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Nicki Donnelly ist seit einem Unfall im Jahr 2009 brustabwärts querschnittgelähmt. Mit einem Mal hatte sich ihr Leben durch den Schicksalsschlag komplett verändert – dank ReWalk kann sie nun wieder auf eigenen Beinen stehen.
Schnellen Schrittes kommt Larry Jasinski auf mich zu. Der CEO der US-Firma ReWalk, die Exoskelette herstellt, streckt mir entschlossen die Hand entgegen – und geht gleich in medias res: „Amit Goffer hat ReWalk 2002 gegründet. Er ist Elektroingenieur und wollte etwas entwickeln, um Querschnittsgelähmten Unabhängigkeit zurückzugeben.“ Jasinski erzählt von ReWalk und dem israelischen (selbst querschnittgelähmten) Gründer, der aus der eigenen Not heraus seinen Erfindergeist mobilisierte: Gemeinsam mit der Technischen Universität Technion in Israel hat Goffer das Produkt – eine einmalige Kombination aus einer Software, die den menschlichen Gang mimt, sowie neuartiger Batterietechnologie und Sensorik für die individuelle Kontrolle – entwickelt.
„2012, als Goffer demonstriert hatte, dass das System funktioniert, kam ich als CEO an Bord. Meine Mission ist es, ReWalk für Querschnittgelähmte auf der ganzen Welt verfügbar zu machen“, sagt Jasinski. Er wird von Nicki Donnelly begleitet. Sie sitzt im Rollstuhl – mit ihrem ReWalk-Exoskelett „Alex“ zeigt sie, wie die Technik funktioniert. Den Namen erhielt „Alex“ von ihrer Tochter – in Anlehnung an den Film „Robocop“, sagt die ehemalige Polizistin. „Ich wurde 2009 im Dienst verletzt und bin seither brustabwärts gelähmt“, erzählt Donnelly. In den letzten fünf Jahren habe sich ihr körperlicher Zustand extrem verschlechtert, schildert sie: „Ich habe meine Ehrungen erhalten und meine Marke zurückgegeben. Zwei Jahre verbrachte ich im Krankenhaus und lernte, mein Leben im Rollstuhl zu gestalten. Meine Tochter war, als ich den Unfall hatte, gerade erst drei Jahre alt. Ich versuchte mein Bestes als Mutter. Das war sehr schwer für mich. An ihrem fünften Geburtstag wünschte sie sich, dass ich wieder gehen würde.“ 2016 kam ReWalk mit einem Sponsor auf die heute 33-Jährige zu. „Ich dachte selbst, dass ich nie wieder gehen können werde. Auch die Spezialisten sagten das. Deswegen war ich sehr skeptisch – auch an dem Tag, an dem ich das Exoskelett bekam. Meine Tochter war dabei. Ich kann mich genau an den Moment erinnern, als ich in das Skelett schlüpfte: Sehr langsam – wie in Zeitlupe – bewegte ich mich nach oben. Und am höchsten Punkt blickte ich hinab auf meine Tochter und sie blickte zu mir hinauf. Da wusste ich, dass ich wieder gehen werde“, so Donnelly. Seitdem hat sie drei Tage pro Woche trainiert, um mit „Alex“ wieder gehen zu lernen – und arbeitet als Botschafterin für ReWalk.
Seit 2014 ist ReWalk als erster kommerzieller Produzent mobiler Exoskelette durch die Food and Drug Administration (FDA) auf dem US-Markt zugelassen und hat damit die erste große Hürde genommen. Auch die CE-Zulassung für den europäischen Markt hat das Unternehmen bekommen. Nach wie vor fließt viel vom ReWalk-Kapital in Forschung, um die nächste große Hürde nehmen zu können: die massenhafte Finanzierung von Exoskeletten. Solch hochpreisige Behelfe (günstige wie jene von Indego kosten ab ca. 25.000 US-$; jene von ReWalk 77.500 US-$) sind für Privatpersonen nämlich kaum leistbar. „Es gibt genug Menschen, die ReWalk brauchen, aber nicht finanzieren können – Versicherungen müssen hier einspringen.“
Im August erst gab es in Deutschland einen Präzedenzfall, in dem das deutsche Sozialgericht Speyer urteilte, dass ReWalk ein medizinisch notwendiges Hilfsmittel für Nutzer mit Rückenmarksverletzungen ist. Somit müssen die Kosten von der Krankenkasse erstattet werden. In den USA war das auch schon der Fall: 50 ReWalk-Exoskelette sind bisher über Versicherungen finanziert worden. „Wir brauchen mehr solcher Entscheidungen. Jeder soll wissen, dass man unter bestimmten Umständen ein ReWalk-Exoskelett bekommen kann“, sagt Jasinski.
Er hat, so wie andere Hersteller, die an der Nasdaq börsennotiert sind, wohl auch die Anleger im Blick. Bei den IPOs von Ekso Bionics und ReWalk machen Analysten ein klares Muster aus: ein Hype am Anfang, gefolgt von einer Ernüchterung bei den Anlegern, die sich als langsame, aber stetige Talfahrt der Kurse manifestiert. Die hohen Preise verhindern eine weite Verbreitung unter privaten Käufern – so war der bisherige Absatzmarkt mehr als überschaubar. Da kam die Zusage des Department for Veterans Affairs Ende 2015, querschnittgelähmten Soldaten ReWalk-Exoskelette zu finanzieren, gerade recht. Der Aktienkurs stieg prompt um 83 % auf 11 US-$. Dennoch: Die ReWalk-Aktie war im September 2014 bei 37 US-$ gestartet.
Das Unternehmen entwickle sich gut, wie Jasinski sagt: „Letztes Jahr lag unser Umsatz bei rund 3,7 Millionen US-$, dieses Jahr werden wir auf bis zu sieben Millionen US-$ verdoppeln.“ 277.000 US-Amerikaner sind von Rückenmarksverletzungen betroffen – in Europa sind es in etwa genauso viele Menschen. Nach Unternehmensangaben nutzen rund 100 Menschen ReWalk-Systeme privat. Das heißt für Nicki Donnelly also, weiterhin die Werbetrommel zu rühren – und für Jasinski, nicht nur sein Produkt zu präsentieren, sondern weiterhin an entsprechenden Studien zu arbeiten. Denn mit Parker Hannifin (traditioneller Maschinenhersteller), Ekso Bionics (reiner Exoskeletthersteller), beide in den USA, oder Cyberdyne, einem Exoskeletthersteller vorwiegend für den Rehabilitationsbereich aus Japan, hat er ernst zu nehmende Konkurrenz. ReWalk wird sich nicht mehr lange auf seinem First-Mover-Vorsprung im privaten Bereich ausruhen können. Aktuell versuchen einige Systeme – wie ReWalk –, besonders alltagstauglich zu sein. Andere sind eher für das Training in Rehabilitationszentren entwickelt, wie Ekso. Wieder andere wollen mit modularem Aufbau einfach zu transportieren sein, wie Indego.
ReWalk
... wurde 2002 vom israelischen Elektroingenieur Amit Goffer gegründet. 2012 stieg Larry Jasinski als CEO in das Unternehmen ein. Seit 2014 notiert ReWalk an der US-Technologiebörse Nasdaq.
Der Markt ist noch sehr klein, aber dass sich in der Rehabilitation für Querschnittgelähmte etwas tut, war längst überfällig: Wer zu lange sitzt, riskiert ernst zu nehmende gesundheitliche Folgen. Dazu zählt etwa die Degeneration des Gewebes, was wiederum zu weiteren körperlichen Schäden führen kann. Druckstellen beispielsweise ziehen Infektionen nach sich, die lange nicht heilen und im schlimmsten Fall sogar zu Amputationen führen. Die Knochendichte nimmt ab, was wiederum Brüche begünstigt, die ebenfalls schlecht verheilen. Und das Herz-Kreislauf-System leidet. ReWalk weist in eigenen Studien nach, dass die Exoskelette positive Gesundheitsfolgen haben. „Mein Gesamtzustand hat sich drastisch verbessert; meine Knochendichte, meine Armmuskulatur. Davor wollte ich nie darüber sprechen, aber ich habe wieder die Kontrolle über meine Blase und meine Verdauung zurückbekommen“, erklärt Donnelly.
„Man muss individuell schauen, was therapeutisch Sinn macht. Passive Orthesen jedenfalls, wie diese Exoskelette, führen passive Bewegungen herbei und aktivieren die Muskeln in den Beinen nicht. Das ist ein Nachteil“, erklärt Winfried Mayr. Er beschäftigt sich seit 1983 mit Querschnittlähmungen und ist Teil der Arbeitsgruppe für Rehabilitationstechnik und Neuroprothesen am Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien. „Hybridorthesen, die die Muskelaktivität integrieren, sind zu bevorzugen“, erklärt Mayr, „denn vor allem im viel strapazierten Gesäßbereich bleibt sonst nur degeneriertes Gewebe, also Fett. Das kann zu problematischen Infektionen führen, weil der schützende Muskel fehlt.“ Bei passiven Orthesen schleppe man zudem Akkus mit, anstatt über Elektroden die eigene Muskulatur zu stimulieren und zu trainieren, so Mayr weiter.
Ein Beispiel für eine hybride Orthese ist das „Walk Again“-Projekt, das 2014 in São Paulo einen Querschnittgelähmten den Anstoß zur Fußball-WM in Brasilien machen ließ. Durch die von Elektroden stimulierte Gehirnaktivität führte damals der Körper, gestützt durch ein Exoskelett, die Kick-Bewegung aus. Noch sind diese Technologien aber nicht ausgereift, zudem sind teils auch chirurgische Eingriffe am Kopf notwendig. Die Anwendungsmöglichkeiten beschränken sich zurzeit auf den Rehabilitationsbereich.
Es ist wichtig, abzuwägen, welche gesundheitsökonomischen Effekte eine Orthese hat, wie sie zu handhaben ist und wie viel sie kostet. Exoskelette wie jene von ReWalk sind preislich wie technisch definitiv am oberen Ende der Skala. „Wir arbeiten immer wieder mit Aufstehbetten, Stehschalen oder Aufstehrollstühlen, die ein gestütztes Stehen ermöglichen. Diese Behelfe kosten um die 2.000 bis 4.000 Euro“, sagt Winfried Mayr. „Ist das Exoskelett gut gemacht, gibt es Sicherheit, dass sich Betroffene nicht verletzen. Sehr teure Behelfe, die keinen Quantensprung darstellen, sind aber zu hinterfragen. Dennoch: Dass Krankenkassen zahlen, muss immer drin sein. Minderheiten sollen diesen solidarischen Anspruch haben. Da braucht es dann medizinische Experten, die das beurteilen – Krankenkassen sperren sich, etwas zu finanzieren, wenn es keine Beweise gibt, dass es hilft.“ Es gehe auch darum, dass Orthesen dann „nicht ungenutzt herumstehen, weil sie unpraktisch sind“, so Mayr weiter. „Das hat man bei Stehschalen, die individuell angefertigt wurden, gesehen. Ist ein Behelf zu kompliziert in der Anwendung, frustriert das Betroffene und sie hören auf, sie zu verwenden.“ Es gebe schon genügend Lösungen in diesem Bereich – die Herausforderung sei laut Mayr der Transfer von Know-how in die Rehabilitationseinrichtungen.
Ob es nicht bedenklich sei, dass ein börsennotiertes Unternehmen, das ein Medizinprodukt herstellt, für dessen Finanzierbarkeit – neben privaten Sponsoren – nun den Weg über den Sektor der Versicherungen sucht? Volker Bartenbach, der an der ETH Zürich an Exoskeletten forscht, sieht das gelassen: „Ich würde diese Hilfsmittel mit anderen Medizingeräten wie Rollstuhl, Krücken, Orthesen oder auch Medikamenten vergleichen. Auch hier ist es üblich, dass die Versicherungssysteme einspringen, wenn ein Nutzen für den Patienten entsteht. Wie bei allen anderen Medizinprodukten müssen am Ende wohl alle davon leben können und die Kosten von Entwicklung und klinischen Studien in irgendeiner Form bezahlt werden.“ Bartenbach ist schon lange Forscher im Medizinbereich und sieht privatwirtschaftliche Player als wertvolles Asset im Ökosystem. „Firmen sind gut darin, Patienten echte Produkte zur Verfügung zu stellen. Forschungseinrichtungen können dies oft nicht oder nicht so effizient. Ganz ohne finanziellen Anreiz würde daher die Entwicklung langsamer oder gar nicht stattfinden und gute Ideen würden oft einfach nach dem Forschungsprototyp enden. Aber natürlich sollte – wie bei Medikamenten auch – ein verantwortungsvoller Umgang bei der Preisgestaltung stattfinden.“
Mayr pflichtet Bartenbach bei: „Wir brauchen diese Start-ups, sie bringen Innovationen, die anders nicht zustande kommen würden.“ Trotz bisheriger Fortschritte sieht Bartenbach dennoch Verbesserungspotenzial: „Diese Systeme müssen noch alltagstauglicher werden und die Kosten müssen mittelfristig sinken.“ Denn für Menschen wie Nicki Donnelly geht es hier auch um Identität und Autonomie: „Ich gehe gerne mit meiner Tochter bis zur Schule. Mit meinem Exoskelett dauert das 40 Minuten, mit dem Rollstuhl wären es zehn. Aber ich habe meine Identität wieder: Ich bin nicht mehr Nicki im Rollstuhl, ich bin wie jeder andere. Klar sieht man das Exoskelett – aber ich habe die Freiheit, zu wählen.“
Text: Elisabeth Woditschka
Fotos: beigestellt
Der Artikel ist sowohl in der Ausgabe vom November 2016 als auch in der April-Ausgabe 2020 „Best Of“ erschienen.