Deutsche Ikone, Reloaded

Siemens startet im Rahmen der „Vision2020+“ eine fundamentale Umstrukturierung. Mittendrin: Personalvorständin Janina Kugel.

Im November 2018, als wir Janina Kugel auf unser Cover setzten, war die Deutsche noch Personalchefin bei Siemens – und war zuletzt für 385.000 Mitarbeiter verantwortlich. Ende Januar 2020 verließ Kugel den Konzern und ist heute als Speaker, Advisor und Non- Executive Board Member tätig. Einen neuen Vorstandsposten, so Kugel, strebe sie vorerst nicht an.

Mitten im Interview dreht Janina Kugel den Spieß um. „Machen Sie die Augen zu“, sagt Kugel plötzlich, inmitten einer Antwort. „Und stellen Sie sich den besten Chef oder die beste Chefin vor, die Sie je hatten.“ Einen Augenblick lang denken wir an Widerstand, Protest, Einspruch. Doch dann schließen wir die Augen. „Woran haben Sie gedacht?“, will Kugel wissen. Wir antworten, dass gute Chefs ihren Mitarbeitern die richtigen Aufgaben und den nötigen Raum geben, um zu wachsen. „Genau“, sagt unser Gegenüber, die die Gesprächsführung abgibt, um wieder zu antworten. „Bei Erinnerungen geht es immer um Emotionen, nicht um monetäre Finanzgrößen. In diesem Fall eine gewisse Freiheit zu wachsen, nicht ein besonders hoher Aktienkurs. Denn was bedeutet Führung? Menschen zu motivieren, sie an ein Ziel zu bringen.“

Als Personalvorständin eines der größten deutschen Unternehmen hat sich Kugel natur­gemäß Gedanken gemacht, was ein guter Chef können muss und wann Mitarbeiter einem Chef folgen. 379.000 Mitarbeiter zählt Siemens weltweit, die der 48-Jährigen zwar nicht alle direkt reporten, aber für die sie letztendlich verantwortlich ist. Kugel: „Die Führungskraft von morgen muss unterschiedliche Rollen einnehmen können, egal ob Chef, Influencer oder Engagement Officer. Diese Agilität, nicht ‚entweder – oder‘ zu sein, sondern beides, ist für viele Menschen neu.“

Die Herausforderung besteht aber nicht nur für die Führungskräfte, sondern auch für Siemens insgesamt. Denn im Rahmen der „Vision2020+“ reagiert der deutsche Industrieriese, der 2018 83 Milliarden € Umsatz und einen Gewinn nach Steuern von 6,12 Milliarden € erzielte, auf die Herausforderungen der digitalen Transformation. Siemens gibt den einzelnen Geschäftsbereichen mehr Eigenverantwortung, um so Effizienz und Flexibilität zu steigern. Im Konkreten vereint man unter der Dachmarke Siemens sechs „Subunternehmen“, drei davon sind völlig eigenständige Strategic Companies: Siemens Healthineers (Medizintechnik), Siemens Gamesa Renewable Energy (erneuerbare Energie) und die geplante Siemens Alstom (Bahntechnik; vorbehaltlich behördlicher Genehmigung, Anm.). Drei weitere Sparten werden zu Operating Companies: Gas and Power, Smart Infra­structure und Digital Industries. Die schlankere Struktur soll laut Siemens-CEO Joe Kaeser „Werte schaffen“. So könnten die Sparten, wie zuletzt ­Healthineers, eigenständig an die Börse gehen. Konkrete Zahlen gibt Siemens jedoch nicht aus: Die operative Marge soll zwar steigen, wenn für 2019 auch weiterhin „nur“ ein Wert von elf bis zwölf Prozent angepeilt wird (ohne Berücksichtigung von Aufwendungen für Personalrestrukturierung, Anm.). Auch beim Umsatz spricht der Konzern lediglich von einem „moderaten Wachstum“.

In der Zentrale werden in Zukunft nur noch Themen wie Finanzen, Governance & Markets, Recht und Compliance, Personalwesen und Kommunikation behandelt. Doch der Plan hat auch Schwächen. Denn als eine Art „Holding“ (auch wenn dieses Wort bei Siemens bewusst niemand in den Mund nimmt) könnte die Summe der Einzelteile wertvoller als das Konglomerat sein, was etwa aktivistische Investoren auf den Plan rufen könnte. Kritiker nennen das Beispiel von ThyssenKrupp, das durch Aufkäufe und Abspaltungen nie eine Einheit wurde. Befürworter sehen hingegen einen sinnvollen Schritt in die digitale Zukunft und erhoffen sich starke Dividenden und niedrigere Kosten. Klar ist, dass die Neuausrichtung eine Zäsur bedeutet: In der Vergangenheit lautete die Antwort auf strategische Herausforderungen bei Siemens zumeist „Wachstum“. Nun wird erstmals im großen Stil verschlankt. Ein wichtiger Teil dieser neuen Identität ist Janina Kugel. Viele Beobachter sehen sie als Nummer zwei bei Siemens, als Vertreterin eines jüngeren, modernen Anstrichs für den 170-jährigen Indus­trieriesen. Doch wie sehr hängt der Erfolg des Unternehmens tatsächlich von Individuen wie Janina Kugel ab?

Janina Kugel
studierte Volkswirtschaft an den Universitäten Mainz und Verona und startete ihre Karriere 1997 bei Accenture. Seit 2001 ist Kugel (48) für den Siemens-Konzern tätig. Im Februar 2015 wurde sie in den Vorstand berufen und ist seither als CHRO für 379.000 Mitarbeiter weltweit verantwortlich.

CHRO@Siemens. Passion for Leadership, Diversity and Inclusion, Education and Society. Woman and mother. All views are my own.“ So lautet die Beschreibung des Twitter-Accounts @janinakugel. Und damit wirft die Deutsche all jene Themen auf, die auch unser Interview dominieren. So lässt sich die erwähnte Führung von morgen für Kugel beispielsweise nicht von Diversität und Inklusion (D&I) trennen. Denn die Probleme homogener Teams sind für Kugel vielschichtig: „Wir glauben immer, Daten sind objektiv. Doch die sind nur so objektiv wie die Töpfe, aus denen sie gespeist werden.“ Und daraus ergibt sich laut der Deutschen ein ‚Unconscious Bias‘: „Wenn wir uns die Datenpunkte von Menschen ansehen, die bei Siemens erfolgreich ge­­­worden sind, würden wir herausfinden, dass das sehr europäische, sehr männliche Eigenschaften sind.“ In einer digitalen Welt überträgt sich diese Schwierigkeit auch in die Programmierungen, die wir vornehmen. Denn: „Mein Anliegen ist, dass die Teams all jener Organisationen, die Algorithmen programmieren, nicht verstehen, was Unconscious Bias ist und, dass die Programmier-Teams nicht divers sind. Nur mit gemischten Teams gelingt es, das Risiko unbewusster Vorurteile zu minimieren. Deshalb ist Diversity auch bei Themen wie Künstliche Intelligenz so wichtig.“ Auch Siemens muss in dieser Hinsicht noch seine Hausaufgaben machen: Im achtköpfigen Vorstand finden sich zwei Frauen (neben Janina Kugel auch die US-Amerikanerin Lisa Davis, die das Geschäftsfeld Energie leitet). Mit 25 Prozent Frauenanteil auf Vorstandsebene ist das vergleichsweise gut. Doch in anderer Hinsicht fehlt Diversität: Von den acht Vorständen stammt nur Lisa Davis nicht aus Deutschland – überraschend für einen Konzern, der laut eigener Website „in nahezu allen Ländern der Welt aktiv ist und 85 Prozent seines Geschäfts außerhalb Deutschlands macht“.

Die Kompetenzen wandern im Rahmen von „Vision2020+“ jedenfalls nach Übersee: Die Sparte Gas & Power wird in Zukunft gänzlich aus den USA (Houston, Texas) gesteuert, Smart Infrastructure bleibt in der Schweiz (Zug) angesiedelt, die Verantwortung für den vielversprechenden Bereich Digitale Industrien wird zur Erleichterung vieler deutscher Beobachter in Nürnberg verankert. Der Abzug großer Geschäftsfelder ließ einige Medien jedoch fragen, ob Siemens auch in Zukunft ein deutscher Konzern bleibt. Auch Birgit Steinborn, Chefin des Siemens-Gesamtbetriebsrats und stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende, warnte: „Die neue Ausrichtung darf nicht dazu führen, dass Marke und Identität von Siemens als vernetzter Technologiekonzern verloren gehen.“ Während aber ein Drittel der Mitarbeiter in Deutschland angesiedelt ist, kommen nur 14 Prozent des Umsatzes aus der Bundesrepublik. Kugel: „Ich bin nicht nur für die deutschen Mitarbeiter CHRO, sondern für alle Siemens-Mitarbeiter weltweit.“ Joe Kaeser schlug bei der Vorstellung des neuen Plans ähnliche Töne an: „Siemens ist in Deutschland geboren, in Europa aufgewachsen, in der Welt zu Hause.“

Und auch da greift für Kugel die Diversität. Denn einer der Gründe, warum Siemens umbaut, ist, weil eine größere Nähe zu den Regionen, wo die Kunden sind, erreicht werden soll. „Wir brauchen Mitarbeiter, die die lokalen Märkte und Kulturen verstehen. Wir können nicht nur Expats in die weite Welt schicken. Das ist eine Weiterentwicklung, die stattfinden muss. Global zu agieren, ohne die eigene Heimat jemals verlassen zu haben, ist schwierig.“ Wie sehr das auch den Vorstand betrifft, bleibt offen.

Laut Kugel sind aktuell zwei Profile bei Siemens besonders begehrt: Softwareingenieure – und Schweißer. Kugel: „Beides hat nicht wirklich viel miteinander zu tun, sind aber stark gesuchte Talente am Markt.“ Dass auch das Thema Education für eine Personalchefin im 21. Jahrhundert relevant ist, dürfte nicht verwundern. Angesichts von 379.000 Mitarbeitern, die im Rahmen einer breitflächigen Automatisierung ihre Jobs verlieren könnten, bekommt diese Frage eine ganz andere Wucht. Die Siemens-Vorständin ist dennoch optimistisch: „Es gab schon viele industrielle Revolutionen, grundsätzlich haben die immer zu mehr Beschäftigung geführt. Was jetzt anders ist, ist, dass diese vierte industrielle Revolution wahnsinnig schnell vorangeht. Daher müssen wir auch schneller reagieren.“

Kugels Ausbildung bereitete sie nicht auf ihre Rolle vor. Sie studierte Volkswirtschaft in Mainz und in Verona, mit dem Ziel, zu den Vereinten Nationen zu gehen. Doch die Stuttgarterin startete ihre Karriere 1997 dann bei Accenture, bevor sie 2001 bei Siemens anheuerte. Sie durchlief verschiedene Stationen, bevor sie 2009 zur HR-Direktorin in Italien und 2012 Chief Human Resources Officer bei der damaligen Siemens-Tochter Osram wurde. 2013 kehrte sie zur „Mutter“ zurück, 2015 wurde sie Vorstandsmitglied. Kugel wünscht sich in dieser Hinsicht ein breites Umdenken. „Ich würde mich freuen, wenn wir uns stärker auf Eignung fokussieren statt auf Ausbildung. Im angelsächsischen Bereich können Geschichte-Absolventen Investmentbanker werden. Ich selbst habe Volkswirtschaft studiert, weil ich dachte, ich gehe mal zu den Vereinten Nationen.“

Die Frage sollte vielmehr sein, was wir kontinuierlich lernen. Denn wenn sich ein Fräser heute für 3-D-Druck interessiert, hätte er keine Möglichkeiten, dieses „Fach“ zu lernen. Kugel fordert ein „Turnhallenprinzip“: Deutschland hätte es geschafft, dass die Mitgliedschaft in einem Turnverein im Vergleich zum Ausland besonders günstig ist. Und zwar, weil sich einerseits freiwillige Turnlehrer engagieren und der Staat andererseits diese Aktivität fördert. Kugels Idee: Unternehmen wie Siemens bieten nach Arbeitsschluss die Nutzung solcher Maschinen an, eventuell melden sich Abteilungsleiter freiwillig, um Kurse zu geben. Alle Menschen, die solche Kurse besuchen, erhalten vom Staat etwa einen Bildungsgutschein – als Förderungsmaßnahme. Doch wer trägt die Verantwortung für solche Initiativen? „Die Gesellschaft“, ­lächelt die Managerin.

Anzahl der Mitarbeiter nach Ländern (Stand: 2018)

Quelle: Siemens

*Zahlen gerundet, daher die Differenz in der Gesamtzahl

Welche gesellschaftliche Verantwortung von Siemens erwartet wird, zeigte sich zuletzt anschaulich. Als das Unternehmen verkündete, in den verlustreichen Divisionen Power and Gas sowie Process Industries and Drives (Antriebs- und Kraftwerkssparte, Anm.) weltweit 6.900 Posten, in der Kraftwerksparte Deutschland 3.400, streichen zu wollen, war der Aufschrei groß. Als klar wurde, dass dadurch auch der ostdeutsche Standort Görlitz geschlossen werden sollte, kochte die Debatte über. Medien fragten, ob gerade in einer Region, wo die Rechtsaußenpartei Alternative für Deutschland (AfD) erstarkt, Hunderte Arbeitslose verantwortet werden könnten. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sprach bei Siemens in München vor, die Siemens-Mitarbeiter vor Ort protestierten. Resultat: Görlitz bleibt, wird sogar zur „Zentrale für Industriedampfturbinen“. Deutschlandweit werden zudem „nur“ 2.900 Stellen abgebaut. Bei den Einsparungen (Ziel sind 500 Millionen €) hätte man dennoch keine Kompromisse gemacht.

Dass Siemens als deutsche Ikone genauer unter Beobachtung steht, ist klar. Kugel will dabei aber eines klarstellen : „Wir wissen, dass wir eine soziale Verantwortung haben. Doch wir tragen nicht allein die Verantwortung für eine gesamte Region. Da gibt es neben uns auch andere Unternehmen, die Politik und die Gesellschaft, die beitragen, ob eine Region erfolgreich sein kann.“ Die Grenze zur Politik verschwimmt bei Siemens auch für Führungskräfte schnell. Joe Kaeser bezog in einem Tweet klar Stellung gegen die AfD – und erhielt dafür Lob wie auch Kritik. Und verstärkte diese Meinung in einem Gastbeitrag auf Linkedin: „Ein CEO kann, darf, soll politisch sein. Manchmal muss er auch politisch sein.“ Kugel selbst sieht die Verantwortung beim Einzelnen: „Was hat man selbst für Werte? Irgendwann muss man persönlich entscheiden, wo man ein klares Statement macht.“ In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte sie etwa, dass Rassismus keinesfalls toleriert werden dürfe. Auch twittern würde sie meist selbst: „Ich will nicht in die Situation kommen, dass irgendjemand meinen Twitter-Acount bedient und etwas schreibt, was ich selbst nie geschrieben hätte.“

Vielleicht steht die nahbare Managerin tatsächlich sinnbildlich für das neue Siemens. Auch gegen Ende des Gesprächs betont Kugel, dass insbesondere Führungskräfte nicht ‚entweder oder‘, sondern ‚sowohl als auch‘ sein müssen. Lokal und global. Flexibel und beständig. Politisch und Wirtschaft. „Wir müssen immer beides verbinden.“ Das gilt schließlich auch für Siemens, denn auch das Unternehmen muss diesen Spagat hinbekommen. Doch da fängt wieder die Verantwortung des Einzelnen an: „Eine Organisation ändert sich nicht, denn die ist nur eine Zusammensetzung der einzelnen Menschen. Entweder die Menschen fangen an sich zu ändern, oder die Organisation wird sich nie ändern.“

 

Dieser Artikel ist sowohl in unserer November-Ausgabe 2018 „Europa“ als auch in der April-Ausgabe 2020 „Best Of“ erschienen.

Text: Klaus Fiala
Fotos: Thomas Dashuber

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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