalen Manager würden ihren Markt kennen. Stadlers Maxime: So viel Freiheit wie möglich, so wenig Kon­trolle wie nötig. Doch wenn jemand vom Kurs abkommt, werden die Zügel auch mal angezogen, so die CEO: „Solange die Gesellschaften ihre Ziele erfüllen, ist alles okay. Wenn nicht, dann spüren mich die Kollegen aber sehr intensiv.“

Elisabeth Stadler (Jahrgang 1961) studierte Versicherungsmathematik an der TU Wien. Von 2014 bis 2016 war sie Generaldirektorin der Donau Versicherung, seit 2016 steht sie an der Spitze der VIG Holding. Ab 2023 wird sie ebendort in den Aufsichtsrat wechseln.

Die Größe der VIG ­bringe durchaus Vorteile mit sich, sagt Stadler, auch hinsichtlich der Profitabilität. Denn da hinkt die VIG noch ein wenig hinter vergleich­baren Unternehmen her. Während die Uniqa 2021 eine Combined Ratio von 93,7 % ­erreichte, hatte die deutsche Allianz einen Wert von 93,8 %. Die VIG lag zuletzt bei 95 %. Stadler: „Der erste Hebel ist immer die Größe. Je größer man ist, desto eher kann man Scaling-Effekte ausnutzen.“ Hinzu kommt laut ihr die Optimierung, etwa in der IT oder Administration, und die Erweiterung des Versicherungsgeschäfts, etwa durch Assistenzleistungen wie das Abschleppen defekter Autos.

Überhaupt seien die Zahlen aber aktuell mit Vorsicht zu genießen. Denn die Einführung des neuen Bilanzierungssystems IFRS 17 würde auch zu Änderungen in der Berechnung führen. Auch die Combined Ratio, eine der wichtigsten Kennzahlen in der Versicherungsbranche, wird dann anders definiert.

Das wird Stadler jedoch nicht mehr mitverantworten – zumindest nicht als CEO. Denn ihr Nach­folger steht quasi in den Startlöchern: ­Vize-Konzernchef Hartwig Löger, der vor seinem Eintritt in die VIG Finanzminister und für kurze Zeit auch Bundeskanzler war, soll von Stadler übernehmen. Die Bestellung ist nur noch Formsache.

Stadler selbst wird der VIG ab 1. Juli 2023 aber weiterhin zur Verfügung stehen, denn sie bleibt in Aufsichtsratsfunktionen in der VIG. Ansonsten wolle sie sich aber auch ihrem Garten sowie mehr Kultur und Sport widmen, wie sie sagt.

Bereuen würde sie nichts, sagt Stadler. Würde sie etwas anders machen, wenn sie noch einmal die Chance bekäme? „Eigentlich nein. Wenn man zufrieden ist und einem nichts leidtut, muss man auch nichts anders machen.“ Und auch ein anderes Thema, das Stadler nie aktiv vorangetrieben hat, das für sie aber dennoch unausweichlich war, wird bei ihrem Abschied mitschwingen: Denn Stadler war die längste Zeit der einzige weibliche CEO in einem Leitindex-Unternehmen im deutschsprachigen Raum. Heute führt die Spanierin Belén Garijo den Dax-Konzern Merck, aber sonst ist in dieser Hinsicht nur Leere zu sehen. Wir fragen Stadler zum Ende des Interviews, ob ihr das Thema schon zum Hals heraushängt. Sie überlegt kurz, bevor sie sagt: „Natürlich wird es immer wieder thematisiert. Ich glaube aber, dass das auch notwendig ist. Wenn man sich die letzten Jahre ansieht, hat sich schon etwas bewegt, es geht halt nur sehr langsam. Ich versuche, voranzugehen, engagierte Damen zu motivieren, damit sie über den Tellerrand blicken, aufzeigen und sich etwas zutrauen.“

Fotos: Katharina Gossow

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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