DIE GANZE GESCHICHTE

Atlas Obscura wirbt damit, weltweit 23.206 kuriose Orte zu kennen. Das ehemalige Nischenprojekt erwirtschaftet heute Millionenbeträge – und arbeitet sich sehr erfolgreich durch eine der größten Krisen der internationalen Reisebranche. Wie gelingt das?

Es ist noch nicht lange her, dass ­Gruppen von Atlas-Obscura-­Reisenden uralte Ruinen in Tune­sien bestaunten oder sich Siziliens verborgenen Schönheiten wid­meten. Im Angebot: 82 Tripsmit Preisen zwischen 635 und 9.395 US-$. Nur: Wie sollen Tou­risten solche Reisen in Coronazeiten unbeschwert buchen? Diese Sorge treibt das Unternehmen hinter der gleichnamigen Plattform Atlas Obscura um. Denn was bedeutet die Krise für ein Unternehmen, das sich auf außer­gewöhnliche Reisen fokussiert hat, wenn die globale Branche sogar Schwierigkeiten hat, ganz normale Städtetrips an die Kunden zu bringen?

Es war wohl der neue CEO Warren Webster, der frische Ideen in das junge Unternehmen brachte. In einem Interview mit „media­masters.fm“ sagte Webster dazu: „In der Vergangenheit hat Atlas Obscura viel Zeit damit verbracht, die Marke und die Inhalte aufzubauen, und sich nicht so sehr um die geschäftliche Seite gekümmert.“ Nun also der geschäftliche Part: Ein Einfall war es, eine Markenpartnerschaft für den Launch eines neuen Modells der japanischen Auto­marke Nissan einzugehen. Mitten im US-Winter gingen die Nutzer mit dem Nissan Rogue an ungewöhnlichen Orten auf Tour – so­genannte Rogue Routes. Kostenpunkt: 55 US-$ pro Tour. Was Atlas Obscura durch die schweren Zeiten der Krise hilft, ist eine sehr leidenschaftliche Fangemeinde, und die ist immer dazu bereit, auf frischen Spuren zu wandeln.

Aber zahlt sich das auch wirtschaftlich aus? Firmenchef Webster nennt keine konkreten Umsatzzahlen, spricht in einem Artikel aber von Einnahmen im „mittleren achtstelligen Bereich“. Beeindruckend, denn damit wäre ihm das wohl beste Jahr in der Unternehmensgeschichte geglückt. Zur Erinnerung: 2009 waren die Gründer Joshua Foer und Dylan Thuras auf die Idee gekommen, den ungewöhnlichen Branchen­neuling zu schaffen.

Foer erinnert sich im Here Magazine an die Anfänge: „Wir sind beide von Natur aus neugierig, und sobald man anfängt, an den Fäden seiner Neugierde zu ziehen, führt sie einen oft an ungewöhnliche Orte. Wir riefen Atlas Obscura als eine Art Kunstprojekt ins Leben – und von da an wuchs es einfach.“

Dass auch Investoren an die Idee hinter Atlas Obscura glauben, zeigen andere Zahlen. So wurden in früheren Finanzierungsrunden zwölf Millionen US-$ eingesammelt; Geldgeber waren unter anderem die New York Times und der Risikokapitalfonds New Atlantic Ventures. Im Herbst 2019 führte das Reiseunternehmen Airbnb eine 20 Millionen US-$ schwere Finanzierungsrunde an.

Summiert man alle Mittel, so kamen bisher über 30 Millionen US-$ an Fremdkapital zusammen. Dies gelang in einem durch die leidige Pandemie massiv geschwächten Reisemarkt. Heute hat sich das Angebot seinen Platz in der überfüllten Reisemedienlandschaft erobert: 470.000 Nutzer folgen dem Twitter-Kanal, 1,46 Millionen Nutzer haben die Facebook-Seite abonniert. Dazu kommen mehrere veröffentlichte Reise­bücher, die sich sehr gut verkaufen, und – in normalen Zeiten – auch die Erlebnisreisen.

„In der Vergangenheit hat sich Atlas Obscura nicht so sehr um die geschäftliche Seite gekümmert“, so CEO Warren Webster.

Doch neben der Coronavirus-Pandemie hat Atlas Obscura noch eine andere Herausforderung zu meistern. Im Zuge der „Woke-Bewegung“ – die die NZZ als „höhere Form von Bewusstsein in Bezug auf den prekären Zustand der Welt“ erklärt – interessieren sich Nutzer heute vermehrt für die Schatten­seiten der auf Atlas Obscura gezeigten Objekte. Bei den „Benin-Bronzen“ ist die Sache eindeutig: Dazu gehören Tausende Skulpturen, die seit dem 16. Jahr­hundert den Herrscherpalast des Königreichs Benin in Westafrika schmückten – im Zuge der Kolonialisierung wurden sie als erbeutete Kunst nach Europa geschafft. Was haben solche Preziosen in unseren Museen verloren?

Ein vergleichbares Thema: Weshalb gibt es in München die „Von-Trotha-Straße“? Adrian Dietrich Lothar von Trotha war jener preußische General, der Anfang des 20. Jahrhunderts in Namibia Tausende Menschen vom Stamm der Herero zu Tode foltern ließ. Er sagte: „Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strömen von Geld.“ Oder blicken wir nach New York: Dort liegt in der Academy of Medicine ein Kiefer, der wohl George Washington gehörte. Doch die Schachtel, in der der Knochen ruht, enthält laut New York Times auch einige Zähne. Diese könnten von Sklaven stammen, die für die Familie Washington arbeiteten – und schon trübt sich der Blick auf diese Geschichte. Deshalb initiierte Atlas Obscura das Projekt zur „Entkolonialisierung“: Tausende Beiträge aus aller Welt werden in dessen Rahmen um Details und Hintergründe ergänzt.

Viele Touristen wollen etwa auch an einem Ort wie den ehemaligen chilenischen Salpeterminen etwas über die sklavereiähnlichen ­Zustände und das große Leid erfahren, das Tausende Arbeiter dort erlebten. So gab es den Lohn nur in Form von Aluminiumchips, deren Gültigkeit am jeweiligen Anlagenzaun endete. Für den Nachschub an Arbeitskräften ließen skrupellose Drücker in Bars im fernen Santiago betrunkene Bürger die vorgelegten Verträge unterzeichnen. Tags darauf fanden sich die armen Kerle im rollenden Zug in die Wüste wieder. Bisher fehlten jene Hintergründe bei der Beschreibung der Orte auf der Atlas-Obscura-Netzseite.

Wenn die Macher von Atlas Obscura bald die teils schreckliche Vergangenheit in den grellen Schein der Gegenwart holen, sie neu beleuchten und einordnen, dann profitieren alle davon – die ana­logen oder digitalen Besucher der obskuren Orte ebenso wie die Menschen, deren dunkle Schicksale nicht mehr in Vergessenheit ver­harren, sondern publik werden. Atlas Obscura ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Unternehmen versucht, kulturellen Veränderungen gerecht zu werden. Wenn sich das dann auch im Umsatz niederschlägt, umso besser.

Text: Matthias Lauerer
Fotos: Atlas Obscura

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 7–21 zum Thema „Smart Cities“.

Forbes Editors

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