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Egal, wen man fragt: Niemand findet (gute) Mitarbeiter. Die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie seit 15 Jahren nicht mehr, Hotellerie, Gastronomie und Verkauf stöhnen unter fehlendem Personal. Johannes Kopf ist seit 2006 Mitglied im Vorstand des AMS und gerade dabei, seine Kernaufgabe zu verschieben. Denn mittlerweile berät das AMS Unternehmen ganz aktiv dabei, wie sie für Arbeitsuchende attraktiv werden. Das heißt laut Kopf auch, dass Unternehmen zukünftig „tanzen“ müssen, um Mitarbeiter zu finden.
Im Büro von Johannes Kopf hängt ein großer Bildschirm, ganz oben steht „AMS Cockpit“. Dort flackern – in Echtzeit – Zahlen über das Display. Dort sieht der Chef des Arbeitsmarktservice auf einen Blick, wie viele Menschen mit einem neuen Job oder einer Schulung begonnen haben, wie viele sich seit Beginn des Arbeits-tags arbeitslos gemeldet haben und wie viele auf sonstige Art und Weise aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. „Das habe nur ich“, sagt Kopf. Seit 2006 ist er Mitglied im Vorstand des AMS, jener Agentur, die Österreicher dabei unterstützt, Arbeit zu finden, und Unternehmen hilft, Arbeitskräfte zu rekrutieren.
An diesem Tag, einem normalen Dienstag im Dezember, haben sich zwischen acht und 13 Uhr über 4.500 Menschen arbeitslos gemeldet – und fast ebenso viele eine Arbeit begonnen. Für Kopf zeigt das, wie viel Bewegung aktuell vorhanden ist. Waren seine Mitarbeiter in den Pandemiejahren 2020 und 2021 noch auf Anträge auf Kurzarbeit fokussiert, besteht seit knapp einem Jahr eine andere Herausforderung: Unternehmen finden keine Mitarbeiter mehr. Im November 2022 lag die Arbeitslosenquote bei 6,2 %, der niedrigste Novemberwert seit 15 Jahren. 113.000 Stellen waren im November beim AMS als „offen“ gemeldet; insbesondere Verkäufer, Handwerker und Techniker werden gesucht. Wer denkt, dass Kopfs Tätigkeit dadurch leichter geworden ist, irrt aber – denn das AMS berät nun Unternehmen intensiv dabei, attraktiver für den Arbeitsmarkt zu werden. „Viele Unternehmen haben verlernt, attraktive Arbeitgeber zu sein. Heute müssen sie aber tanzen, um Mitarbeiter zu finden“, sagt Kopf.
Vor der Pandemie war das große Thema eine mögliche Massenarbeitslosigkeit durch Automatisierung, wenige Jahre später sprechen alle von fehlendem Personal. Wie kann das sein?
Johannes Kopf (JK): Die Diskussion, ob uns Erfindungen die Arbeit wegnehmen, ist eine sehr alte, die gibt es seit der Erfindung der Dampfmaschine. Ich persönlich habe nie daran geglaubt, einfach weil es seit 200 Jahren nicht passiert ist. Die großen, disruptiven Erfindungen, wie etwa die Eisenbahn, die Elektrizität oder das Auto haben immer Menschen in manchen Bereichen arbeitslos gemacht, in anderen aber mehr Arbeit geschaffen. Zwar lässt sich ein Teil der Beschäftigungsrekorde durch die reduzierte Arbeitszeit erklären, trotzdem: Wir haben nicht weniger, sondern mehr Erwerbsarbeit.
Was aber immer schon schwierig war, ist, jene Personen, die ihre bisherigen Jobs verloren haben, dorthin zu schulen, wo die neuen Jobs entstehen. 2020 erlebten wir ein besonderes, alles veränderndes Ereignis, Corona. Niemand hat damals irgendetwas richtig prognostiziert, auch nicht diese unfassbar schnelle Erholung. Im Mai 2021 schätzte das Wifo auf die Frage, wann wir wieder Arbeitslosenzahlen auf dem Niveau von vor Corona sehen werden, das Jahr 2025. Ich hatte ein paar Frühindikatoren, die gut aussahen, also dachte ich mir, ich bin mutig und sage: 2023. Tatsächlich hatten wir keine Ahnung, denn die Arbeitslosigkeit sank so schnell, dass wir bereits im Oktober 2021, also nur wenige Monate später, wieder so gute Zahlen erreichten. Ab Mitte 2021 und fast das ganze Jahr 2022 paarte sich ein fast unnatürlich starkes Wirtschaftswachstum mit der demographischen Entwicklung. Deshalb haben wir nun die gleiche Arbeitslosenquote seit 2007 und das ist die niedrigste Arbeitslosenquote in diesem Jahrtausend. Erstaunlich.
Ist Ihr Job aktuell einfacher denn je?
(JK): Nein, einfacher ist es nicht geworden. Es ist aber angenehmer, weil wir nicht bloß reagieren müssen, sondern auch gestalten können. Die Arbeitslosigkeit ist im März 2020 ja binnen 14 Tagen um mehr als 200.000 Personen gestiegen. Hätten Sie mich zuvor gefragt, ob es das geben kann, hätte ich gesagt, unmöglich, einfach weil ich nicht geglaubt hätte, dass meine Organisation 200.000 Menschen in 14 Tagen überhaupt registrieren kann. Um sich das Ausmaß der Krise und Belastung des AMS vorzustellen: Die bisher größte Krise am Arbeitsmarkt, die wir im AMS erlebt haben, war das Jahr 2009. Damals waren 60.000 Menschen in nicht ganz 600 Betrieben in Kurzarbeit. Im Jahr 2020 waren es 1,3 Millionen Menschen in über 120.000 Betrieben. Mit der aktuellen Erholung mussten wir unsere Serviceleistungen massiv verändern. In weiten Bereichen wurden wir fast Unternehmensberater. Wir beraten aktuell tausende Betriebe in der Frage, was sie tun können, um Leute zu finden. Und die „heißeste“ Dienstleistung, die wir anbieten – die geht weg wie die warmen Semmeln – ist Beratung zum Thema Arbeitgeberattraktivität. Firmen hatten sehr lange keine Schwierigkeiten, Personal zu finden, vor allem wegen der EU-Osterweiterung. Da sind sehr viele, gute Leute gekommen. Jetzt ist es aber plötzlich schwer, Personal zu finden. Also erklären wir etwa Industriebetrieben, wie es geht, Schichtarbeit mit Teilzeit zu kombinieren. Es ist zwar kompliziert, aber es geht. Wir bringen auch Tourismusbetriebe, die Kinderbetreuung für Gäste anbieten, auf die Idee, die Kinderbetreuung auch für Mitarbeiterinnen zu öffnen – und plötzlich bewerben sich mehr Frauen. Wir unterstützen beim Formulieren von Inseraten, damit mehr Bewerbungen hereinkommen. Leicht wird es dadurch nicht, aber es wird leichter.
Ist das ein Ausdehnen des Kernauftrags des AMS?
(JK): Nein, es ist eine Verschiebung. Unsere Organisation hat drei große Bereiche. Der größte Teil ist die Betreuung der Arbeitssuchenden, da gehts um die Auszahlung des Arbeitslosengeldes, Förderung, Vermittlung. Dann haben wir schon seit Langem ein Service für Unternehmen, wo hunderte meiner Kolleginnen und Kollegen Betriebsbesuche machen, Stellen betreuen und besetzen, Unternehmen unterstützen. In unserem dritten, großen Bereich geht es um Berufsinformation und Bildungsberatung. Unsere Aufgaben haben sich nicht verändert, aber es haben sich die Schwerpunkte verschoben.
Man könnte meinen, dass es beim AMS nach Covid ruhiger ist. Bei so viel Bewegung am Arbeitsmarkt ist das vermutlich nicht der Fall, oder?
(JK): Meine Organisation hat viel zu tun, die Herausforderungen haben sich nur verändert. Nun glauben viele, dass eine große Krise auf uns zukommt. Ich glaube das, aufgrund unserer Frühindikatoren, aber nicht – Wirtschaftsabschwung ja, aber keine Rezession.
Welche Indikatoren sind das?
(JK): Vorweg muss ich nochmals sagen, es waren jetzt das dritte Jahr in Folge alle Prognosen falsch – auch unsere. Aber WIFO und IHS gehen von einer Stagnation aus, wir reden von 0,2 bis 0,3% Wachstum. Allerdings auf einem super Niveau, 2022 war fantastisch. Ich sage Ihnen ein paar Frühindikatoren, auf die ich immer schaue. Erstens: die Arbeitskräfteüberlassung. Bevor Unternehmen eigenes Personal abbauen, nehmen sie weniger Leiharbeitskräfte. Die Leiharbeit läuft aber immer noch sehr gut.
Zweitens: Der Bau. In einer Industriehalle, die nicht gebaut wird, wird später auch niemand arbeiten. Die Bauwirtschaft hat zwar jetzt Wintersaison, hat aber immer noch Rückstau, da gibt es noch Aufträge, die noch gar nicht abgearbeitet sind. Drittens: Die Industrie, da vermuten viele einen Rückgang, etwa wegen der Energiepreise. Der Zugang an offenen Stellen aus der Industrie beim AMS ist aber steigend. Dann gibt es noch ein viertes, kurzfristiges Frühwarnsystem: Wenn ein Unternehmen größere Mengen an Personal abbauen will, dann muss es dem AMS das 30 Tage vorher melden, sonst ist die Kündigung unwirksam. Auch dort sehe ich nichts Dramatisches.
Die große Frage ist natürlich: Was ist es, das Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt attraktiver macht?
(JK): Vor Kurzem hatten wir alleine in Wien 720 offene Stellen für Kellner und Kellnerinnen. Kein Arbeitsuchender sieht sich 720 Stellen durch. Da gibt es Stellen, wo steht: „Der Kollektivvertragslohn ist XY“. Dann gibt es Stellen, da steht „Überzahlung möglich“ und es gibt Stellen, wo steht: „Wir zahlen 25% über Kollektivvertrag.“ Wo würden Sie sich bewerben?
Und das ist nur der Punkt Lohn. Ich würde empfehlen: Zahlen Sie ihre Leute anständig und kümmern Sie sich dann auch um die anderen Punkte. Denn auch diese sind den Leuten wichtig. Es geht etwa nicht mehr, dass Menschen in der Gastronomie nicht wissen, wann sie in der nächsten Woche arbeiten. Es gibt viele Gasthäuser, in denen das noch immer üblich ist. Die Leute wollen sich privat etwas ausmachen können, Freunde treffen, Familie einladen, was auch immer. Wir erklären den Betrieben ein System, wo man 90% der Dienste in der Gastronomie sechs Monate vorausplanen kann – und bei den restlichen 10% sind die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dann gerne flexibel. Die verstehen, wenn sie mal aushelfen müssen, bei einer Hochzeit, einer Geburtstagsfeier, wenn wer krank wird.
Und abseits davon?
(JK): Ich denke an einen tollen Hotelbetrieb, ein 5-Sterne-Haus, das hat den eigenen Mitarbeiterinnen einen Tag im Monat Wellness spendiert. Wir haben dann mit den Menschen dort geredet und die fühlten sich veräppelt, weil es am Nachmittag keine Kinderbetreuung in der Region gibt. Der Betrieb hat dann zu diesem Angebot auch Kinderbetreuung organisiert. Heute muss man tanzen, um ein attraktiver Arbeitgeber zu sein.
Machen es Branchen, in denen Homeoffice üblich ist, für solche, wo das nicht möglich ist, schwieriger?
(JK): Sie sprechen da einen wichtigen Punkt an. Es gibt Branchen, die per Definition kein Homeoffice ermöglichen können. Und die haben natürlich einen Nachteil gegenüber anderen. Tatsächlich waren ja während der Pandemie 60% der Menschen gar nie im Homeoffice. Um das auszugleichen, müssen diese Branchen attraktiver und dadurch manche Dienstleistung wohl auch teurer werden. Da werden sich die Unternehmen, aber auch wir Konsumenten, umstellen müssen.
Wie dramatisch sehen Sie das gesamtwirtschaftliche Risiko, wenn Unternehmen tatsächlich keine Mitarbeiter finden?
(JK): Ich sehe es gesamtwirtschaftlich noch nicht dramatisch, da wir ja 100.000 mehr Beschäftigte als vor der Pandemie haben. Aber es ist natürlich eine Wachstumsbremse. Und es ist eine Gefährdung für bestimmte Branchen, besonders für den Tourismus und die Gastronomie.
Stimmt es, dass ehemalige Mitarbeiter diese Branchen reihenweise verlassen haben?
(JK): Es hat keinen Massenexodus aus der Branche gegeben. Ich habe mir die Zahlen angesehen und dabei den Beschäftigungsstand von Mitte 2019 mit Mitte 2021 verglichen. Da habe ich gesehen, dass 40% der Leute, die 2019 im Sommer im Tourismus gearbeitet haben Mitte 2021 nicht mehr da waren. Das ist viel. Ich habe dann aber auch 2017 mit 2019 verglichen, sowie 2015 mit 2017: Da waren es beide Male auch ungefähr 40%. Also eigentlich die übliche Fluktuation. Was ist dann also passiert im Tourismus, warum haben Arbeitskräfte gefehlt? Weil 2020 und Anfang 2021 keine neuen Leute reingekommen sind. Die Branche hat eigentlich darunter gelitten, dass während der Pandemie niemand eingestiegen ist – und die anderen wie bisher ausgestiegen sind.
Ein Teil der Erklärung ist sicher auch der demografische Wandel. Das würde aber bedeuten, dass uns dieses Thema auch die nächsten Jahre oder Jahrzehnte begleitet.
(JK): Ich glaube, dass uns das Thema noch länger begleitet, ja. Aufgrund der Demografie, aber auch aufgrund der vielen Veränderungen. Die IT-Branche hat einen massiven Mangel, obwohl es 13.000 mehr Beschäftigte im
IT-Bereich gibt als vor der Pandemie. Auch der Gesundheitsbereich hatte Zuwachs, durch die Teststraßen und Impfzentren. Wie stark der Arbeitskräftemangel bleibt, wird aber von der Konjunktur abhängen.
Insgesamt sind wir in Österreich aber im EU-Vergleich nicht so schlecht aufgestellt, weil wir relativ viel Zuwanderung haben, auch qualifizierte Zuwanderung, vor allem aus der EU. Und weil wir noch Potenziale haben im eigenen Beschäftigungspotenzial, die wir noch nicht nützen. Darunter fällt das Thema Kinderbetreuung. Andere Länder haben schon flächendeckend Ganztageskinderbetreuung. Die können hier keine Potentiale erschließen. Auch gehen wir sehr früh in Pension, bei den Deutschen sind es fast drei Jahre später. Man kann also bei uns auch noch an Pensionsschrauben drehen. Das tun wir. Ab 2024 steigt ja das Frauenpensionsalter jährlich um ein halbes Jahr, bis es sich jenem der Männer anpasst.
Sie waren immer gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wieso?
(JK): Das Grundeinkommen stellt den Menschen eine extrem wichtige Frage: Was will ich eigentlich machen? Was würde ich tun, wenn ich nicht arbeiten müsste? Warum halte ich aber nichts vom bedingungslosen Grundeinkommen? Ich glaube, dass der Lohn auch die Aufgabe hat, Arbeit dorthin zu lenken, wo sie gebraucht wird. Die Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens sagen, wir alle würden weiterarbeiten und sogar produktiver sein, weil wir dann das machen, was wir lieber tun wollen. Viele würden also trotzdem arbeiten – das glaube ich auch – aber wohl weniger Stunden und zum Beispiel Bilder malen. Es gebe dann aber viel mehr Kunstwerke als der Markt nachfragt. Dabei bräuchten wir etwas anderes dringender.
Ich glaube wir hätten auch Wirtschaftseinbrüche. Die These ist ja, dass Dienstleistungen, die niemand machen will, teurer werden – Kloputzen oder Hilfstätigkeiten etwa. Dann wird Arbeit aber durch Automatisierung eher ersetzt, weil sich der Roboter dann auszahlt. Oder sie wird ins Ausland verlagert. Durch diese Einbußen wäre das Konzept nicht mehr finanzierbar. Und der für mich relevanteste Punkt, warum ich nicht ans Grundeinkommen glaube: Ich unterstelle, es ist nicht mehrheitsfähig. Wenn ich vor großem Publikum dazu spreche, frage ich oft, wie viele glauben, dass sie selbst noch arbeiten würden. Da gehen alle Hände nach oben. Wenn ich dann frage, ob diese Menschen glauben, dass ihr direkter Nachbar zuhause auch noch arbeiten würde – da ist vielleicht noch die Hälfte der Hände in der Luft. Wir trauen uns also selbst, aber nicht unseren Mitmenschen. Die, so glauben wir, würden das System ausnützen.
Johannes Kopf studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Von 1999 bis 2003 war er in der Industriellenvereinigung tätig, von 2003 bis 2006 arbeitete er als Arbeitsmarktexperte und Referent im Kabinett des damaligen Wirtschafts- und Arbeitsministers Martin Bartenstein. Seit 2006 ist Kopf Vorstandsmitglied des Arbeitsmarktservice (AMS).
Fotos: Katharina Gossow